L 31 AS 1574/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 203 AS 10329/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 1574/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 12/20 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Treten die atypischen Umstände des Einzelfalls, die bei der Entscheidung des Beklagten hätten berücksichtigt werden müssen, erst durch die Amtsermittlung des Gerichts zu Tage, bleibt die Ermessensausübung des Beklagten ermessensfehlerfrei.
Bemerkung
Revision der Klägerin zurückgewiesen
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid des Beklagten, mit dem dieser sie aufgefordert hat, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.

Die 1953 geborene Klägerin, die mit ihrem Regelaltersrente beziehenden Ehemann in einer Mietwohnung lebt, erhielt bis zum Bezug ihrer eigenen Regelaltersrente (Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Rheinland – im Folgenden: DRV – vom 2. Oktober 2018 für die Zeit ab 1. September 2018 in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von 873,46 Euro) vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), so auch für den Zeitraum Februar bis Juli 2016 (in Höhe zwischen 448,69 Euro und 622,11 Euro laut endgültigem Bescheid vom 25. Juli 2016). Die Klägerin und ihr Ehemann hatten für die Zeit ab 7. März 2016 ein Pflegekind (geboren 17. Juni 2015) in befristeter Vollzeitpflege aufgenommen und erhielten hierfür Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - SGB VIII - (monatliches Pflegegeld für die Zeit vom 7. März 2016 bis 16. März 2017: 927,97 Euro laut Bescheid des Bezirksamts Treptow Köpenick von Berlin, Jugendamt vom 25. April 2016).

Auf Anforderung des Beklagten reichte die Klägerin am 26. Januar 2016 eine Renteninformation der DRV vom 5. September 2014 ein, wonach ihre - am 1. September 2018 beginnende - Regelaltersrente voraussichtlich 864,56 Euro betragen würde; die bislang erreichte Rentenanwartschaft entspräche einer monatlichen Rente von 805,16 Euro. Unter dem 5. April 2016 bestätigte die DRV, dass die Klägerin Altersrente mit Abschlägen frühestens ab 1. Februar 2016 erhalten könne.

Mit Schreiben vom 14. April 2016 forderte der Beklagte die Klägerin zur Beantragung einer "geminderten Altersrente" bis spätestens zum 2. Mai 2016 auf. Daraufhin wandte sich die Klägerin an die DRV und teilte mit, dass der Beklagte sie angewiesen habe, dass sie in Rente gehen müsse und dies beantragen solle, was sie hiermit tue. Mit Schreiben an die DRV vom 19. Mai 2016 erklärte sie, dass sie mit ihrem vorangegangenen Schreiben vom 19. April 2016 keine Rente habe beantragen, sondern lediglich habe wissen wollen, wie hoch die Rente mit Abschlägen ausfallen würde.

Ebenfalls mit Schreiben vom 19. Mai 2016 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Aufforderung des Beklagten, da sie nicht vorzeitig in Rente gehen wolle.

Daraufhin stellte der Beklagte mit Schreiben vom 23. Mai 2016 bei der DRV einen Antrag auf vorzeitige Altersrente für die Klägerin gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, meldete einen Erstattungsanspruch an und wies mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2016 den Widerspruch der Klägerin zurück: Weder sei die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente unbillig im Sinne der Unbilligkeitsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 14. April 2008 (UnbilligkeitsV) noch ergebe eine Abwägung der Interessen der Klägerin mit denen der Allgemeinheit im Hinblick auf das Gebot der wirtschaftlichen und sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel, dass von der Aufforderung zur Rentenantragstellung bzw. einer Antragstellung durch den Beklagten selbst abgesehen werden könne. Ein atypischer Fall, in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Rentenantragstellung zur Durchsetzung der Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen abzusehen sei, liege nicht vor. Soweit sich Umstände für solche Härten nicht aufdrängen würden, sei es am Leistungsberechtigten die Umstände seines Einzelfalls vorzubringen, die der Leistungsträger zu erwägen habe (Hinweis auf Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R). Es seien keine Umstände ersichtlich, die für einen atypischen Fall der Klägerin sprächen. Diese habe solche Umstände auch nicht vorgetragen.

