Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 113 VG 217/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 3/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2011 verpflichtet wird, der Klägerin mit Wirkung ab dem 30. März 2011 wegen Folgen psychischer Traumen als Schädigungsfolgen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz, insbesondere eine Beschädigtenrente, nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 70 zu gewähren. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Im Übrigen bleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1985 geborene Klägerin führte mit CB(im FolgendenB) seit 2005 eine Beziehung.
Das Amtsgericht T verurteilte B. mit Urteil vom 22. Mai 2009 wegen Körperverletzung der Klägerin in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem legte das Gericht folgenden Sachverhalt zugrunde:
1. Anlässlich einer Auseinandersetzung am 4. Juli 2006 schlug B. in einer Parkanlage in B-W der Klägerin mit der flachen Hand auf die rechte Gesichtshälfte. Die Klägerin wurde durch den Schlag kurzfristig bewusstlos. Sie erlitt Schmerzen und Hörstörungen sowie Taubheitsgefühle. 2. In der Nacht vom 13. zum 14. September 2006 verfolgte B. die Klägerin, die – nach einem Streit – gerade dessen Zimmer in der WG Br in B-M verlassen wollte, und stieß ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf, wodurch die Klägerin eine Gehirnerschütterung erlitt und dabei das Bewusstsein verlor. 3. Anlässlich einer Auseinandersetzung in der Nacht vom 19. zum 20. März 2007 schlug B. in der Wohnung B der Klägerin in die linke Seite der Rippen. Die Klägerin erlitt eine Thoraxprellung.
Am 30. März 2011 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Versorgung nach dem OEG. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2011 mit der Begründung ab, zwar sei eine Gewalttat im Sinne des § 1 OEG nicht auszuschließen, jedoch sei die Versorgung unbillig und deshalb nach § 2 OEG zu versagen. Denn die Klägerin habe sich vernunftwidrig verhalten, da sie die Gefahr einer Körperverletzung hätte erkennen und vermeiden können.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte, u.a. der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B-E vom 26. März 2013, das Gutachten der Dipl.-Psych. W vom 31. März 2014 mit ergänzender mündlichen Stellungnahme eingeholt. Die Sachverständige hat dargelegt, bei der Klägerin beständen als Folge der Gewalttaten eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine sozialen Anpassungsstörung, die insgesamt mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 90 zu bewerten seien.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 22. November 2017 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin wegen der Taten vom 4. Juli 2007, 13. September 2006 und 19. März 2007 eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine Anpassungsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des OEG festzustellen und ihr eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 70 ab dem 28. März 2011 zu gewähren. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt:
Die Klägerin sei Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden. Entgegen der Ansicht der Beklagten seien Leistungen wegen dieser Gewalttaten auch nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 OEG zu versagen. Bei dem hier einzig in Betracht kommenden leichtfertigen Eingehen einer Gefahr bei Beziehungstaten in sog. Gewaltbeziehungen sei nach der Rechtsprechung des Bundesozialgerichts im Hinblick auf den Fahrlässigkeitsmaßstab grobe Fahrlässigkeit erforderlich und zudem auf die individuellen Fähigkeiten und Sorgfaltsmaßstäbe der in emotionaler Abhängigkeit zu dem gewalttätigen Partner lebenden Partnerin abzustellen. Nach Überzeugung der Kammer habe sich die Klägerin nicht in die Gefahr der an ihr durch B. verübten Gewalttaten gebracht. Es sei ihr nicht möglich gewesen, vor der Gewalttat am 4. Juli 2006 die Gefahr eines körperlichen Angriffs durch B. zu erkennen. Auch zum Zeitpunkt der Gewalttaten am 13. September 2006 und 19. März 2007 sei es der Klägerin trotz des nunmehr vorausgegangenen Angriffs durch B. nach ihren individuellen Fähigkeiten nicht möglich und zumutbar gewesen, sich der drohenden Gefahr zu entziehen. Denn schon das Erkennen bzw. das grob fahrlässige Nichterkennen der Gefahr sei aus Sicht der Klägerin nicht gegeben gewesen.
