L 7 VE 11/18

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 VE 18/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 VE 11/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 23/19 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen sexuellen Missbrauchs und Vernachlässigung im Kindesalter hat.

Die Klägerin wurde im März 1965 als zweites von vier Kindern ihrer alleinerziehenden Mutter in W. geboren. Im Februar 1970 ordnete der Rat des Kreises W. für sie und ihren 1961 geborenen Bruder die Heimerziehung an, weil die Kinder von ihrer Mutter vernachlässigt worden seien. Die Mutter sei dem Jugendgesundheitsschutz seit Jahren wegen Formen der Vernachlässigung ihrer Kinder im Zusammenhang mit einem unmoralischen Lebenswandel bekannt. Hausbesuche hätten ergeben, dass die Mutter ihre Kinder völlig unzureichend versorge und betreue. Häufig wechselnde Männerbekanntschaften beeinflussten das Familienklima ungünstig. Durch ständigen Geldmangel fehle es am Wochenende oft an lebensnotwendigen Nahrungsmitteln. Anfang April 1970 nahm die Pastorin H. B. die Klägerin in Pflege zu sich; im September 1970 adoptierte sie das Mädchen.

Im September 2012 beantragte die Klägerin eine Beschädigtenversorgung nach dem OEG, weil sie in ihren ersten fünf Lebensjahren Opfer massiver sexueller Gewalt geworden sei.

Ihrem Antrag beigefügt war ein "Ärztlicher Befundbericht" von Dr. H. S., Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapie/Psychoanalyse. Dr. S. führte aus: Die Klägerin habe sich erstmals 1994 bei ihm in der psychiatrisch/psychotherapeutischen Ambulanz an der Klinik für Neurologie und Neuropsychiatrie der A. Kliniken S. in S. vorgestellt. Dies sei wegen einer schweren Depression mit Suizidalität im Rahmen einer Schwangerschaft geschehen. Während der Therapie sei nach und nach ein gravierender sexueller Missbrauch im Alter zwischen drei und fünf Jahren bekannt geworden. Es hätten sich typische Symptome einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt. Seit Jahren fühle sich die Klägerin immer wieder durch das Nacherleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen ("Bilder des damaligen Haupttäters, des Glatzenmannes") bedroht. Die leibliche Mutter habe häufig wechselnde Partnerschaften gehabt, und die Kinder hätten Szenen von sexueller Gewalt erlebt. Die Mutter habe die Klägerin einem Nachbarn und möglicherweise auch anderen Männern für sexuelle Perversionen zur Verfügung gestellt. Als zusätzlich traumatisierend habe die Klägerin den durch die Heimunterbringung bedingten abrupten Abbruch des Kontakts zu ihrem vier Jahre älteren Bruder erlebt. Dieser sei für sie als Schutz und Halt besonders wichtig gewesen.

Dr. S. berichtete, dass die Klägerin nach den ersten ambulanten Kontakten wiederholt im Rahmen von Kriseninterventionen auch stationär in der Klinik behandelt worden sei: 1995 zweimal für mehrere Monate, 1998 und 1999 jeweils für wenige Tage. Weiterhin sei bis zu seinem Ausscheiden aus der Klinik im Jahr 2002 durchgehend eine zeitweise sehr engmaschige ambulante medikamentöse und unterstützend psychotherapeutische Behandlung erfolgt. Seit Anfang 2003 hätten nur noch spontane, teilweise briefliche oder telefonische Kontakte bestanden.

In seinem Bericht ging Dr. S. außerdem auf einen Entlassungsbericht des Fachklinikums B. ein, der 2011 nach einer Reha-Maßnahme der Klägerin erstellt worden war. Dr. S. führte aus: Soweit in diesem Entlassungsbericht bei der Klägerin optische Halluzinationen diagnostiziert würden, seien "vermutlich die bekannten flashbacks aus der Kindheit (‚Glatzenmann‘) im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung missdeutet" worden. Hierzu sei wichtig zu wissen, dass die Klägerin große Schwierigkeiten habe, gegenüber neuen Therapeuten über ihre Erlebnisse zu sprechen. Die Therapeuten bei vergangenen stationären Maßnahmen hätten deshalb vermutlich das Krankheitsbild in seinem Ursprung nicht verstehen können. Ab Anfang 2001 habe die Klägerin mit seiner Unterstützung versucht, die belastenden Erinnerungen zu klären. Ihr älterer Bruder habe die Erinnerungen bestätigt. Zusammenfassend teilte Dr. S. mit, dass für ihn als langjährigen Therapeuten der Klägerin kein Zweifel an der Wahrheit ihrer Erlebnisse bestehe.

Der Beklagte stellte in der Folgezeit Ermittlungen sowohl zum tatsächlichen Geschehen in der Kindheit der Klägerin als auch zum medizinischen Sachverhalt an.

