S 29 KR 1636/17 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
29
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 29 KR 1636/17 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind dem Antragsteller nicht zu erstatten

Gründe:

I.

1. Der Antragsteller begehrt mit Antrag vom 30. Oktober 2017 im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Kosten für den Bezug von medizinischem Cannabis einstweilen zu erstatten bzw. künftig zu übernehmen.

Die entsprechend Klage (Hauptsache) wurde bereits am 1. August 2017 beim Sozialgericht München erhoben.

Der Antragsteller trägt vor, dass er im Jahre 1987 einen schweren Verkehrsunfall erlitten habe, wobei es zu einer seelischen und vegetativen Störung bei Fehlverarbeitung der Unfallfolgen, zu Schlafstörungen und schlechter Konzentration, zu Beeinträchtigung der Gehirnfunktion und zu somatoformen Schmerzstörungen gekommen sei. Zudem seien Knorpelschäden beider Kniegelenke und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit degenerativen Veränderungen und muskulären Verspannungen aufgetreten. Außerdem wird am 11. April 2017 von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. C., A-Stadt, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei Schädel-Hirn-Trauma attestiert. Im November 2013 wurde anlässlich einer Kernspintomographie der Halswirbelsäule eine Strecktfehlhaltung der oberen Halswirbelsäule befundet und eine Osteochondrose der Halswirbelsäule bestätigt. Eine OP-Indikation wurde bisher jedoch nicht gestellt. Zudem wurde eine Kalkschulter rechts diagnostiziert und ein therapierefraktäres Carpaltunnelsyndrom beidseits bestätigt. Der Allgemein Dr. C. wies im April 2017 auch noch darauf hin, dass die Behandlung mit Cannabis wegen einer colitis ulcerosa notwendig sei.

Der Antragsteller leitet einen Anspruch aus § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 b und 2 SGB V ab. Der Antragsteller erfülle diese Voraussetzungen weil die colitis ulcerosa anhaltende somatoforme Schmerzstörungen verursache und die Knorpelschäden beider Kniegelenke sowie die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und muskulären Verspannung schwer wiegende Erkrankungen im Sinne dieser Vorschrift darstellten. Damit stehe dem Antragsteller ein Anspruch auf Übernahme der Kosten der notwendigen Medizin-Cannabis zu. Ohne vorläufigen Rechtsschutz entstehe eine deutliche Gefährdung des Klägers gegenüber mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern. Selbst ein für den Antragsteller positiver Ausgang des Hauptsacheverfahrens würde dazu führen, dass die bis dahin eintretenden Nachteile nicht revidiert werden könnten. Zudem sei durch die behandelnden Ärzte nachgewiesen, dass mit schulmedizinischen Möglichkeiten die Abwendung der erheblichen Symptome, unter denen der Antragsteller leidet, nicht zu bewerkstelligen sein werde.

2. Im schon vorher eingeleiteten Hauptsacheverfahren wurde - ebenfalls vor Antragstellung im hiesigen TR-Verfahren - mit Beweisanordnung vom 5. Oktober 2017 der Internist Dr. D., D-Stadt, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit Einzelfragen zum Tatbestand des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V befragt.

In seinem Gutachten vom 23. Januar 2018 gelangt der Sachverständige in einem Gutachten nach Aktenlage - der Antragsteller hielt wegen der bereits erteilten Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BTMG eine weitere Begutachtung für entbehrlich und erschien nicht zur persönlichen Untersuchung beim Gutachter, bzw. lehnte selbst einen Hausbesuch durch diesen ab - zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger keine schwer wiegende Erkrankung vorliege, die nicht standardisierten Maßnahmen zugeführt werden könne. Bei einem degenerativen Wirbelsäulensyndrom, aber auch bei einer Osteochondrose stünden zunächst konservative Maßnahmen wie Krankengymnastik, Ergotherapie, zum Teil auch Massagebehandlungen im Vordergrund, außerdem müsste zunächst eine orthopädische Mitbehandlung im Sinne einer intensivierten Schmerzbehandlung durchgeführt werden. Von Seiten des behandelnden Orthopäden würde eine OP-Indikation ausgeschlossen. Weitere Behandlungsmaßnahmen würden im vorliegenden Fall nicht debattiert und auch nicht dokumentiert. Andere wesentliche Erkrankungen wurden nicht dokumentiert, es wurde eine Sigmoidsitis beschrieben, eindeutige Beweise für einen Morbus Crohn oder eine colitis ulcerosa mit entsprechender histologischer Bestätigung ließen sich nach den entsprechen Unterlagen nicht eindeutig nachweisen. Aber auch hier stünden standardisierte Maßnahmen zur Verfügung, eine Cannabistherapie ist nach Auffassung des Sachverständigen hier völlig fehl am Platze. Hinsichtlich des Unfalls im Jahr 1987 gibt der Sachverständige zu Bedenken, dass ein mittlerweile 30 Jahre zurückliegender Unfall mit entsprechenden Folgen nach menschlichem Ermessen als weit gehend ausgeheilt bewertet werden müsse. Somit vermag der Sachverständige im vorliegenden Fall nicht eine einzige Erkrankung zu erkennen, die auch nur im Ansatz die Notwendigkeit einer alternativen Therapiemaßnahme - wie zum Beispiel der Therapie mit Cannabisblüten - rechtfertigen könnte.