Durch die Gewalttaten seien bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine soziale Anpassungsstörung als Schädigungsfolgen kausal hervorgerufen worden, die als schwere psychische Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten insgesamt mit einem GdS von 70 zu bewerten seien. Nach den Feststellungen der Sachverständigen zeige sich die posttraumatische Belastungsstörung bei der Klägerin sehr massiv und betreffe alle Lebensbereiche. Die Klägerin habe kaum soziale Kontakte, und die Auswirkungen der Erkrankung hätten sich auch im zwischenmenschlichen Bereich gezeigt. Die Klägerin sei kaum mehr in der Lage, sich einem beruflichen Alltag zu stellen. An soziale Strukturen könne sie sich nicht mehr anpassen. Die Funktionseinschränkungen aus der rezidivierenden depressiven Störung und der Anpassungsstörung gingen in den aus der posttraumatischen Belastungsstörung resultierenden Funktionseinschränkungen vollständig auf. Damit ergebe sich für die Kammer das Bild einer Frau, der es mühsam gelinge, im engen privaten Umfeld ein halbwegs geordnetes Leben zu führen, der es aber kaum möglich sei, in Kontakt zur Außenwelt zu treten und soziale Beziehungen zu führen. Der von der Sachverständigen vorgeschlagenen Bewertung der psychischen Leiden mit einem GdS von 90 werde nicht gefolgt, da schwere soziale Anpassungsstörungen nicht festzustellen seien.
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er ist insbesondere der Auffassung, dass nach § 2 Abs. 1 OEG der Klägerin Leistungen zu versagen seien. Obwohl die Klägerin gewusst habe, dass B., wenn er wütend werde, sehr aggressiv werden könne, habe sich die Klägerin derartigen Situationen immer wieder ausgesetzt, anstatt sich ihnen zu entziehen. Unabhängig davon sei die Höhe des GdS nicht nachvollziehbar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend und verweist darauf, dass sie seit Mai 2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung erhält.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet, da die Klägerin Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 70 hat.
Die Klägerin erlitt, was zwischen den Beteiligten außer Streit steht, jeweils am 4. Juli 2007, 13. September 2006 und 19. März 2007 eine Schädigung infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Nach den Traumen in Form der drei Körperverletzungen bestehen bei der Klägerin psychische Störungen, die von der Sachverständigen W im Gutachten vom 31. März 2014 als posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung und soziale Anpassungsstörung diagnostiziert worden sind. Diese Folgen psychischer Traumen stellen sich als Schädigungsfolgen dar. Während das Vorliegen des Angriffs, des Primärschadens und der Schädigungsfolgen grundsätzlich des Vollbeweises bedürfen, genügt nach der entsprechend heranzuziehenden Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG für den Nachweis der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität die Wahrscheinlichkeit. Diese ist vorliegend zu bejahen. Der Senat folgt der Einschätzung der Sachverständigen, die überzeugend dargelegt hat, dass die psychischen Schäden der Klägerin sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kausale Folge der Primärschädigung sind. Zu Recht hat das Sozialgericht die Folgeschäden mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 bewertet.
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen nach Zehnergraden abgestuft zu beurteilen. Hierbei sind seit 1. Januar 2009 die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.
Die Bewertung der genannten Schädigungsfolge bei der Klägerin als "Folgen psychischer Traumen" richtet sich nach B Nr. 3.7 VMG. Diesen Vorgaben entsprechend hat das Sozialgericht unter Auswertung des Akteninhalts, insbesondere des Befundberichts der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B-E vom 26. März 2013 und der Feststellungen der Sachverständigen W im Gutachten vom 31. März 2014, der mündlichen Erläuterung dieses Gutachtens durch die Sachverständige sowie der Vernehmung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung detailliert und überzeugend dargelegt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Schädigungsfolgen als schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu qualifizieren sind und mit einem GdS am oberen Rand des in B Nr. 3.7 VMG vorgesehenen Bewertungsrahmens von 50 bis 70 zu bewerten sind. Hierbei hat es zulässigerweise auch auf die in der Niederschrift über die Tagung der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18. bis 19. März 1998 enthaltenen Abgrenzungskriterien zwischen leichten, mittelgradigen und schweren sozialen Anpassungsstörungen abgestellt (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom 16. Januar 2014 – L 13 SB 131/12 – juris Rn. 15). Der Senat folgt insoweit den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 22. November 2017 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Eine Opferentschädigung der Klägerin ist auch nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen, unbillig wäre, eine Entschädigung zu gewähren.