Im August 2013 bat der Beklagte die Klägerin um Beantwortung eines Fragenkatalogs zum geltend gemachten Geschehen (zum Täter, Tatort, tatsächlichen Geschehen usw.). Zur Beantwortung dieser Fragen übersandte die Klägerin eine von Dr. S. verfasste Stellungnahme. Er führte unter dem 20. August 2013 aus, die Klägerin sei zu einer schriftlichen Schilderung des sie weiterhin sehr belastenden Schädigungstatbestandes aus psychischen Gründen nicht in der Lage. Auf ihren Wunsch und nach Rücksprache mit ihr wolle er als jahrelang behandelnder Therapeut versuchen, die Fragen zu beantworten. Der Täter sei der Klägerin namentlich nicht bekannt. Sie erinnere sich an ihn nur in sich kontinuierlich immer wieder aufdrängenden Erinnerungen oder Träumen als den "Glatzenmann". Tatort des wiederholten sexuellen Missbrauchs sei nach ihrer Erinnerung in den Jahren 1968 bis 1970 immer wieder der Keller der damaligen Familienwohnung gewesen. Zu den Tathandlungen erinnere sich die Klägerin, dass der "Glatzenmann" mit ihr gemacht habe, was er wollte: Er sei in sie eingedrungen, habe sie hin und her geschleudert; sie habe sein Glied in den Mund nehmen müssen; noch heute erinnere sie das Gefühl, fast zu ersticken. An weitere konkrete Einzelheiten des Verhaltens des Schädigers erinnere sie sich nicht. Vermutlich habe eine Absprache zwischen dem Täter und der Mutter der Klägerin bestanden, welche Geld dafür erhalten habe, dass sie ihre Kinder zur Verfügung gestellt habe. Der Täter habe dreimal geklingelt; das Kind habe dann gewusst, dass er jetzt zu ihr komme. Auf die Frage nach Gesundheitsstörungen infolge der Erlebnisse führte Dr. S. aus, dass die Klägerin von Kindheit an unter Gesundheitsstörungen mit vegetativer Überregtheit, Schlafstörungen, Ängsten und Essstörungen gelitten habe. Immer wieder seien Bilder der Misshandlungen aufgetreten; der "Glatzkopf" sei im Lebensalltag erschienen, so dass die Klägerin sich in ihrer Wohnung eingeschlossen habe.

Der Beklagte zog beim Landkreis Harz die Akten des Jugendamtes bei. Eine Befragung der leiblichen Mutter war nicht möglich, weil diese bereits 2004 verstorben war. Die Anschrift ihres Bruders M. konnte die Klägerin auf Nachfrage des Beklagten nicht angeben. Die Adoptivmutter, Frau B., teilte dem Beklagten unter dem 22. Januar 2014 schriftlich mit, sie könne nur wenig zu dem sagen, was passiert sei. Die Klägerin habe öfter geäußert, dass sie damals mit ihrem Bruder in den Keller geschickt worden sei. Auf Nachfrage habe sie erklärt, dort sei es wie im Kinderzimmer gewesen. Sie (Frau B.) habe daraus geschlossen, dass die leibliche Mutter eine "sturmfreie Wohnung" gewollt habe. Die Klägerin habe wohl oft davon geträumt und tagsüber einen "Glatzenmann" gesehen. Man sei dem immer nachgegangen, aber es habe einen solchen natürlich nicht gegeben. Von einem Missbrauch habe die Klägerin nur einmal gesprochen. Da sei sie schon verheiratet gewesen, habe ihr drittes Kind erwartet und sei bereits bei Dr. S. in Behandlung gewesen.

Weiter zog der Beklagte die Entlassungsberichte der Klinik S. vom 24. Juli 1995, 20. November 1995, 18. Dezember 1998 und 26. November 1999 bei, außerdem den Entlassungsbericht des Fachklinikums B. vom 8. Juli 2011. In den Entlassungsberichten der Klinik S. nannte Dr. S. als behandelnder Arzt die Diagnosen schwere Depression mit Suizidalität im Rahmen einer sexuellen Missbrauchsproblematik bei infantil-hysterischer Persönlichkeitsstruktur mit strukturellen Defiziten (Bericht vom 24. Juli 1995), Suizidalität im Rahmen einer sexuellen Missbrauchsproblematik bei Borderline-Persönlichkeitsstörung (Bericht vom 20. November 1995), dissoziative Störung bei Borderline-Persönlichkeitsstörung (Bericht vom 18. Dezember 1998) und akuter Verwirrtheitszustand bei bekannter posttraumatischer Belastungsstörung (Bericht vom 26. November 1999). Der Ärztliche Direktor des Fachklinikums B., Dr. R., nannte als Diagnosen u.a. eine rezidivierende depressive Erkrankung mit gegenwärtig mittelgradiger Episode und eine schizotypische Störung mit Denkhemmung und optischen Halluzinationen. Erst im wiederholten Therapeutenkontakt habe die Klägerin "von ‚seltsamen Zuständen‘ wie ‚Tagträume[n]‘ [berichtet], in denen sich ihr Denken merkwürdig verändere und ihr eine männliche Person erscheine".

