S 30 VG 12/14

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 VG 12/14
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Wenn eine nicht genau datierbare Schädigung durch Missbrauch und Misshandlung einer 1963 geborenen Antragstellerin in ihrer Kindheit anerkannt ist und die ärztliche Begutachtung einen GdS von 30 ergibt, dann scheitert die Versorgung an § 10 a OEG.

2. Ein im Erwachsenenalter und mithin nach 1976 erlittener minderschwerer sexueller Übergriff ist nach traumatisch belasteter Kindheit nicht geeignet, mit einem eigenständigen GdS von 30 doch noch eine Versorgung zu begründen.
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 19.01.2012 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 14.01.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2014 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Die 1963 geborene Klägerin beantragte am 14.02.2011 eine Versorgung nach dem OEG wegen mehrfacher Gewalterfahrungen u. a. durch ein Sexualdelikt im Sommer 1976. Sie leide deshalb unter einer psychischen Störung, Neuropathie, Psychosen, einer Geh- und Koordinationsstörung, einem körperlichen Zusammenbruch, einer Sehstörung sowie Zittern, Unruhe und Schlafstörung. In der Beklagtenakte findet sich eine ausführliche Schilderung der Klägerin über den Tathergang und über eine insgesamt belastete und traumatisierte Kindheit. In der Akte folgt reichhaltiges medizinisches Material insbesondere aus vorangegangenen Verfahren um eine Rente wegen Erwerbsminderung. Bei der Klägerin ist eine Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 1 aus vorwiegend psychischen Gründen anerkannt. Die Klägerin ist als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 90 mit den Merkzeichen G und B anerkannt.

Am 11.01.2012 wurde eine aussagepsychologische Stellungnahme von Dipl.-Psych. C. über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin gefertigt. Das Ergebnis war ein hinreichend sicherer Erlebnisbezug der Aussagen der Klägerin.

Mit Teil-Bescheid vom 19.01.2012 wurde daraufhin anerkannt, dass die Klägerin im Zeitraum von etwa 1969 bis 1979 Opfer von Gewalttaten geworden ist. Zur Erfassung und Bemessung der Schädigungsfolgen wurde ein Gutachten der Psychiaterin Dr. D. eingeholt, das am 04.07.2012 gefertigt wurde. Es gelangte zum Ergebnis - einer komplexen chronischen posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der Entstehung, zu bewerten mit GdS 40, - einer undifferenzierten Somatisierungsstörung im Sinne der Entstehung, zu bewerten mit GdS 30, - rezidivierender depressiver Episoden mit Panikattacken, Beginn etwa 1999, im Sinne einer Verschlimmerung, zu bewerten mit GdS 30, - einer dissoziativen Bewegungsstörung im Sinne der Entstehung, GdS zu bewerten mit 30.

Unter Einschluss schädigungsunabhängiger Leiden teilte sie einen Grad der Behinderung (GdB) von unverändert 90 mit. Als Gesamt-GdS schlug 50 vor. Dieses Ergebnis fand aber in einer internen nervenärztlichen Stellungnahme der Neurologin und Psychiaterin E. vom 02.11.2011 keine Zustimmung. Sie gelangte zu einem GdS 20.

Auf der Basis dieses Gutachtens (wenn auch davon erheblich abweichend) und der nervenärztlichen Stellungnahme vom 02.11.2012 erging am 28.11.2012 ein Bescheid, der als Schädigungsfolge anerkannte "Teilsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung und Persönlichkeitsstörung", den GdS mit 20 festsetzte und eine Versorgungsrente dementsprechend verweigerte.

Hiergegen erhob die Klägerin am 04.12.2012 ausführlich Widerspruch. Mit Teilabhilfebescheid vom 14.01.2013 wurden weitere Tatkomplexe anerkannt, hinsichtlich des Leistungsanspruchs jedoch keine Änderungen verfügt. Die Klägerin nahm erneut umfangreich Stellung. Der Widerspruchsbescheid vom 08.04.2014 bestätigte die Bescheide vom 28.11.2012 und 14.01.2013.