Bei dem Tatbestand der 1. Alternative der Vorschrift – Mitverursachung – handelt es sich um einen Sonderfall der Unbilligkeit – 2. Alternative –. Er regelt abschließend, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl z.B. BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 –, BSGE 66, 115-120, juris Rn. 11, und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62-68, juris Rn. 18). Zum Bereich der unmittelbaren Tatbeteiligung gehören alle unmittelbaren, mit dem Tatgeschehen auch zeitlich eng verbundenen Umstände; dagegen sind die sonstigen, nicht unmittelbaren, sondern lediglich erfolgsfördernden Umstände – wie die Vorgeschichte der Tat – im Rahmen der 2. Alternative zu prüfen (so Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 2 OEG Rn. 2). Die 1. Alternative ist stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R –, BSGE 88, 96-103, juris Rn. 17). Eine Mitverursachung kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinwegzudenkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche, d.h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 18). Ein Leistungsausschluss ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54-61, juris Rn. 26). Aber auch wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z.B. durch eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat, kann eine Mitverursachung vorliegen. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87-91, juris Rn. 15, vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 21). Die leichtfertige Selbstgefährdung setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts entspricht, voraus. Allerdings gilt im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB, sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 23). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch anders hätte verhalten können oder müssen, weiter, ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen. Ergänzend sind die individuellen Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen, etwa ob sie seit langem miteinander Umgang hatten und welcher Art der Umgang war, ferner das frühere Verhalten von Täter und Opfer in vergleichbaren Situationen (so BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R –, BSGE 88, 96-103, juris Rn. 18).
Gemessen an diesen Maßstäben kann der Klägerin eine leichtfertige Selbstgefährdung nicht vorgeworfen werden. Als sie am 4. Juli 2006 nach einem Streit dem davoneilenden B. in einen nahe gelegenen Park in B-W folgte und die verbale Auseinandersetzung fortsetzte, war für sie in keiner Weise absehbar, dass B. sie vor Wut plötzlich in das Gesicht schlagen würde. Leichtfertigt im Sinne einer groben Fahrlässigkeit handelte die Klägerin auch nicht bei dem Vorfall am 13. September 2006, da sie sich, als das Streitgespräch mit B. eskalierte, die Wohnung verlassen wollte. Sie hat sich – unabhängig von ihren Motiven – jedenfalls tatsächlich einer drohenden Gefahr entzogen. Dass B. ihr nacheilen und ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf stoßen würde, war für die Klägerin nicht erkennbar gewesen.
Auch am 19. März 2007 hat sich die Klägerin nicht leichtfertig durch eine unmittelbare Förderung der Tat der Gefahr einer gegen sie gerichteten Körperverletzung durch B. ausgesetzt. Der Umstand, dass sie im Laufe des Streits aus Verzweiflung einen Teller mit Nudelbrühe über ihr Gesicht goss, stellt keine Provokation des Täters im Sinne einer leichtfertigen, die Gewährung einer Opferentschädigung entgegenstehenden Selbstgefährdung dar. Denn das Verhalten der Klägerin hatte, da es sich nicht gegen B. richtete, nicht annähernd das Gewicht wie die anschließende Körperverletzung durch B. Die Gefühlswallung, in der sich die Klägerin in der konkreten Situation erkennbar befand, lässt das Maß eines grob fahrlässigen Verhaltens der Klägerin nicht erreichen.