Mit Bescheid vom 10. November 2014 lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Es könne zwar davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihre ersten fünf Lebensjahre unter ungünstigen familiären Bedingungen verbracht und insbesondere nur ungenügende Pflege und Betreuung erfahren habe. Es sei jedoch anhand der vorliegenden Unterlagen und wegen des Fehlens von Zeugenaussagen nicht nachgewiesen, dass sie Opfer massiver sexueller Gewalt geworden sei. Die Beweiserleichterung des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) könne nicht zur Anwendung kommen, weil die Klägerin die schädigenden Tatbestände nicht aus eigener Erinnerung beschreiben könne.

Mit ihrem dagegen gerichteten Widerspruch machte die Klägerin zum einen geltend, es sei hinreichend nachgewiesen, dass sie als Kind Opfer massiver sexueller Gewalt geworden sei. Zum anderen ergebe sich der geltend gemachte Anspruch aber auch aus der von ihr unzweifelhaft erlittenen Vernachlässigung. Zur Unterstützung der Klägerin wandte sich Dr. S. mit einer "ergänzende[n] medizinische[n] Stellungnahme" an den Beklagten. Unter dem 6. Februar 2015 verwies er auf seine Angaben zum Sachverhalt in seinem Schreiben vom 20. August 2013 und führte u.a. noch einmal aus, die Mutter der Klägerin habe Geld dafür erhalten, dass sie die Klägerin einem Nachbarn und möglicherweise auch anderen Männern für sexuelle Perversionen zur Verfügung gestellt habe.

Der Beklagte versuchte im Widerspruchsverfahren vergeblich, eine Anschrift des älteren Bruders der Klägerin zu ermitteln. Eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt des von ihr angegebenen letzten bekannten Wohnorts, B. H., blieb ohne Erfolg.

Während des laufenden Widerspruchsverfahrens erließ der Beklagte unter dem 23. März 2015 einen Bescheid, mit dem bei der Klägerin aufgrund eines gesonderten Antrags ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 wegen psychischer Beeinträchtigungen festgestellt wurde. Aus dem entsprechenden Verwaltungsvorgang zog er weitere medizinische Unterlagen zu dem die Beschädigtenversorgung betreffenden Widerspruchsverfahren bei: Entlassungsberichte der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie B. nach stationären bzw. tagesklinischen Aufenthalten in den Zeiträumen vom 12. November bis 17. Dezember 2010 (Bericht vom 9. März 2011), vom 11. Januar bis 3. Februar 2011 (Bericht vom 9. Februar 2011), vom 22. November bis 8. Dezember 2011 (Bericht vom 6. Februar 2012) und vom 18. September bis 30. Oktober 2014 (Bericht vom 30. Oktober 2014) sowie einen Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie U. J. vom 19. Februar 2015.

Der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie B., Dr. K., teilte in seinen Berichten mit, die Klägerin habe während ihrer stationären Aufenthalte von einem sexuellen Missbrauch in der Kindheit durch einen "Glatzenmann" berichtet: "Sie berichtet von ‚Tagträumen‘. Sie sehe immer wieder einen ‚Glatzenmann‘. Diesen kenne die Patientin schon seit der Kindheit. Sie berichtet außerdem von Mißbrauchserfahrungen durch diesen ‚Glatzenmann‘, bagatellisiert dies schnell. ‚Aber das war nicht so schlimm.‘, sie beruhigt sich dadurch immer wieder selbst" (Bericht vom 9. März 2011). "Außerdem Schilderung von zeitweise auftretenden optischen Halluzinationen in Form eines Glatzenmannes, den sie plötzlich sehen würde. Es fällt schwer, dies von einer Pseudohalluzination abzugrenzen, da die Patientin bei detaillierter Nachfrage auch im späteren Verlauf sofort in Tränen ausbricht und versucht, den Raum fluchtartig zu verlassen" (Bericht vom 9. Februar 2011). Als psychopathologischen Befund gab Dr. K. insoweit Sinnestäuschungen und optische Halluzinationen an (Bericht vom 30. Oktober 2014). Als Diagnosen nannte er zunächst eine posttraumatische Belastungsstörung, differentialdiagnostisch: schizotype Störung (Bericht vom 9. März 2011) bzw. depressive Episode bei Verdacht auf schizotype Störung bei Persönlichkeit mit infantil hystrionischen Anteilen (Bericht vom 9. Februar 2011), zuletzt u.a.: schizotype Störung und rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (Bericht vom 30. Oktober 2014).

Der Psychiater J., bei dem sich die Klägerin ab 2010 in Behandlung befand, gab in seinem Befundbericht vom 19. Februar 2015 als Diagnosen eine schizotype Störung, eine akute Belastungsreaktion sowie rezidivierende depressive Störungen als mittelgradige Episode an. In einem beigefügten Befundbericht für die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland hatte er als Diagnosen eine posttraumatische Belastungsstörung und rezidivierende depressive Störungen, gegenwärtig mittelgradige Episode, sowie eine schizotype Störung genannt.