Mit der Klage wird weiterhin eine Versorgung aufgrund eines GdS von mindestens 30 begehrt. Das Gericht eröffnete die Beweiserhebung durch Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte der Klägerin Dr. J. und Dr. F ... Aus einem älteren Schwerbehindertenverfahren wurde beigebracht wiederum ein Gutachten der Psychiaterin Dr. D., die bei der Klägerin eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung feststellte, ohne diese jedoch einem ausdrücklich benannten Trauma zuzuordnen. Am 10.09.2014 teilte der Vorsitzende der 30. Kammer der Klägervertreterin seine Zweifel mit, ob eine psychiatrische Begutachtung aus dem doch sehr diffusen Beschwerdebild der Klägerin mit mehrfach attestierter Psychose ein schädigungsbedingter Anteil von 30 würde herauslösen können.

Die Klägervertreterin beantragte jedoch, die Beklagte zu Leistungen der Opferentschädigung aufgrund eines GdS von mindestens 50 zu verurteilen. Sie zitierte die von der Klägerin mitgeteilten schädigenden Ereignisse wie folgt: - nach der Schule auf dem Nachhauseweg oftmals in regelmäßigen Abständen zusammengeschlagen, meist waren es vier bis fünf Jungs, - Freiheitsentzug zuhause, - Schläge von G., - Übergriffe von durch die Mutter mitgebrachten Männern 1977, - Übergriffe 1977/78, - psychische Nötigung durch fünf Zuhälter im Hause der Mutter 1979, - Bildungsentzug.

Auf den erkennbaren Wunsch der Klägerin hin wurde eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung veranlasst, und zwar bei der zur gerichtlichen Sachverständigen ernannten Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H ... Das erbetene Gutachten wurde unter dem Datum vom 21.05.2015 erstellt. Die Klägerin berichtete der Sachverständigen von einer schwierigen inkonsistenten Ursprungsfamilie, von einer frühen Belastung mit schwerer körperlicher Arbeit und von Gewalterfahrungen durch die erste Lehrerin in der Grundschule und durch einen Liebhaber ihrer Mutter. Im Sommer 1976 sei es in einem Hausflur zur Bedrängung durch einen Exhibitionisten gekommen. Weitere Ereignisse könne sie nicht mehr genau zuordnen. Einmal sei die Mutter betrunken mit drei bis vier Arabern nachhause gekommen. Sie hätten versucht, sich ihr zu nähern, doch habe sie die vertreiben können.

Aus der weiteren biografischen Entwicklung berichtete die Klägerin von wechselnden Arbeitsverhältnissen und einer stabilen Ehe mit einem schon seit der Kinderzeit bekannten Mann. Die Entwicklung der gemeinsamen drei Kinder hätte viele Sorgen bereitet. Aus ihrer aktuellen gesundheitlichen Situation teilte die Klägerin phasenweise Depression und Schmerzen in verschiedenen Körperregionen mit.

Die Gutachterin gelangte zu folgenden Diagnosen: 1. gemischte dissoziative Störung, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, gemischte Angststörung bei Verdacht auf Teilsymptome einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, 2. HWS-LWS-Syndrom, 3. Psoriasis, 4. Asthma, 5. Migräne.