Hiergegen hat die Klägerin am 18./19. Juli 2016 beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass sie jedenfalls bis zum Erreichen der Regelaltersrente weiter als Pflegemutter tätig sein wolle. Ihre ohnehin schon niedrige Rente würde im Falle des Bezuges einer vorzeitigen Altersrente noch geringer ausfallen.

Durch Urteil des SG vom 20. Juni 2017 ist der Bescheid des Beklagten vom 14. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 aufgehoben worden. Dabei hat die Kammer offengelassen, ob der am 1. Januar 2017 und damit erst nach der Entscheidung im Widerspruchsverfahren in Kraft getretene neue § 6 UnbilligkeitsV, wonach unbillig auch die Inanspruchnahme von Altersrente ist, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) werden würden, hier erfüllt sei. Zu beantworten wäre jedenfalls die Frage, ob entscheidungserheblicher Zeitpunkt hier wie regelmäßig bei der Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung oder - etwa weil der Aufforderungsverwaltungsakt ein Dauerverwaltungsakt sei - der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung sei. Denn jedenfalls verstoße die Entscheidung des Beklagten gegen die bei einer Aufforderung zur Rentenantragstellung notwendige Ermessensausübung. Es liege eine Ermessensunterschreitung vor, weil relevante Ermessensgesichtspunkte nicht berücksichtigt worden seien. Hier habe sich dem Beklagten anhand der Bescheinigung des Jugendamtes aufdrängen müssen, dass die Klägerin und ihr Ehemann regelmäßig Kinder in befristeter Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII aufnähmen. Insbesondere ergäbe sich aus dem Schreiben des Jugendamtes vom 7. März 2016, dass die Klägerin und der Ehemann kurz vor dem Bescheid vom 14. April 2016 am 7. März 2016 erneut ein Pflegekind aufgenommen hätten. Daraus ergebe sich ferner, dass die Klägerin neben Sachkostenzuschuss und Aufwendungsersatz einen Erziehungsbeitrag nach § 39 SGB VIII erhalten würde, der bei der nichtprofessionellen Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII einen Anreiz für die Betreuung und Erziehung des Kindes geben solle und insofern eine zweckbestimmte Leistung sei. Der Beklagte hätte bei seiner Entscheidung, die Klägerin zur Stellung des Rentenantrages aufzufordern, eine möglicherweise unterschiedliche Anrechnung des nach § 39 SGB VIII gewährten Erziehungsgeldes berücksichtigen müssen. Denn die Frage, ob die in § 11 a Abs. 3 Nr. 1 SGB II geregelten Freistellungsbeträge auch für das SGB XII gelten würden, sei höchstrichterlich noch nicht entschieden worden. Ob die von der Klägerin und ihrem Ehemann geleistete Betreuung und Erziehung auch im Falle einer vorzeitigen Verrentung in gleicher Weise und insbesondere unter entsprechenden finanziellen Voraussetzungen hätte erbracht werden können, habe der Beklagte in seine Ermessenserwägungen einstellen müssen.

Gegen das dem Beklagten am 3. Juli 2017 zugestellte Urteil ist am 26. Juli 2017 Berufung beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt worden. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass sich die Frage aufdränge, wie der Berufungskläger eine angeblich noch nicht höchstrichterlich geklärte Frage in seine Ermessenserwägung hätte einschließen sollen. Zudem gehe die Kammer in den Ausführungen ihres Urteils selbst davon aus, dass die Anrechnung des Erziehungsgeldes auch nach dem SGB XII erfolgen werde. Von einer Ermessensunterschreitung könne insoweit keine Rede sein.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts vom 20. Juni 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Meinung, dass sich, da sie seit September 2018 ihre Regelaltersrente erhalte, der Rechtsstreit erledigt habe.