In Auswertung der medizinischen Befunde führte der ärztliche Gutachter des Beklagten, der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B., unter dem 8. Mai 2015 aus: Eine psychische Beeinträchtigung zunehmenden Ausmaßes sei bei der Klägerin etwa ab Mitte der 1990er Jahre belegt, also mehr als 20 Jahre nach den in Rede stehenden Schädigungen und ohne behandlungsbedürftige Brückensymptome. Als führende Diagnose sei hierbei eine Störung aus dem schizophrenen Formenkreis zu betrachten. Daneben sei im Rahmen des zuletzt im September/Oktober 2014 erfolgten stationären psychiatrischen Aufenthalts eine rezidivierende depressive Störung (affektive Störung/Psychose) diagnostiziert worden. Bei den Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis und den affektiven Störungen/Psychosen werde von einer multifaktoriellen Genese ausgegangen. Ein Kausalzusammenhang zwischen den beiden dominierenden psychischen Störungen und den zu beurteilenden Tatbeständen könne nicht hergestellt werden. Selbst unter der hypothetischen Annahme des Bestehens eines dauerhaften schädigungsbedingten krankheitswertigen psychoreaktiven Beschwerdebildes würde sich in Abgrenzung zu schädigungsfremden Einflussfaktoren und Diagnosen ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) ergeben, der deutlich unter dem nach § 10a Abs. 1 OEG maßgeblichen GdS von 50 liege.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Ergänzend zum Ausgangsbescheid führte er aus, dass ein Anspruch auch dann ausscheiden würde, wenn man davon ausginge, dass die Angaben der Klägerin glaubhaft i.S.v. § 15 KOVVfG seien. Insoweit verwies er auf die Auswertung der vorliegenden medizinischen Befundunterlagen durch seinen versorgungsmedizinischen Dienst.

Die Klägerin hat daraufhin am 12. Oktober 2015 Klage zum Sozialgericht (SG) M. erhoben.

Das SG hat ein rechtspsychologisches Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin eingeholt. In seiner Beweisanordnung hat es u.a. auf den abgesenkten Beweismaßstab des § 15 Satz 1 KOVVfG Bezug genommen.

Auf Grundlage der Verfahrensakten sowie eines mit der Klägerin geführten Explorationsgesprächs ist die Sachverständige, Dipl.-Psych. E., in ihrem unter dem 5. September 2017 erstatteten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen: Die Klägerin sei zwar bezüglich allgemeiner anamnestischer Angaben grundsätzlich als aussagetüchtig anzusehen, hinsichtlich der Angaben zu Erinnerungen an die in Frage stehenden sexuellen Übergriffe in frühester Kindheit sei ihre Aussagetüchtigkeit jedoch als nicht ausreichend gegeben zu erachten. Aufgrund der Angaben der Klägerin während der aussagepsychologischen Exploration sei deutlich geworden, dass die Aussagezuverlässigkeit ihrer Angaben deutlich eingeschränkt sei. Sowohl aus der Aktenlage als auch aus der Exploration hätten sich Hinweise auf suggestive Effekte aus den therapeutischen Behandlungen ergeben. Die Suggestibilität der Klägerin werde gleichzeitig durch die bei ihr diagnostizierte infantil-histrionische Persönlichkeitsstruktur und die Borderline-Störung unterstützt, sodass von einer erhöhten Empfänglichkeit für suggestive Einflüsse auszugehen sei. Die wenigen fragmentarischen Angaben über Erinnerungen aus dem dritten bis fünften Lebensjahr verwiesen ferner darauf, dass die Klägerin bei ihren Angaben nicht auf stabile Erinnerungen zurückgreifen könne. Die Entstehung von Pseudoerinnerungen bezüglich der in Frage stehenden sexuellen Übergriffe in früher Kindheit sei somit nicht nur nicht auszuschließen, sondern als wahrscheinlichste Erklärung für die fragmentarischen Angaben anzusehen. Zumindest könne nicht ausgeschlossen werden, dass eventuell vorhandene Erinnerungsfragmente an reale Wahrnehmungen durch innerpsychische Verarbeitungsprozesse und Einflussnahmen Dritter massiv überformt worden seien. Aus aussagepsychologischer Sicht sei damit am wahrscheinlichsten, dass das Geschilderte durch suggestive Prozesse entstanden sei. Ein handlungswirksames Motiv für eine bewusste Falschbezichtigung habe sich zwar nicht ergeben; die Hypothese einer intentionalen Falschbezichtigung lasse sich aber auch nicht zurückweisen.