Die Gewährung einer Opferentschädigung an die Klägerin ist auch nicht aus sonstigen Gründen im Sinne der 2. Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig.
Leistungen sind wegen Unbilligkeit u.a. dann zu versagen sind, wenn es aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm Leistungen zu gewähren. Die dafür maßgeblichen Umstände des Einzelfalles müssen eine Entschädigung allerdings mit einem solchen Gewicht als unbillig erscheinen lassen, dass dies der in der 1. Alternative genannten Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkäme (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 1979 – 9 RVg 2/78 –, BSGE 49, 104-114, juris Rn. 18, und vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 20). Eine der von dem BSG zu der 2. Alternative der Ausschlussnorm entwickelten Fallgruppen liegt vor, wenn sich das Opfer, ohne sozial nützlich oder von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig aussetzt oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar möglich wäre (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 a.a.O., juris Rn. 23).
Diese Voraussetzungen treffen auf die Klägerin nicht zu. Sie hat sich nicht dadurch leichtfertig selbst gefährdet, dass sie ihre Beziehung zu B., die sie nach den Gewalttaten vom 4. Juli 2006 und 13. September 2007 beendet hatte, wieder aufnahm. Unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Erkenntnisfähigkeit der Klägerin stellt es kein grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin dar, dass sie den Beteuerungen des B., es werde nicht wieder zu Gewalttaten kommen, Glauben schenkte, da B. sich intensiv um sie bemühte, Reue zeigte und – nach dem zweiten Vorfall – ankündigte, sich einer Therapie zu unterziehen.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1985 geborene Klägerin führte mit CB(im FolgendenB) seit 2005 eine Beziehung.
Das Amtsgericht T verurteilte B. mit Urteil vom 22. Mai 2009 wegen Körperverletzung der Klägerin in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem legte das Gericht folgenden Sachverhalt zugrunde:
1. Anlässlich einer Auseinandersetzung am 4. Juli 2006 schlug B. in einer Parkanlage in B-W der Klägerin mit der flachen Hand auf die rechte Gesichtshälfte. Die Klägerin wurde durch den Schlag kurzfristig bewusstlos. Sie erlitt Schmerzen und Hörstörungen sowie Taubheitsgefühle. 2. In der Nacht vom 13. zum 14. September 2006 verfolgte B. die Klägerin, die – nach einem Streit – gerade dessen Zimmer in der WG Br in B-M verlassen wollte, und stieß ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf, wodurch die Klägerin eine Gehirnerschütterung erlitt und dabei das Bewusstsein verlor. 3. Anlässlich einer Auseinandersetzung in der Nacht vom 19. zum 20. März 2007 schlug B. in der Wohnung B der Klägerin in die linke Seite der Rippen. Die Klägerin erlitt eine Thoraxprellung.
Am 30. März 2011 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Versorgung nach dem OEG. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 2011 mit der Begründung ab, zwar sei eine Gewalttat im Sinne des § 1 OEG nicht auszuschließen, jedoch sei die Versorgung unbillig und deshalb nach § 2 OEG zu versagen. Denn die Klägerin habe sich vernunftwidrig verhalten, da sie die Gefahr einer Körperverletzung hätte erkennen und vermeiden können.