Auf Aufforderung des Berichterstatters hat die DRV Aktenauszüge aus ihren Verwaltungsakten über die Klägerin übersandt. Aus diesen ergab sich, dass seit 2012 bis zum Beginn der Regelaltersrente 2018 Pflichtbeitragszeiten für Pflegetätigkeit – die Klägerin erhält diese Pflichtbeiträge für die Pflege des Ehemanns – vorliegen. Dies war dem Beklagten weder bekannt noch ist es im gesamten Verfahren von der Klägerin vorgetragen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten (Aktenzeichen , Band IV), die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht Berlin (SG) entschieden, dass die Aufforderung an die Klägerin zur Rentenantragstellung rechtswidrig ist. Der Bescheid des Beklagten vom 14. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 ist rechtmäßig.

Wie das SG zu Recht entschieden hat, ist die Klage als reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da es sich bei der Aufforderung, vorzeitig eine Altersrente zu beantragen, um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) handelt (BSG, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, veröffentlicht in juris, dort Rdnr. 12). Die Aufforderung des Beklagten hat sich auch nicht im Sinne von § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) durch die Gewährung der Regelaltersrente auf Antrag der Klägerin vom 9. Mai 2018 erledigt, so dass die Anfechtungsklage weiter zulässig bleibt. Entgegen der Ansicht der Klägerin handelt es sich bei ihrer Rentenantragstellung auf Gewährung einer Regelaltersrente um einen anderen Antrag als den, zu dem sie durch den Beklagten aufgefordert worden ist, und bei der Regelaltersrente um eine andere Rentenart als bei einer vorzeitigen Altersrente. Im Übrigen hat sich die Aufforderung des Beklagten, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, nicht dadurch erledigt, dass die Klägerin ursprünglich (mit Schreiben vom 19. April 2014) ausdrücklich eine Rente beantragt hatte, also der Aufforderung des Beklagten nachgekommen war. Denn diesen Antrag hat sie gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Rheinland mit ihrem Schreiben vom 19. Mai 2016 wieder zurückgenommen.

Eine Erledigung ist auch keineswegs durch Zeitablauf (§ 39 Abs. 2 SGB X) eingetreten, wie der Beklagte wohl in der mündlichen Verhandlung andeuten wollte. Denn nach rechtskräftigem Urteil über den angefochtenen Bescheid wird der Beklagte nämlich entsprechend seinem Verwaltungshandeln (Aufforderung zur Rentenantragstellung und eigene Stellung eines solchen Antrags) auf die Bescheidung des Antrags durch die Rentenversicherung hinzuwirken haben, um in den Genuss der bereits angemeldeten Erstattungsansprüche zu kommen.

Rechtsgrundlage für die angefochtene Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente sind § 12 a i. V. m. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II (in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung aufgrund der Neubekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl I 850). Danach sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die hierfür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist, wobei nach § 12 a Satz 2 Nr. 1 SGB II bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden muss. Die SGB II-Leistungsträger werden ermächtigt, Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorzeitigen Rente aufzufordern und, sofern diese der Aufforderung nicht ankommen, selbst den Antrag zu stellen.

Die sich aus dem Regelungszusammenhang der genannten Vorschriften ergebenden Voraussetzungen sind erfüllt: die Klägerin war hilfebedürftig im Sinne der §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II; nach Vollendung des 63. Lebensjahres der Klägerin am 28. Januar 2016 gehörte zu den vorrangigen Leistungen grundsätzlich auch die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente trotz der damit verbundenen dauerhaften Rentenabschläge für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (§ 77 SGB Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VI). Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf vorrangige Leistungen eines anderen Trägers nicht, können nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II die Leistungsträger nach dem SGB II den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist entgegen der Ansicht des SG auch materiell rechtmäßig.