Mit Urteil vom 29. Juni 2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein tätlicher Angriff auf die Klägerin in Form des behaupteten sexuellen Missbrauchs im Alter von drei bis fünf Jahren sei nicht nachgewiesen. Es habe weder ein gerichtliches Strafverfahren noch ein polizeiliches Ermittlungsverfahren gegeben; auch Zeugen oder Urkundsbeweise hätten nicht benannt werden können. Die Aussage der Klägerin reiche auch nicht für eine Glaubhaftmachung der behaupteten Tat aus. Insoweit hat das SG im Wesentlichen auf das Gutachten der Psychologin E. verwiesen. Auch die Vernachlässigung im ursprünglichen Elternhaus begründe keinen Anspruch nach § 1 OEG. Aus den beigezogenen Unterlagen der Jugendhilfe ergebe sich zwar, dass eine Vernachlässigung stattgefunden habe. Inwieweit es in diesem Rahmen auch tätliche Angriffe gegeben habe, lasse sich aber nicht nachweisen. Das Urteil ist der Klägerin am 21. September 2018 zugestellt worden.

Am 27. September 2018 ist die Berufung der Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) eingegangen. Sie macht weiterhin geltend, es sei hinreichend nachgewiesen, dass sie im Kindesalter Opfer massiver sexueller Gewalt geworden sei. Die erlittenen Misshandlungen seien durch den behandelnden Therapeuten ausführlich und detailliert dargestellt worden, und es sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Taten so zugetragen hätten, wie dort beschrieben. Gewisse Zweifel seien unschädlich. Ihre persönliche Aussage sei nicht zu verlangen. Insoweit verweist sie darauf, dass die Erinnerung an die Tat mit einer massiven Belastung einhergehe und die Gefahr bestehe, dass eine unmittelbare Aussage den Behandlungserfolg in höchstem Maße gefährden würde. Es dürfe auch nicht zu ihren Lasten gehen, dass ihre Brüder und ihre Mutter nicht hätten aussagen können oder wollen. Gerade diese unverschuldete Beweisnot solle durch die Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung im Opferentschädigungsrecht berücksichtigt werden. Ferner falle auch die Vernachlässigung Schutzbefohlener unter den vom Strafrecht losgelösten Begriff des tätlichen Angriffs i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG. Dass eine solche Vernachlässigung stattgefunden habe, sehe selbst der Beklagte als erwiesen an.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des SG M. vom 29. Juni 2018 – Az.: S 14 VE 18/15 – den Bescheid des Beklagten vom 10. November 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. September 2015 aufzuheben,

den Beklagten zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem OEG nach einem GdS in Höhe von mindestens 50 ab dem 1. September 2012 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist im Wesentlichen auf das seines Erachtens zutreffende Urteil des SG.

Der Berichterstatter hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss in Betracht komme, und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

Der Senat hat die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen und zum Gegenstand seiner Entscheidungsfindung gemacht.

II.

Der Senat weist die Berufung durch Beschluss zurück, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet (§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Insbesondere ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht geeignet, den Sachverhalt weiter aufzuklären, da die Klägerin sich außerstande sieht, sich zu den in Rede stehenden Ereignissen persönlich zu äußern.

1. Die Berufung ist gemäß § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 SGG).

2. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen.

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1, § 10a Abs. 1 Satz 2 OEG i.V.m. § 31 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält eine natürliche Person, die im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Gemäß § 10a Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 OEG erhalten auch Personen eine Versorgung, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (der ehemaligen DDR) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zum Zeitpunkt der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie (nunmehr) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Als tätlicher Angriff ist grundsätzlich eine in feindseliger bzw. rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt. Der tätliche Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zeichnet sich durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010, B 9 VG 1/09 R; Urteil vom 9. April 2011, B 9 VG 2710 R; jew. zit. nach juris). Ein sexueller Missbrauch von Kindern kann allerdings auch ohne Anwendung von Gewalt das Merkmal des "tätlichen Angriffs" erfüllen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, 9 RVG 4/93, juris).

a) Zur Überzeugung des Senats lässt sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die Klägerin in den Jahren 1968 bis 1970 Opfer eines tätlichen Angriffs in Gestalt eines sexuellen Missbrauchs geworden ist.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) in Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Eine Sache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, das alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG bzw. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B; Urteil vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R; Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R; jew. zit. nach juris).

Hinsichtlich des behaupteten sexuellen Missbrauchs als schädigendem Vorgang kommt der Klägerin die Beweiserleichterung des § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. 15 Satz 1 KOVVfG zugute. Danach sind dann, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Vorschrift soll der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller im Bereich der Kriegsopferversorgung häufig befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw. nicht mehr erlangen konnten. Die Beweiserleichterung ist jedoch auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89, juris). Von einer solchen Beweisnot ist im Fall der Klägerin auszugehen, weil sich für den behaupteten sexuellen Missbrauch in den Jahren 1968 bis 1970 keine Zeugen ermitteln lassen. Die Klägerin ist nicht in der Lage, einen Täter konkret zu benennen. Ihre Mutter, die von den Vorgängen Kenntnis gehabt haben müsste, ist bereits 2004 verstorben. Der Aufenthaltsort ihres älteren Bruders ist unbekannt und lässt sich nicht ermitteln, so dass er ebenfalls nicht als Zeuge zur Verfügung steht.