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte, u.a. der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B-E vom 26. März 2013, das Gutachten der Dipl.-Psych. W vom 31. März 2014 mit ergänzender mündlichen Stellungnahme eingeholt. Die Sachverständige hat dargelegt, bei der Klägerin beständen als Folge der Gewalttaten eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine sozialen Anpassungsstörung, die insgesamt mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 90 zu bewerten seien.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 22. November 2017 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin wegen der Taten vom 4. Juli 2007, 13. September 2006 und 19. März 2007 eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine Anpassungsstörung als Schädigungsfolge im Sinne des OEG festzustellen und ihr eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 70 ab dem 28. März 2011 zu gewähren. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt:
Die Klägerin sei Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden. Entgegen der Ansicht der Beklagten seien Leistungen wegen dieser Gewalttaten auch nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 OEG zu versagen. Bei dem hier einzig in Betracht kommenden leichtfertigen Eingehen einer Gefahr bei Beziehungstaten in sog. Gewaltbeziehungen sei nach der Rechtsprechung des Bundesozialgerichts im Hinblick auf den Fahrlässigkeitsmaßstab grobe Fahrlässigkeit erforderlich und zudem auf die individuellen Fähigkeiten und Sorgfaltsmaßstäbe der in emotionaler Abhängigkeit zu dem gewalttätigen Partner lebenden Partnerin abzustellen. Nach Überzeugung der Kammer habe sich die Klägerin nicht in die Gefahr der an ihr durch B. verübten Gewalttaten gebracht. Es sei ihr nicht möglich gewesen, vor der Gewalttat am 4. Juli 2006 die Gefahr eines körperlichen Angriffs durch B. zu erkennen. Auch zum Zeitpunkt der Gewalttaten am 13. September 2006 und 19. März 2007 sei es der Klägerin trotz des nunmehr vorausgegangenen Angriffs durch B. nach ihren individuellen Fähigkeiten nicht möglich und zumutbar gewesen, sich der drohenden Gefahr zu entziehen. Denn schon das Erkennen bzw. das grob fahrlässige Nichterkennen der Gefahr sei aus Sicht der Klägerin nicht gegeben gewesen.
Durch die Gewalttaten seien bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung und eine soziale Anpassungsstörung als Schädigungsfolgen kausal hervorgerufen worden, die als schwere psychische Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten insgesamt mit einem GdS von 70 zu bewerten seien. Nach den Feststellungen der Sachverständigen zeige sich die posttraumatische Belastungsstörung bei der Klägerin sehr massiv und betreffe alle Lebensbereiche. Die Klägerin habe kaum soziale Kontakte, und die Auswirkungen der Erkrankung hätten sich auch im zwischenmenschlichen Bereich gezeigt. Die Klägerin sei kaum mehr in der Lage, sich einem beruflichen Alltag zu stellen. An soziale Strukturen könne sie sich nicht mehr anpassen. Die Funktionseinschränkungen aus der rezidivierenden depressiven Störung und der Anpassungsstörung gingen in den aus der posttraumatischen Belastungsstörung resultierenden Funktionseinschränkungen vollständig auf. Damit ergebe sich für die Kammer das Bild einer Frau, der es mühsam gelinge, im engen privaten Umfeld ein halbwegs geordnetes Leben zu führen, der es aber kaum möglich sei, in Kontakt zur Außenwelt zu treten und soziale Beziehungen zu führen. Der von der Sachverständigen vorgeschlagenen Bewertung der psychischen Leiden mit einem GdS von 90 werde nicht gefolgt, da schwere soziale Anpassungsstörungen nicht festzustellen seien.
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er ist insbesondere der Auffassung, dass nach § 2 Abs. 1 OEG der Klägerin Leistungen zu versagen seien. Obwohl die Klägerin gewusst habe, dass B., wenn er wütend werde, sehr aggressiv werden könne, habe sich die Klägerin derartigen Situationen immer wieder ausgesetzt, anstatt sich ihnen zu entziehen. Unabhängig davon sei die Höhe des GdS nicht nachvollziehbar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend und verweist darauf, dass sie seit Mai 2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung erhält.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet, da die Klägerin Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 70 hat.
Die Klägerin erlitt, was zwischen den Beteiligten außer Streit steht, jeweils am 4. Juli 2007, 13. September 2006 und 19. März 2007 eine Schädigung infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre Person im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Nach den Traumen in Form der drei Körperverletzungen bestehen bei der Klägerin psychische Störungen, die von der Sachverständigen W im Gutachten vom 31. März 2014 als posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung und soziale Anpassungsstörung diagnostiziert worden sind. Diese Folgen psychischer Traumen stellen sich als Schädigungsfolgen dar. Während das Vorliegen des Angriffs, des Primärschadens und der Schädigungsfolgen grundsätzlich des Vollbeweises bedürfen, genügt nach der entsprechend heranzuziehenden Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG für den Nachweis der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität die Wahrscheinlichkeit. Diese ist vorliegend zu bejahen. Der Senat folgt der Einschätzung der Sachverständigen, die überzeugend dargelegt hat, dass die psychischen Schäden der Klägerin sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kausale Folge der Primärschädigung sind. Zu Recht hat das Sozialgericht die Folgeschäden mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 bewertet.
Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen nach Zehnergraden abgestuft zu beurteilen. Hierbei sind seit 1. Januar 2009 die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.
Die Bewertung der genannten Schädigungsfolge bei der Klägerin als "Folgen psychischer Traumen" richtet sich nach B Nr. 3.7 VMG. Diesen Vorgaben entsprechend hat das Sozialgericht unter Auswertung des Akteninhalts, insbesondere des Befundberichts der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie B-E vom 26. März 2013 und der Feststellungen der Sachverständigen W im Gutachten vom 31. März 2014, der mündlichen Erläuterung dieses Gutachtens durch die Sachverständige sowie der Vernehmung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung detailliert und überzeugend dargelegt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Schädigungsfolgen als schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu qualifizieren sind und mit einem GdS am oberen Rand des in B Nr. 3.7 VMG vorgesehenen Bewertungsrahmens von 50 bis 70 zu bewerten sind. Hierbei hat es zulässigerweise auch auf die in der Niederschrift über die Tagung der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18. bis 19. März 1998 enthaltenen Abgrenzungskriterien zwischen leichten, mittelgradigen und schweren sozialen Anpassungsstörungen abgestellt (vgl. hierzu das Urteil des Senats vom 16. Januar 2014 – L 13 SB 131/12 – juris Rn. 15). Der Senat folgt insoweit den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 22. November 2017 und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Eine Opferentschädigung der Klägerin ist auch nicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen, unbillig wäre, eine Entschädigung zu gewähren.
Bei dem Tatbestand der 1. Alternative der Vorschrift – Mitverursachung – handelt es sich um einen Sonderfall der Unbilligkeit – 2. Alternative –. Er regelt abschließend, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl z.B. BSG, Urteile vom 6. Dezember 1989 – 9 RVg 2/89 –, BSGE 66, 115-120, juris Rn. 11, und vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, BSGE 83, 62-68, juris Rn. 18). Zum Bereich der unmittelbaren Tatbeteiligung gehören alle unmittelbaren, mit dem Tatgeschehen auch zeitlich eng verbundenen Umstände; dagegen sind die sonstigen, nicht unmittelbaren, sondern lediglich erfolgsfördernden Umstände – wie die Vorgeschichte der Tat – im Rahmen der 2. Alternative zu prüfen (so Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage 2012, § 2 OEG Rn. 2). Die 1. Alternative ist stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R –, BSGE 88, 96-103, juris Rn. 17). Eine Mitverursachung kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur einen nicht hinwegzudenkenden Teil der Ursachenkette, sondern eine wesentliche, d.h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 18). Ein Leistungsausschluss ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn das Opfer in der konkreten Situation in ähnlich schwerer Weise wie der Täter gegen die Rechtsordnung verstoßen hat (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999 – B 9 VG 1/98 R –, BSGE 84, 54-61, juris Rn. 26). Aber auch wenn das Opfer zwar keinen Straftatbestand erfüllt hat, sich aber leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem eigentlichen Tatgeschehen insbesondere zeitlich eng zusammenhängende Förderung der Tat, z.B. durch eine Provokation des Täters, der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat, kann eine Mitverursachung vorliegen. Gleiches gilt, wenn sich das Opfer einer konkret erkannten Gefahr leichtfertig nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl. BSG, Urteile vom 15. August 1996 – 9 RVg 6/94 –, BSGE 79, 87-91, juris Rn. 15, vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 21). Die leichtfertige Selbstgefährdung setzt nach der Rechtsprechung des BSG einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts entspricht, voraus. Allerdings gilt im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB, sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 23). Zu prüfen ist danach, ob sich das Opfer auch anders hätte verhalten können oder müssen, weiter, ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen. Ergänzend sind die individuellen Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen, etwa ob sie seit langem miteinander Umgang hatten und welcher Art der Umgang war, ferner das frühere Verhalten von Täter und Opfer in vergleichbaren Situationen (so BSG, Urteil vom 18. April 2001 – B 9 VG 3/00 R –, BSGE 88, 96-103, juris Rn. 18).