Vorliegend führt die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit der Klägerin nach dem SGB II, denn diese wird unabhängig von der Höhe der Rente beseitigt, was aus § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II folgt, wonach Leistungen nach dem SGB II nicht erhält, wer Rente wegen Alters bezieht (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, B 14 AS 46/15 R, veröffentlicht in juris, dort Rdnr. 19). Neben der festgestellten Verpflichtung der Klägerin zur Antragstellung ist diese im Sinne des § 12 a Satz 1 SGB II auch erforderlich, weil Renten aus eigener Versicherung nur auf Antrag geleistet werden (§ 99 Abs. 1 SGB VI). Die angefochtene Aufforderung zur Antragstellung "spätestens bis zum 2.5.2016" ist auch hinreichend bestimmt, denn sie bezieht sich darauf, bei dem zuständigen Rentenversicherungsträger einen Antrag auf eine Altersrente ab Vollendung des 63. Lebensjahres zu stellen, wie der Beklagte in dem Schreiben an die Klägerin vom 15. März 2016 zur Vorlage einer aktuellen Rentenauskunft auch ausgeführt hatte. Darin ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass sie verpflichtet sei, einen Antrag bei ihrem zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen, wenn sie eine geminderte Altersrente (d. h. mit Abschlägen) beziehen könne und das 63. Lebensjahr vollendet habe. Nachdem die DRV bestätigt hatte, dass Altersrente mit Abschlägen frühestens ab 1. Februar 2016 bezogen werden könne, hat der Beklagte mit einer nicht zu beanstandenden Frist von ca. 3 Wochen (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, a.a.O., Rdnr. 20) die Klägerin zu Recht aufgefordert, bis spätestens zum 2. Mai 2016 einen Antrag beim Rentenversicherungsträger zu stellen. Der Verpflichtung der Klägerin zur Rentenantragstellung und Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente steht die auf § 13 Abs. 2 SGB II beruhende UnbilligkeitsV, die die Ausnahmetatbestände normiert, bei deren Vorliegen Leistungsberechtigte gleichwohl zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht verpflichtet sind, nicht entgegen. Soweit das SG Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides im Hinblick auf § 6 UnbilligkeitsV in der späteren Fassung dieser Vorschrift vom 4. Oktober 2016 geäußert hat, ist dem nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass der entscheidungserhebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit im Rahmen der Anfechtungsklage der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ist, hier also der Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2016 (so auch das SG S. 5 seines Urteils), und dieser Zeitpunkt vor dem der Neufassung des § 6 UnbilligkeitsV gelegen hat, liegen auch im Übrigen – entgegen der Ansicht des SG – die Voraussetzungen des ab 1. Januar 2017 geltenden § 6 UnbilligkeitsV hier durchaus nicht vor. Unbillig ist nach § 6 Abs. 2 UnbilligkeitsV in der Fassung vom 4. Oktober 2016 die Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente "insbesondere" dann, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7 a des SGB II) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem SGB II. Der individuelle Bedarf der Klägerin lag zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung des Beklagten (20. Juni 2016) gemäß Bewilligungsbescheid vom 25. Juli 2016 bei 484,91 Euro und war damit niedriger als der nach § 6 Satz 2 UnbilligkeitsV zugrunde zu legende Betrag von 605,19 Euro für die zu erwartende Regelaltersrente (70 Prozent der gemäß Renteninformation vom 5. September 2014 zu erwartenden Regelaltersrente in Höhe von 864,56 Euro).

Im Übrigen würde die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente weder zum Verlust eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld führen (§ 2 UnbilligkeitV), weil die Klägerin keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch hat, noch ist die Beantragung der vorgezogenen Altersrente deshalb unbillig, weil die Klägerin in nächster Zukunft die Altersrente hätte abschlagsfrei in Anspruch nehmen können (§ 3 UnbilligkeitV). Abschlagsfrei hätte die Klägerin eine Altersrente erst mit Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch nehmen können, wie sich aus der Bestätigung der DRV vom 5. April 2016 ergibt. Ein Zeitraum - wie hier - von 25 Monaten zwischen dem Beginn der vorzeitigen Altersrente mit Abschlägen nach Vollendung des 63. Lebensjahres (hier 1. Mai 2016 bei Antragstellung am 2. Mai 2016) bis zum Beginn der abschlagsfreien Regelaltersrente (1. September 2018) ist nicht eine bevorstehende abschlagsfreie Altersrente "in nächster Zukunft" bzw. "alsbald" (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, a.a.O., Rdnr. 22: längstens 3 Monate).