Doch trotz des abgesenkten Beweismaßstabs ist der behauptete sexuelle Missbrauch zur Überzeugung des Senats nach umfassender Würdigung aller Umstände nicht glaubhaft gemacht. Insoweit kann dahinstehen, ob sich aus den sehr fragmentarischen und in wesentlichen Punkten abstrakten Angaben der Klägerin überhaupt ein hinreichend konkreter Sachverhalt ableiten lässt. Jedenfalls sind diese Angaben nicht i.S.v. § 15 Satz 1 KOVVfG glaubhaft gemacht. Er erscheint zwar nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin in ihrer frühen Kindheit Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ist. Zur Überzeugung des Senats ist dies aber nicht die wahrscheinlichste Möglichkeit. Näher liegt, dass ihre Angaben auf Pseudoerinnerungen beruhen und wesentlich durch ihre psychische Erkrankung sowie durch suggestive Einflüsse geprägt sind.

Der Senat folgt dem Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. E ... Diese hat zunächst überzeugend auf wissenschaftliche Erkenntnisse verwiesen, wonach generell im Hinblick auf Ereignisse bis zum 4. Lebensjahr keine und im Hinblick auf Ereignisse bis zum 6. Lebensjahr nur eine stark eingeschränkte Aussagetüchtigkeit anzunehmen ist ("kindliche Amnesie"). Dies hat sich, wie die Sachverständige aufgezeigt hat, bei der im behaupteten Tatzeitraum drei bis fünf Jahre alten Klägerin insoweit bestätigt, als diese während des Explorationsgesprächs für das Gutachten keine Erinnerungen an den Haushalt oder die Person der leiblichen Mutter wiedergeben konnte und auch nicht in der Lage war, Angaben z.B. zum damaligen Alltagsleben zu machen.

Weiter folgt der Senat der Sachverständigen in ihrer Einschätzung, dass die Klägerin zusätzlich zu dieser generellen, altersbedingten Einschränkung aufgrund ihrer psychopathologischen Besonderheiten als nicht aussagetüchtig anzusehen ist, soweit es um den von ihr sogenannten "Glatzenmann" geht. Die Feststellung, dass bei der Klägerin eine schizotype Störung vorliegt, ist durch die im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundunterlagen hinreichend gesichert. Diese Diagnose ist nicht nur von Dr. R. (Fachklinikum B.) gestellt worden, sondern auch von Dr. K. (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie B.) und vom zuletzt behandelnden Psychiater J ... Alle drei Ärzte haben die Klägerin entweder mehrere Wochen lang stationär oder über mehrere Jahre hinweg ambulant betreut. Vor diesem Hintergrund erscheint es nahezu ausgeschlossen, dass hier lediglich eine einmal gestellte fremde Diagnose fortgeschrieben wurde. Insbesondere Dr. K. hatte eine schizotype Störung zunächst lediglich als Verdachts- (Bericht vom 9. Februar 2011) und erst später als gesicherte Diagnose mitgeteilt, zuletzt unter dem 30. Oktober 2014 nach einem sechswöchigen stationären Aufenthalt der Klägerin in seiner Klinik. Sowohl im Reha-Bericht des Fachklinikums B. als auch in den Entlassungsberichten der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie B. wird von optischen Halluzinationen der Klägerin in Bezug auf den "Glatzenmann" berichtet. Insoweit hat die Sachverständige unter Verweis auf das fachwissenschaftliche Schrifttum überzeugend dargelegt, dass schizophrene Patienten mit Beeinträchtigung der Wahrnehmung (Halluzinationen) nicht nur während der Phase der akuten Symptomatik, sondern bezogen auf diesen spezifischen Sachverhalt darüber hinaus dauerhaft nicht aussagetüchtig seien. Diese Unzuverlässigkeit ihrer Angaben hat die Klägerin letztlich selbst wiederholt zum Ausdruck gebracht, indem sie im Explorationsgespräch mit der Sachverständigen immer wieder geäußert hat, sie habe Erinnerungen, wisse aber nicht, ob sie das geträumt habe. Im Wortlautprotokoll des Gesprächs taucht vielfach die Wendung auf: "Es war wie im Traum", teils auch: "Es war ein Traum".

Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, dass der zunächst behandelnde Arzt, Dr. S., die "Glatzenmann"-Wahrnehmungen der Klägerin ohne Zweifel ausschließlich als Flashbacks im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung einordnen will, die sich auf entsprechende tatsächliche Ereignisse beziehen. Insoweit hat die gerichtliche Sachverständige nachvollziehbar dargelegt, dass es der Klägerin nicht durchgehend möglich sei, solche Flashbacks von real Erlebtem zu unterscheiden.