Die Gutachterin bilanzierte, dass die Klägerin unter denkbar belastenden Umständen aufgewachsen ist. Ihr sei sehr früh viel Verantwortung aufgebürdet worden. Es folgten belastende Ereignisse aus dem Schulalltag und mit wechselnden Liebhabern der Mutter. Die Begegnung mit dem Exhibitionisten 1976 wird als einschneidend gewertet. Frau Dr. H. diskutiert sodann die Möglichkeit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung bei der Klägerin. Anzumerken sei allerdings, dass die Klägerin die als schädigend bezeichneten Ereignisse gänzlich ohne emotionale Beteiligung vorgetragen hatte. Die Ereignisse in späteren Lebensjahren würden auch belegen, dass die Klägerin durchaus in der Lage war, sich zu wehren. Bei der Beurteilung psychischer Folgeschäden aus den belastenden Ereignissen sei des weiteren zu beachten, dass für kein Ereignis eine unmittelbare psychische Folgeerscheinung bei der Klägerin belegt ist. Trotz der im Verwaltungsverfahren vorangegangenen aussagepsychologischen Begutachtung bekundet Frau Dr. H. verbleibende Zweifel an der Verlässlichkeit der Erinnerung an die einzelnen Vorkommnisse. In der Gesamtbilanz bezeichnet sie als "allenfalls" anzuerkennende Schädigungsfolge die Verschlimmerung einer gemischten dissoziativen Störung. Deren Bewertung schlägt sie mit einem GdS von 10 bis maximal 20 vor.

Bei der Klägerin ist eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 90 mit den in den Ausweis einzutragenden Merkzeichen aG und RF anerkannt. Am 13.07.2015 nahm die Klägerin umfangreich zu Details der Begutachtung Stellung. Sie beanstandete Aussagen, die aus der gegebenen Aktenlage jedenfalls zutreffend zitiert waren. Weitere Kritikpunkte waren chronologischer Art. Nahezu über das gesamte Gutachten hinweg widersprach die Klägerin im Detail den tatsächlichen oder vermeintlichen Wertungen durch die Sachverständige. Hinsichtlich der Bewertung von Ereignissen und der Beurteilung von Kausalverläufen nimmt die Klägerin für sich ein überlegenes Wissen in Anspruch. Der Vorsitzende der 30. Kammer des Gerichts nahm dazu ausführlich Stellung.

In einem Termin zur mündlichen Verhandlung am 10.09.2015 kamen Beteiligte und Gericht überein, dass ein weiteres psychiatrisches Fachgutachten zweckmäßig sein könnte. Damit wurde die Traumatologin Dr. I. beauftragt. Es wurde am 23.04.2016 erstellt. Nach einer sorgfältigen Rekapitulation der inzwischen umfangreichen Aktenlage wurde das von der Klägerin vorgetragene Gewalterleben wie folgt zusammengefasst: "Sie berichtet insgesamt über Gewalterfahrungen in der Schulzeit durch eine Lehrerin und einen Lehrer, sei auf dem Nachhauseweg von Kindern verprügelt worden, sei Zeugin geworden, wie im Umfeld ihrer Wohnung in Kindheit und Jugend schwierige Verhältnisse bestanden hätten, berichtet über mehrfach versuchte Übergriffe durch von der Mutter oder den Eltern mitgebrachte Personen in der Wohnung, durch einen Liebhaber der Mutter sowie einen Überfall in einem Hauseingang."