Auch die Ausnahmebestimmungen den §§ 4 und 5 UnbilligkeitV greifen hier nicht. Weder ist die Klägerin sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen oder hat sie aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen erzielt (§ 4 Unbilligkeit V) noch hat eine solche Erwerbstätigkeit in nächster Zukunft bevor gestanden (§ 5 UnbilligkeitV). Die Pflichtbeitragszeit wegen Pflegetätigkeit ist auch keine der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Tätigkeit, denn die Pflichtbeiträge werden nur für die nicht erwerbsmäßige Pflege gewährt (§ 3 Satz 1 Nr. 1a Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch).

Dies gilt zunächst für die – auch dem Beklagten bekannte – Ausübung der Tätigkeit der Klägerin als Pflegemutter für die Zeit ab der Aufnahme eines Pflegekindes am 7. März 2016 in ihren Haushalt und das daraus resultierende Pflegegeld in Höhe von monatlich 927,97 Euro. Bei dem im Rahmen der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII der Klägerin gezahlten Pflegegeld (§ 39 SGB VIII) handelt es sich weder um Arbeitsentgelt aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung noch um ein Einkommen aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit. Das den Pflegeeltern gewährte Pflegegeld deckt die materiellen Aufwendungen und die Kosten der Erziehung des Pflegekindes ab (§ 39 Abs. 1 SGB VIII). Grundlage des Anspruchs auf Pflegegeld der Pflegeeltern ist die mit dem Jugendamt geschlossene Vereinbarung über die Vollzeitpflege (vgl. Nellissen in, Schlegel/Voelcke, juris, PK-SGB VIII, 2. Auflage 2018, § 33 SGB VIII, Rz. 25, 74). Zusätzlich werden anlassbezogene Beihilfen und Zuschüsse gewährt (vgl. z. B. § 39 Abs. 3 SGB VIII: Einmalige Beihilfen oder Zuschüsse können insbesondere zur Erstausstattung einer Pflegestelle, bei wichtigen persönlichen Anlässen sowie für Urlaubs- und Ferienreisen eines Kindes oder des Jugendlichen gewährt werden). Sowohl das Pflegegeld als auch die Beihilfen und Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln sind steuerfreie Beihilfen im Sinne des § 3 Nr. 11 Einkommensteuergesetz, die die Erziehung unmittelbar fördern, sofern eine Erwerbstätigkeit nicht vorliegt (vgl. jurisPK-SGB VIII, a.a.O., Rdnr. 78.1). Eine Erwerbstätigkeit wird erst dann vermutet, wenn mehr als sechs Kinder gleichzeitig in einen Haushalt aufgenommen werden; bei einer Betreuung von bis zu sechs Kindern und damit auch für den Fall der Klägerin, die im Zeitpunkt der hier angegriffenen Entscheidung des Beklagten lediglich ein Pflegekind betreut hat, ist nach dieser steuerrechtlichen Beurteilung, die nach § 15 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) auch bei einer Bewertung der Kinderpflegetätigkeit der Klägerin als Selbständige maßgeblich wäre, ohne weitere Prüfung davon auszugehen, dass die Pflege nicht erwerbsmäßig betrieben wird (vgl. jurisPK, a.a.O., Rdnr. 78.1 unter Bezugnahme auf Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht vom 27. Februar 2019, 2 K 8/19).