Hinzu kommt die bei der Klägerin diagnostizierte infantil-histrionische Persönlichkeitsstruktur der Klägerin bzw. ihre Borderline-Störung. Die Sachverständige hat überzeugend darauf hingewiesen, dass diese Störungen durch übermäßige Emotionalität und das Streben nach Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger Affektlabilität und ausgeprägten Gefühlen der Abhängigkeit und Hilflosigkeit geprägt seien. Vor allem die infantilen Anteile führten zu unterwürfigen und kindlich-naiven Verhaltensweisen, was die Empfänglichkeit für Suggestion deutlich erhöhe, was auch vorliegend anzunehmen sei. Die Gutachterin hat in diesem Zusammenhang insbesondere darauf verwiesen, dass die Klägerin eine erhöhte Bedürftigkeit zur Hintergrundklärung für ihre Probleme (psychische Belastungen, soziale Einschränkungen) aufweise und somit allgemein empfänglicher für suggestive Einflüsse sei.

Die Sachverständige hat auch überzeugend dargelegt, dass insbesondere bei sehr lange zurückliegenden und im frühen Kindesalter stattgefundenen Ereignissen eine besonders große Gefahr für solche suggestiven Prozesse bestehe, und mehrere auch nach Einschätzung des Senats naheliegende Einflussquellen benannt: neben den von der Klägerin befragten früheren Nachbarn und ihrem Bruder, mit dem sie vor Jahren ein Gespräch geführt hatte, vor allem den zunächst behandelnden Arzt, Dr. S ...

Es fällt auf, dass im Verwaltungsverfahren sämtliche zusammenhängenden Schilderungen des behaupteten Tatgeschehens von Dr. S. verfasst worden sind. Selbst den vom Beklagten an die Klägerin gerichteten Fragebogen hat er beantwortet. Insgesamt hat er im gesamten Verwaltungsverfahren einschließlich des Widerspruchsverfahrens eine ungewöhnlich aktive und steuernde Funktion übernommen. So hat die Klägerin der gerichtlichen Sachverständigen berichtet, dass es Dr. S. gewesen sei, der ihr die Beantragung von OEG-Leistungen vorgeschlagen und ihr sogar ihren späteren Prozessbevollmächtigten empfohlen habe.

Es spricht vieles dafür, dass es hier zu einer wechselseitige Beeinflussung und Verstärkung gekommen ist. Einerseits war Dr. S. zwar nach Angaben der Klägerin derjenige, mit dem sie am ausführlichsten über die in Rede stehenden Vorfälle gesprochen hat, was zusammen mit seiner beruflichen Qualifikation zunächst für die Zuverlässigkeit seiner Ausführungen spricht. Andererseits legen die Aussagen der Klägerin bei der gerichtlichen Sachverständigen aber nahe, dass Dr. S. ihre Angaben nicht ungefiltert an den Beklagten weitergegeben, sondern sie zunächst selbst interpretiert hat, ohne dies offenzulegen. So hat die Klägerin der gerichtlichen Sachverständigen ausführlich berichtet, sie habe gegenüber Dr. S. von "Träumen" gesprochen. Im Protokoll des Explorationsgespräch ist dazu festgehalten (Seite 17 des Gutachtens):

Klägerin: "Ich habe ihm aber auch gesagt, ich hab das geträumt, geträumt und dann habe ich ihm aber gesagt, dass ich gerade, ich hab das schon geträumt, aber es ist auch (kurze Pause) die Wahrheit. Also es ist schöner zu sagen, ich habe es geträumt. Das ist, äh, leichter. Ich habe es geträumt, ich alles geträumt, ja."

Sachverständige: "Was haben sie denn da erzählt, was sie geträumt haben?"

Klägerin: "Es klingelt, dass es dreimal klingelt, es klingelt dreimal und ich weiß ganz genau, jetzt kommt der ‚Glatzemann‘. So halt, sowas."

Die Angabe, dass die Klägerin ein entsprechendes Traumgeschehen geschildert habe, findet sich auch in den Entlassungsberichten der Klinik B ...

Dr. S. hat dagegen wiederholt einen scheinbar konkret erinnerten, feststehenden Lebenssachverhalt geschildert, etwa: "Es bestand vermutlich eine Absprache zwischen dem Täter und der Mutter, welche für die zur Verfügungstellung der Kinder Geld erhielt. Der Täter klingelte dreimal, das Kind A. wusste dann, dass er zu ihr jetzt kommt" (Schreiben vom 20. August 2013 und 6. Februar 2015).