In der Beschwerdeschilderung erwähnte die Klägerin Migräneattacken, Geh- und Sehstörungen, einen wechselhaften Blutdruck, eine Vergrößerung der Schilddrüse mit Zysten, eine Psoriasis, ein Asthma und degenerative Störungen. Die Klägerin fühle sich phasenweise kraftlos und schnell erschöpft und leide häufig unter Unruhe. Nochmals schilderte die Klägerin sodann ausführlich die teilweise belastenden Umstände ihrer Kindheit und Jugend, die Details der Gewalterfahrungen und ihre körperlich und seelisch wechselhafte Entwicklung im Erwachsenenalter mit zahlreichen teilweise schweren gesundheitlichen Krisen und vielfältigen Beschwerden. Ihr Sozialverhalten beschrieb die Klägerin als außerordentlich zurückgezogen und defensiv. Frau Dr. I. diskutiert sodann die Eignung verschiedener lebensgeschichtlicher Vorkommnisse zur Auslösung einer posttraumatischen Belastungsstörung und gliedert die Problemkomplexe mangelnde Erziehung, psychische Gewalt in der Familie, Übernahme von Verantwortung im Haushalt, Betreuung sich jüngeren Geschwister mit der Folge eines von der Klägerin so benannten Freiheitsentzuges insoweit aus. Anzuerkennen seien Übergriffe oder auch körperliche Gewalt durch den Liebhaber G. und der Überfall im Hauseingang durch einen unbekannten Täter. Mehrfache Übergriffe durch andere Täter habe die Klägerin jeweils erfolgreich abwehren können. Auch die Schläge in der Schule könnten von der Beschreibung her nicht als eigentliche traumatische Ereignisse gewertet werden. Anschließend erörtert die Sachverständige sehr eingehend die gegenwärtigen Beschwerden aus der posttraumatischen Belastungsstörung in der Abwägung mit anderen nicht traumatischen Begebenheiten wie den gehäuften Todesfällen in der Familie und den anderen vielfältigen biografischen Belastungen. In diagnostischer Hinsicht schließt Frau Dr. I. die zuvor gelegentlich diskutierte Psychose aus. Es seien lediglich einzelne psychotische Symptome zeitweilig aufgetreten. In der abschließenden Beantwortung der Beweisfragen konstatiert sie das Vollbild einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Den schädigungsbedingten Anteil an der gesamten Symptomatik beziffert sie mit einem GdS 30. In der Bewertung des gesamten Störungsbildes bleibt sie mit einem GdB von 60 unter den behördlichen Feststellungen.

Der Beklagte erwiderte mit einem Hinweis auf § 10 a OEG, wonach für Schädigungen vor Mai 1976 eine Versorgung nur möglich sei, wenn allein damit ein GdS von 50 erreicht werde und die individuelle Bedürftigkeit nachgewiesen werden. Vorliegend komme allenfalls der mit 12 oder 12 1/2 Jahren im Hausflur erlebte Vorfall in Betracht, der aber nach einem Geburtsmonat Oktober 1963 sehr gut auch auf 1975 oder auf die ersten Monate des Jahres 1976 datiert werden könne. Außerdem könne allein auf dieses Ereignis kein GdS von mindestens 50 zurückgeführt werden.

Antragsgemäß wurde zu dieser Äußerung des Beklagten eine ergänzende Stellungnahme von Frau Dr. I. eingeholt. Sie bekräftigte ihre Auffassung, dass aus der Summe der Taten vor und nach Mai 1976 eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung mit einem GdS von 30 resultiere. Sollten nur Taten nach Mai 1976 zugrundegelegt werden, so würde sich der Grad der Störung auf 20 vermindern.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19.01.2012 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 14.01.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2014 zu einer Versorgung nach dem OEG zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig.

Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gibt demjenigen einen Anspruch auf staatliche Versorgung, der infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.

Auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) wird verwiesen. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG gebietet zur Prüfung des Anspruchs auf Beschädigtenrente die Beurteilung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolgen anerkannten körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen, S. 2 der Vorschrift. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 sind vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt nach § 30 Abs. 1 Satz 4 ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. § 31 BVG lässt einen Rentenanspruch ab einem GdS von 30 zu.

Nach § 29 BVG entsteht ein Anspruch auf höhere Bewertung des Grades der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 2 GVG frühestens in dem Monat, in dem erfolgversprechende und zumutbare Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgeschlossen werden.

Nach § 10 a OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag eine Versorgung, solange sie

1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und 2. bedürftig sind und 3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Die Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 gibt unter Nr. 3.7 für die Bewertung von "Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen" als Richtlinien für die Zuweisung eines GdS vor:

- leichtere psychovegetative oder psychische Störungen: 0-20 - stärker behindernde Störungen mit wesentliche Einschränkung der Erlebnis-und Gestaltungsfähigkeit: 30-40 - schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten: 50-70/ mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten: 80-100.

