L 7 U 396/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 U 396/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein uneingeschränktes Recht auf Anwesenheit Dritter bei einer medizinischen Begutachtung besteht nicht.
2. Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit und des fairen Verfahrens erfordert eine Abwägungsentscheidung im Einzelfall.
3. Bei einer psychiatrischen Begutachtung haben nahe Angehörige (hier: Ehemann) kein Recht auf Anwesenheit während der Exploration, dem Prozessbevollmächtigten (hier: Rechtsanwalt), ist dagegen die Anwesenheit auf entsprechenden Wunsch der Betroffenen im Einzelfall zu gestatten.
4. Video- und technische Tonaufzeichnungen durch die Betroffenen und deren Prozessbevollmächtigten über den Ablauf der Untersuchung sind unzulässig.
I. Die mit gerichtlichem Schreiben vom 25.10.2018 erfolgte Anweisung an die Gerichtssachverständige wird aufgehoben.

II. Die Beweisanordnung vom 12.9.2018 wird wie folgt ergänzt:

1. Dem Ehemann der Klägerin, Herrn C. A., ist es nicht gestattet, während der Exploration anwesend zu sein.

2. Hiervon abweichend ist es, wenn es die Klägerin zuvor ausdrücklich wünscht, dem Ehemann gestattet, die Anamnesefragebögen zusammen mit der Klägerin zu bearbeiten, zu Beginn der Exploration eigene Angaben zu machen und am Ende der Exploration an einem gemeinsamen Gespräch mit der Gerichtssachverständigen und der Klägerin teilzunehmen.

3. Wenn die Klägerin vorab ausdrücklich damit einverstanden ist, ist es der Gerichtssachverständigen gestattet, an den Ehemann fremdanamnestisch ergänzende Fragen zu stellen.

4. Wenn es die Klägerin vorab ausdrücklich wünscht, ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, Herrn Rechtsanwalt B., der nach § 43a Abs. 2 Satz 1 Bundesrechtsanwaltsordnung zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten verpflichtet ist, die Anwesenheit während des Untersuchungstermins gestattet. Das Recht auf Anwesenheit beinhaltet keine Beteiligungsrechte, insbesondere kein Fragerecht.

5. Die Erforschung des Willens der Klägerin und die vorherige Einholung des Einverständnisses der Klägerin zu Nrn. 2 bis 4 hat ohne Anwesenheit Dritter zu erfolgen.

6. Video- und technische Tonaufzeichnungen durch die Klägerin, deren Ehemann oder den Prozessbevollmächtigten über den Ablauf des Untersuchungstermins sind nicht zulässig.

III. Im Übrigen werden die Anträge des Bevollmächtigten vom 15.10.2018 und 31.10.2018 abgelehnt.

Gründe:

I.

Streitig sind Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Unfalls vom 10.12.2013.

Mit Beweisanordnung vom 12.9.2018 wurde die Dr. C. zur Gerichtssachverständigen ernannt. Das Gutachten ist nach ambulanter Untersuchung zu erstatten.

Mit Schriftsatz vom 15.10.2018 beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin dieser zu gestatten, zur Untersuchung ihren Ehemann als Begleitperson mitzunehmen und die Sachverständige in Kenntnis zu setzen und anzuweisen. Dies gebiete der Grundsatz des fairen Verfahrens und des rechtlichen Gehörs. Mit weiteren Schriftsätzen vom 31.10.2018 begründete er diesen Antrag damit, dass die Klägerin gesundheitlich schwer beeinträchtigt sei. Die Klägerin befürchte, eine erneute und zweifelsohne sehr belastende und anstrengende psychiatrische Begutachtung ohne die unterstützende Anwesenheit des Ehemannes nicht durchstehen zu können. Außerdem sei die Anwesenheit eines Dritten aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes erforderlich. Bei abstrakt immer denkbaren Wahrnehmungsfehlern des Sachverständigen erlaubt es die Hinzuziehung einer Begleitperson, mit Aussicht auf Erfolg einen Zeugenbeweis anzutreten. Falls der Sachverständige nach der Untersuchung zu der begründbaren Auffassung gelangen sollte, dass eine Beeinflussung erfolgt sei und das Untersuchungsergebnis deshalb eine geringere Aussagekraft habe, könne er das in seinem Gutachten darlegen. Die Würdigung hätte dann letztlich das Gericht vorzunehmen.

Die Gerichtssachverständige hat zur Anwesenheit des Ehemannes Stellung genommen (Schreiben vom 24.10.2018). Der Beklagten wurden die Schriftsätze zur Kenntnis gegeben.