Besonders deutlich ist die Diskrepanz zwischen eigener Schilderung der Klägerin und Wiedergabe durch Dr. S. bei den Ausführungen dazu, dass die leibliche Mutter Geld dafür erhalten habe, dass sie ihre Tochter für einen sexuellen Missbrauch zur Verfügung gestellt habe. Zur Quelle dieser Information hat die Klägerin gegenüber der gerichtlichen Sachverständigen erklärt, bei den Recherchen nach ihrem älteren Bruder habe eine Nachbarin ihr gesagt, dass sie von ihrer Mutter verkauft worden sei. Im Protokoll des Explorationsgesprächs (Seite 17 des Gutachtens) ist dazu festgehalten:

Sachverständige: "Ihre Nachbarn haben ihnen dann erzählt, sie sind verkauft worden? Was haben die Ihnen dazu erzählt, wofür sie verkauft worden sind?"

Klägerin: "Na, das wissen die, das habe ich eins und eins zusammengezählt, ‚Glatzemann‘ und so."

Auf die Frage der Sachverständigen, ob es immer nur der "Glatzenmann" gewesen sei, oder ob es auch andere Täter gegeben habe (Seite 19 des Gutachtens):

Klägerin: "Das war der ‚Glatzemann‘"

Sachverständige: "Immer er?"

Klägerin: "‚Glatzemann‘."

Im "Ärztlichen Befundbericht" vom 1. September 2012 hat Dr. S. dagegen ohne jede weitere Relativierung als Sachverhalt mitgeteilt, die Mutter habe die Klägerin "einem Nachbarn (möglicherweise auch anderen Männern) für sexuelle Perversionen zur Verfügung" gestellt. In seinen Schreiben vom 20. August 2013 und 6. Februar 2015 heißt es, wie bereits zitiert, es habe vermutlich eine Absprache zwischen dem Täter und der Mutter bestanden, welche Geld dafür erhalten habe, dass sie ihm ihre Kinder zur Verfügung gestellt habe. Angesichts der wörtlich protokollierten Angaben der Klägerin gegenüber der gerichtlichen Sachverständigen drängt sich die Annahme auf, dass hier eigene Interpretationen und auch Mutmaßungen des Therapeuten einen prägenden Einfluss auf seine Darstellung hatten. Angesichts der von der gerichtlichen Gutachterin aufgezeigten starken Empfänglichkeit der Klägerin für suggestive Einflüsse spricht vieles dafür, dass dies wiederum auf die Klägerin selbst zurückgewirkt hat.

Legt man nicht die von Dr. S. aufbereitete Schilderung der behaupteten Schädigungstatbestände zugrunde, sondern ausschließlich die ungefilterten eigenen Angaben der Klägerin aus dem Gespräch mit der gerichtlichen Sachverständigen, bleibt nur ein außerordentlich fragmentarischer und weitestgehend abstrakter Sachverhalt übrig, der zudem als Inhalt von Flashbacks beschrieben worden ist. Insoweit ist der Sachverständigen zuzustimmen, dass auch dieses Fehlen einer (eigenen) zusammenhängenden Schilderung der fraglichen Ereignisse durch die Klägerin dazu beiträgt, dass eine Verwertung ihres Vorbringens ausscheidet.

b) Ein Anspruch der Klägerin lässt sich auch nicht mit Blick auf die Vernachlässigung durch ihre Mutter bejahen. Insbesondere durch die vorliegenden Jugendhilfe-Akten ist zwar dokumentiert, dass die Klägerin in der Zeit bis Februar 1970 durch ihre Mutter vernachlässigt worden ist. Darin ist vorliegend aber kein tätlicher Angriff i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG zu erkennen.

Nicht jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, kann als Gewalttat angesehen werden. Insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist, weil in diesen Fällen – anders als bei rein seelischen Misshandlungen – Tätlichkeiten vorliegen, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 1/12 R, juris). Auch im Zusammenhang mit der Vernachlässigung von Minderjährigen setzt die Annahme eines tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG voraus, dass dieser auf eine körperliche Einwirkung gerichtet ist; eine allein intellektuell vermittelte bzw. psychische Einwirkung genügt nicht (vgl. BSG, Beschluss vom 23. März 2015, B 9 V 48/14 B, juris). Weiter ist zu beachten, dass sich ein Geschehen, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und aus einer Vielzahl einzelner, für sich abgeschlossener Sachverhalte besteht, nicht als ein einheitlicher schädigender Vorgang werten lässt; denn ein solcher umfasst nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. März 2017, L 7 VE 12/12, juris). Für eine Vernachlässigung der Klägerin, die mit einer körperlichen Einwirkung im beschriebenen Sinne einhergegangen wäre und die als Ursache einer Schädigung und entschädigungsrelevanter Schädigungsfolgen in Betracht käme, liegen aber keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Die Klägerin hat selbst keine solchen Tätlichkeiten benannt, und auch den Unterlagen des Jugendamts ist dazu nichts zu entnehmen. Erst recht finden sich keine Angaben zu einer nach ihrem Sachverhalt, ihrem Ort und der Tatzeit ausreichend konkretisierten Tätlichkeit (vgl. dazu LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 6. Dezember 2018, L 6 VG 2096/17, juris mit Verweis auf LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Februar 2015, L 7 VE 6/12).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

4. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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