Nach dieser Maßgabe muss den Einschätzungen sowohl von Frau Dr. H. als auch von Frau Dr. I. gefolgt werden, die insoweit übereinstimmen, als die für Schädigungen vor 16.05.1976 maßgebliche Schwelle eines GdS 50 nicht erreicht wird. Zur Einschätzung des Ausmaßes psychischer Folgen von Traumatisierungen in Kindheit, Jugend oder Erwachsenenalter ist unverzichtbar die vergleichende Betrachtung verschiedener biografischer Verläufe nach einer solchen Schädigung. Der Beklagte wie auch das Gericht müssen sich immer wieder um Gewaltopfer kümmern, denen befriedigende und stabile Partnerschaften niemals gelingen, die keine Kinder haben oder bei denen die Erziehung der eigenen Kinder alsbald scheitert, die im "ersten Arbeitsmarkt" nicht auf Dauer fußfassen und die mit einer ordnungsgemäßen Haushaltsführung in eigener Wohnung überfordert sind. Die Klägerin hingegen hat bisher ein durchaus erfolgreiches Arbeitsleben absolviert, führt eine stabile Ehe und hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten drei Kindern gute Voraussetzungen für ihre Entwicklung bieten können. Die traumatisch bedingten Beschwerden können nicht isoliert betrachtet werden. Mit ins Blickfeld genommen werden müssen die außerordentlich ungünstigen Bedingungen in der Herkunftsfamilie der Klägerin, die der gesunden Entwicklung eines Kindes keinesfalls zuträglich waren. Durchaus auffällig ist, dass der Klägerin schon frühzeitig ein durchaus stabiles Selbstbewusstsein mitgegeben wurde, mit dem sie sämtliche sexuelle Bedrängungen durch Partner und Gäste der Mutter abwehren konnte. Zu einem vollendeten sexuellen Missbrauch ist es dank der Standhaftigkeit der Klägerin nie gekommen. Insgesamt wird für die Folgen aus der Summe der Bedrängungen im mütterlichen Haushalt, der früher leider nur allzu alltäglichen Gewaltausübung in der Schule und der letztlich schnell abgewehrten folgenlosen Attacke eines Exhibitionisten ein GdS-Wert zwischen 20 (Dr. H.) und 30 (Dr. I.) anzunehmen sein. Jedenfalls wird die Schwelle von 50 nicht erreicht.

Eine Versorgung käme in Betracht, wenn allein aufgrund von Schädigungen nach dem 15.05.1976 ein GdS von 30 erreicht wäre. Dafür wäre erforderlich, dass

- der Übergriff durch einen Exhibitionisten mit Sicherheit nach dem 15.05.1976 zu datieren wäre - und dass hieraus allein ein GdS von 30 resultieren würde.

Beide Kriterien sind nicht erfüllt. Wenn die Klägerin den Vorfall auf ein Lebensalter von 12 bis 12 1/2 datiert, käme eine Tatzeit zwischen Oktober 1975 und April 1976 in Betracht. Auch ist allein aus diesem Übergriff keine medizinisch definierbare Folge ableitbar, die mit einem GdS von 30 bewertet werden könnte. Die Klägerin konnte durch entschlossene und erfolgreiche Gegenwehr die Situation in größter Schnelligkeit bereinigen. Von daher ist der Vorfall keinesfalls mit einem Ereignis des vollendeten sexuellen Missbrauchs gleichzusetzen.

In der Gesamtbilanz bleibt daher die Klage ohne Erfolg. Vorliegend wie auch schon in anderen Streitsachen muss das Gericht mit Bedauern beobachten, dass der Beklagte Gutachtensaufträge an externe Sachverständige vergibt, die dann zu unverständlich hohen GdS-Werten gelangen, die dann verwaltungsseitig nicht übernommen werden. Im Widerspruchs- und Klageverfahren ist es Rechtssuchenden und ihren Vertretern nicht zu verdenken, wenn sie sich auf diese selbstverständlich in der Akte bleibenden Gutachten beziehen und damit aus dem vom Beklagten selbst geschaffenen Material Ansprüche herleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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