Gemessen an diesen Maßstäben kann der Klägerin eine leichtfertige Selbstgefährdung nicht vorgeworfen werden. Als sie am 4. Juli 2006 nach einem Streit dem davoneilenden B. in einen nahe gelegenen Park in B-W folgte und die verbale Auseinandersetzung fortsetzte, war für sie in keiner Weise absehbar, dass B. sie vor Wut plötzlich in das Gesicht schlagen würde. Leichtfertigt im Sinne einer groben Fahrlässigkeit handelte die Klägerin auch nicht bei dem Vorfall am 13. September 2006, da sie sich, als das Streitgespräch mit B. eskalierte, die Wohnung verlassen wollte. Sie hat sich – unabhängig von ihren Motiven – jedenfalls tatsächlich einer drohenden Gefahr entzogen. Dass B. ihr nacheilen und ihr die schon leicht geöffnete Tür gegen den Kopf stoßen würde, war für die Klägerin nicht erkennbar gewesen.
Auch am 19. März 2007 hat sich die Klägerin nicht leichtfertig durch eine unmittelbare Förderung der Tat der Gefahr einer gegen sie gerichteten Körperverletzung durch B. ausgesetzt. Der Umstand, dass sie im Laufe des Streits aus Verzweiflung einen Teller mit Nudelbrühe über ihr Gesicht goss, stellt keine Provokation des Täters im Sinne einer leichtfertigen, die Gewährung einer Opferentschädigung entgegenstehenden Selbstgefährdung dar. Denn das Verhalten der Klägerin hatte, da es sich nicht gegen B. richtete, nicht annähernd das Gewicht wie die anschließende Körperverletzung durch B. Die Gefühlswallung, in der sich die Klägerin in der konkreten Situation erkennbar befand, lässt das Maß eines grob fahrlässigen Verhaltens der Klägerin nicht erreichen.
Die Gewährung einer Opferentschädigung an die Klägerin ist auch nicht aus sonstigen Gründen im Sinne der 2. Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig.
Leistungen sind wegen Unbilligkeit u.a. dann zu versagen sind, wenn es aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm Leistungen zu gewähren. Die dafür maßgeblichen Umstände des Einzelfalles müssen eine Entschädigung allerdings mit einem solchen Gewicht als unbillig erscheinen lassen, dass dies der in der 1. Alternative genannten Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkäme (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 1979 – 9 RVg 2/78 –, BSGE 49, 104-114, juris Rn. 18, und vom 21. Oktober 1998 a.a.O., juris Rn. 20). Eine der von dem BSG zu der 2. Alternative der Ausschlussnorm entwickelten Fallgruppen liegt vor, wenn sich das Opfer, ohne sozial nützlich oder von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig aussetzt oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar möglich wäre (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001 a.a.O., juris Rn. 23).
Diese Voraussetzungen treffen auf die Klägerin nicht zu. Sie hat sich nicht dadurch leichtfertig selbst gefährdet, dass sie ihre Beziehung zu B., die sie nach den Gewalttaten vom 4. Juli 2006 und 13. September 2007 beendet hatte, wieder aufnahm. Unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Erkenntnisfähigkeit der Klägerin stellt es kein grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin dar, dass sie den Beteuerungen des B., es werde nicht wieder zu Gewalttaten kommen, Glauben schenkte, da B. sich intensiv um sie bemühte, Reue zeigte und – nach dem zweiten Vorfall – ankündigte, sich einer Therapie zu unterziehen.
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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