II.

Zuständig für diese (Beweis-) Anordnung ist die Berichterstatterin nach §§ 103, 106 Abs. 3 Nr. 5, § 155 Abs. 4 SGG.

Eine bestimmte Form ist für die Anordnungen nach § 106 SGG nicht erforderlich. Ein förmlicher Beschluss ist gleichwohl unschädlich (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 12. Auflage 2017, § 106 Rn 8a).

Nach § 106 Abs. 2 SGG i.V.m. § 155 Abs. 4 SGG hat die Berichterstatterin bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Welche Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts ergriffen werden, steht im Ermessen des Gerichts. Die Aufzählung in § 106 Abs. 3 SGG ist nicht abschließend (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 106 Rn 7).

In Ausübung des der Berichterstatterin eingeräumten Ermessens wird in Ziffer I die erfolgte Anweisung an die Gerichtssachverständige vom 25.10.2018 aufgehoben. Der Prozessbevollmächtigte hat eine Entscheidung und entsprechende Anweisung durch das Gericht ausdrücklich beantragt. Damit verbleibt kein Raum für eine ggf. einvernehmliche Lösung zwischen Klägerin und Gerichtssachverständiger im Untersuchungstermin.

Rechtsgrundlage für Anweisungen an die Gerichtssachverständige ist § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 404a Abs. 1 und 4 ZPO. Danach hat das Gericht die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten und kann ihm für Art und Umfang seiner Tätigkeit Weisungen erteilen. Dazu gehört auch die Festlegung der Bedingungen, unter denen die Untersuchung zu erfolgen hat (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 12. Auflage 2017, § 118 Rn 11m; Musielak/Voit, ZPO, Kommentar, 14. Auflage 2017, § 404a Rn 2; Zöller, ZPO, Kommentar, 32. Auflage 2018, § 404a Rn 1 und 9; Dirk Bieresborn (Hrsg.), Einführung in die medizinische Sachverständigentätigkeit vor Sozialgerichten, 2015, S. 51; Francke/Gagel/Bieresborn (Hrsg.), Der Sachverständigenbeweis im Sozialrecht, 2. Auflage 2017, § 11 Rn 65; a.A. LSG Baden-Württemberg vom 24.10.2011, L 11 R 4243/10 Rn 35; LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.11.2009, L 2 R 516/09 B Rn 12 unter Bezugnahme auf BGH vom 8.8.2002, 3 StR 239/02).

Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit gilt zumindest in entsprechender Anwendung des § 116 SGG auch für den Sachverständigenbeweis. Zu beachten ist ferner der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz des fairen Verfahrens (vgl. BVerfG vom 8.10.1974, 2 BvR 747/73).

Ob und unter welchen Umständen ein zu untersuchender Beteiligter ein Recht auf Anwesenheit eines Dritten hat, ist nicht abschließend geklärt und wird von den Gerichten unterschiedlich beantwortet (vgl. zum Meinungsstand u.a. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 118 Rn 11m; Dirk Bieresborn, a.a.O., S. 50 f, S. 384 ff; Francke/Gagel/Bieresborn, a.a.O., § 11 Rn 46 ff; ausdrücklich offen gelassen in BGH vom 8.3.2017, XII ZB 507/16, Rn 11). Während einzelne Gerichte ein Recht auf Anwesenheit Dritter auch bei einer psychiatrischen Begutachtung uneingeschränkt bejahen (vgl. OLG Hamm vom 3.2.2015, II-14 UF 135/14; OLG Zweibrücken vom 2.3.2000, 3 W 35/00) bzw. einen generellen Ausschluss mit dem Grundsatz der Parteiöffentlichkeit und dem Gebot des fairen Verfahrens für unvereinbar halten (vgl. LSG Rheinland-Pfalz vom 23.2.2006, L 4 B 33/06 SB; LSG Rheinland-Pfalz vom 20.7.2006, L 5 KR 39/05; LSG Berlin-Brandenburg vom 17.2.2010, L 31 R 1292/09 B), lehnen andere Gerichte wiederum ein solches Recht grundsätzlich ab (vgl. LSG Baden-Württemberg vom 24.10.2011, L 11 R 4243/10 Rn 35; LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.11.2009, L 2 R 516/09 B Rn 12 unter Bezugnahme auf BGH vom 8.8.2002, 3 StR 239/02).