II.

1. Die Voraussetzungen nach § 86b Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

a) Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Beide Arten der einstweiligen Anordnung setzen einen Anordnungsanspruch - dies ist der materielle Anspruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht - und einen Anordnungsgrund voraus, der insbesondere in der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung besteht. Diese Voraussetzungen sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 120 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, hängt im Allgemeinen von einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussicht in der Hauptsache ab, wobei bei irreversiblen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. Gefährdung des Lebens nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Fragen des Grundrechtsschutzes (Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz) einzubeziehen sind (z.B. Bundesverfassungsgericht vom 19.03.2004, NJW 2004, 3100).

An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist bzw. wäre. Wäre dabei eine Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Bei einer allgemeinen Interessenabwägung ist dabei insbesondere das Aussetzungsantrags des Antragstellers zu berücksichtigen, dass durch die Folgen bei nicht ergehen einer Eilentscheidung bestimmt wird. Entstünden in der Zwischenzeit wesentlicher Nachteile, die durch eine spätere Hauptsacheentscheidung nicht mehr beseitigt werden könnten, wäre ein Aussetzungsantrags in der Regel zu bejahen, wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache jedenfalls nicht ganz gering sind.

b) Schon ein Anordnungsanspruch ist vorliegend im Rahmen des summarischen Erkenntnisverfahrens nicht mit ausreichender Sicherheit glaubhaft gemacht worden.

Nach § 31 Abs. 6 SGB V, der mit Wirkung ab 10.3.2017 in das Gesetz aufgenommen wurde, haben Versicherte mit einer schwer wiegende Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Dronabinol und Nabilon, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärzte oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann und wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwer wiegende Symptome besteht.

Vorliegend ist das Hauptsacheverfahren bereits weit fortgeschritten. Es liegt ein Gutachten des Sachverständigen Dr. D. vor, in dem dieser die medizinischen Voraussetzungen für einen Cannabis-Einsatz verneint. Er vermag schon keine schwer wiegende Erkrankung des Klägers zu erkennen, ja für Morbus Crohn oder colitis ulcerosa sei sogar eine Cannabistherapie völlig fehl am Platze.

Mehr kann im Rahmen eines summarischen Erkenntnisverfahrens nicht ermittelt werden. Selbst wenn Hauptsacheverfahren inzwischen weitere noch zu prüfende Unterlagen durch den Antragsteller vorgelegt worden sind, teilweise aber auch noch nachgefordert werden müssen, sind weitere diesbezügliche Ermittlungen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten und sprengen den Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzes.

c) Da die Erfolgsaussichten des einstweiligen Rechtsschutzes nach Auffassung der erkennenden Kammer damit nicht offen sind, kommt dem Anordnungsgrund keine ausschlaggebende Bedeutung mehr zu bzw. ist bei Fehlen der medizinischen Voraussetzungen im Rahmen von § 31 Abs. 6 SGB V - wie im Gutachten Dr. D. belegt - zu verneinen. Diesbezüglich konnte der Antragsteller i.ü. auch im Bereich der Folgenabwägung nichts Erhellendes vortragen. Er meint durch Vorlage von Nachweisen der behandelnden Ärzte und Vorname einer eigenen Risiko-Nutzen-Analyse "unter weiterer Berücksichtigung der Nebenwirkungen schulmedizinischer Medikation" bei Abwarten einer Hauptsacheentscheidung eine "gravierende Verschlechterung der Symptomatik" des Antragstellers zu erkennen, ohne dies auch überzeugend zu belegen. Im vorgelegten Attest von Dr. C. ist nur die Mitteilung des Arztes enthalten, dass eine Behandlung mittels Cannabisblüten "ärztlich befürwortet" wird. Eine Dringlichkeit ist daraus nicht abzuleiten. Im Arztfragebogen vom 11. April 2017 gibt derselbe Arzt mangelnde Wirksamkeit bzw. Unverträglichkeiten bereits ausprobierter Medikamente an, vermag Literatur, aus der hervorgeht, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwer wiegende Symptome besteht nicht anzugeben. Da trotz dieser Situation bis heute keine gravierenden Verschlechterungen des Gesundheitszustandes glaubhaft gemacht worden sind, bestätigt sich die Auffassung des Sachverständigen Dr. D., dass gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen - jedenfalls derzeit - nicht vorliegen. Der Antragsteller hätte es in der Hand gehabt, im Hauptsacheverfahren durch kooperatives Verhalten gegenüber dem gerichtlichen Sachverständigen zur weiteren Sachverhaltsaufklärung auch für das einstweilige Verfahren beizutragen. Er hat davon Abstand genommen.

2. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG abzuweisen.
Rechtskraft
Aus
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