Ausgehend von den vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 8.10.1974, 2 BvR 747/73 dargelegten allgemeinen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit ist die Berichterstatterin der Auffassung, dass es zwar allein wegen der fehlenden positiven Normierung ein uneingeschränktes Recht auf Anwesenheit von Dritten bei der medizinischen Begutachtung nicht gibt (vgl. LAG Hamm vom 2.11.2006, 8 Sa 1332/05 Rn 27). Gleichwohl ist das Gericht nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet. Dies erfordert eine Abwägung im Einzelfall des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen mit dem öffentlichen Interesse an einem effizienten Verfahren unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Im vorliegenden Fall ist von vornherein nicht auszuschließen, dass durch das besondere Näheverhältnis zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann das Gutachtensergebnis durch dessen Anwesenheit beeinträchtigt wird, so dass der Antrag des Bevollmächtigten auf Anwesenheit des Ehemannes während der gesamten Begutachtung abzulehnen ist. So gehen auch die Leitlinien der Deutschen Rentenversicherung zur medizinischen Begutachtung davon aus, dass der Ablauf der Begutachtung durch die Anwesenheit einer Begleitperson beeinflusst wird. Danach ist aus gutachterlicher Sicht die Anwesenheit einer Begleitperson während der Begutachtung nur selten erforderlich und in der Regel verzichtbar, sie kann sogar dem Zweck der Begutachtung zuwiderlaufen. Bei der gutachterlichen Exploration besteht bei Anwesenheit einer Begleitperson die Gefahr, dass Angaben verfälscht und die Verwertbarkeit des Gutachtens in Frage gestellt wird (vgl. Leitlinie Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen, August 2012 (incl. Update 2018), S. 31; LSG Berlin-Brandenburg vom 17.2.2010, L 31 R 1292/09 B, Rn 7). So liegen die Verhältnisse auch hier. Die Gerichtssachverständige ist beauftragt, nicht nur neurologische, sondern auch psychiatrische Diagnosen zu prüfen. Dabei ist auch das psychosoziale Umfeld von Bedeutung, s. Beweisfrage Nummer 4. Es ist nicht auszuschließen, dass die Klägerin in Anwesenheit ihres Ehemannes in eine Situation gerät, in der sie sich genötigt fühlt, unwahre oder unvollständige Angaben zu machen, um ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann nicht zu belasten. Auch die Gerichtssachverständige hält die Anwesenheit des Ehemannes während der gesamten Begutachtung für nicht zielführend.

Soweit der Bevollmächtigte darlegt, dass die Klägerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation befürchtet, die Begutachtung nicht durchzustehen, kann dies insoweit nicht nachvollzogen werden, als es der Klägerin in der ersten Instanz möglich war, sich den Begutachtungen bei drei verschieden Sachverständigen zu unterziehen. Der besonderen Belastungssituation kann auch durch andere Maßnahmen begegnet werden, wie insbesondere durch entsprechende Pausen.

Die Berichterstatterin hält allerdings die Anwesenheit des Ehemannes zu Beginn der Exploration mit der Möglichkeit, eigene Angaben zu machen, die gemeinsame Bearbeitung der Anamnesefragebögen, die Beantwortung von einzelnen Fragen zur Anamnese, soweit dies der Klägerin selbst nicht mehr erinnerlich ist, sowie die Beteiligung an einem Abschlussgespräch für unbedenklich, sofern die Klägerin dies jeweils ausdrücklich vorab wünscht bzw. einverstanden ist.

Die Berichterstatterin hält auch die Anwesenheit ihres Prozessbevollmächtigten während der Begutachtung für unbedenklich. Das Verhältnis der Klägerin zu ihrem Prozessbevollmächtigten ist mit dem zu ihrem Ehemann von vornherein nicht vergleichbar und ist nicht Gegenstand der Begutachtung. Zudem ist der Prozessbevollmächtigte zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten, somit auch gegenüber ihrem Ehemann, gesetzlich verpflichtet. Die Anwesenheit des Prozessbevollmächtigten setzt allerdings die Äußerung eines entsprechenden Wunsches vor Beginn der Begutachtung voraus.

Der Antrag auf Video- und Tonaufzeichnungen der Untersuchung war abzulehnen. Hierfür fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Selbst in einer öffentlichen Verhandlung sind Ton- und Filmaufnahmen nur unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise zulässig, vgl. § 169 GVG. Außerdem sind derartige Aufzeichnungen, die im Anschluss an die Begutachtung allein dem Gericht zur entsprechenden Würdigung zur Verfügung gestellt werden sollen, mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör, das der Beklagten ebenso wie der Klägerin uneingeschränkt zusteht, nicht zu vereinbaren.

Dieser Beschluss ist als prozessleitende Verfügung gemäß § 172 Abs. 2 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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