Die Klägerin ist als Pflegemutter auch nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Abgesehen davon, dass nach § 39 Abs. 4 S. 2 SGB VIII die laufenden Leistungen lediglich die hälftige Erstattung nachgewiesener Aufwendungen für eine angemessene Alterssicherung der Pflegeperson vorsehen, hat die Klägerin nicht behauptet, als (Kinder-)Pflegeperson sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen zu sein oder Leistungen zum Aufbau einer Alterssicherung gemäß § 39 Abs. 4 S. 2 SGB VIII vom Jugendamt erhalten zu haben. Den Nichterhalt solcher Mittel hat sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Gegen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung spricht im Übrigen auch der Regelaltersrentenbescheid der DRV vom 2. Oktober 2018. Denn nach dem Versicherungsverlauf ist für die Zeit ab März 2016 bis zum 31. August 2018 keine Pflichtbeitragszeit aus versicherungspflichtiger Beschäftigung ausgewiesen, sondern - neben den Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II – lediglich Pflichtbeitragszeiten für die Pflegetätigkeit der Klägerin, die aus der Pflege ihres Ehemannes resultieren. Auch dies hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Nach § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI sind nämlich Personen in der gesetzlichen Rentenversicherung in der Zeit versicherungspflichtig, in der sie einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) nicht erwerbsmäßig in – in einem bestimmten zeitlichen Umfang – pflegen, wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung hat. Pflegekinder gehören danach nicht zum Personenkreis des § 14 SGB XI. Im Übrigen sind Pflichtbeitragszeiten für Pflegetätigkeit im Versicherungsverlauf nicht erst seit März 2016 vermerkt, dem Zeitpunkt der erneuten Aufnahme eines Pflegekindes in den Haushalt der Klägerin, sondern bereits durchgehend für die Zeit ab 1. Januar 2012.

Ebenso wenig wie die UnbilligkeitsV steht eine Ermessensunterschreitung der Rechtmäßigkeit des Bescheides des Beklagten vom 14. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 entgegen. Zutreffend hat das SG ausgeführt, dass die Aufforderung an Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorrangigen Leistung im Ermessen des Leistungsträgers steht (vgl. auch BSG, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, veröffentlicht in juris, Rdnr. 27 f.). Wie das SG ebenfalls richtig festgestellt hat, können relevante Ermessensgesichtspunkte ohnehin nur solche sein, die einen atypischen Fall darstellen und auf besonderen Härten im Einzelfall beruhen, die keinen Unbilligkeitstatbestand im Sinne der UnbilligkeitsV begründen, aber die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen lassen. Soweit sich Anhaltspunkte für solche Härten nicht aufdrängen, ist der Leistungsberechtigte gehalten, atypische Umstände seines Einzelfalls vorzubringen, die der Leistungsträger zu erwägen hat (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, B 14 AS 46/15 R, veröffentlicht in juris, dort Rdnr. 26, zuletzt). Soweit das SG im angegriffenen Urteil ausgeführt hat, der Beklagte hätte seine Entscheidung, die Klägerin zur Stellung des Rentenantrages aufzufordern, unter Berücksichtigung einer möglichen, anders als nach den Vorschriften des SGB II geregelten Anrechnung des Erziehungsgeldes nach § 39 SGB VIII im Rahmen des SGB XII überprüfen müssen, kann dem nicht gefolgt werden. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit die Frage einer möglichen Anrechnung des Erziehungsgeldes nach § 39 SGB VIII "auch für das SGB XII" hier überhaupt von Bedeutung sein soll. Leistungen nach dem SGB XII spielen im vorliegenden Fall keine Rolle. Ob die Klägerin in der Zukunft – einen SGB XII – Bezug unterstellt, der angesichts der zu erwartenden Rente nicht sicher ist oder gar nahe liegt, weiter Kleinkinder pflegen wird, bleibt Spekulation. Soweit die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides in ihrem Haushalt ein Pflegekind aufgenommen hatte, sind die dafür vom Jugendamt gewährten Leistungen schon kein anrechenbares Einkommen (§ 11a Abs. 3 S. 2 Nr. 1 SGB II), so dass sich auch die Frage nach davon abzusetzenden Beträgen gemäß § 11b SGB II (S. 6 des angegriffenen Urteils) erst gar nicht stellt.

Soweit die Klägerin in ihrer Klagebegründung darauf hingewiesen hat, dass sie als Pflegemutter "für das Jugendamt" bis zum Bezug ihrer Regelaltersrente tätig sein wolle, wäre dies nur für den Fall, dass aus dieser Tätigkeit weitere rentensteigernde rentenrechtliche Zeiten erwüchsen, bei der in Frage stehenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Dies ist aber nicht der Fall, wie sich aus dem Regelaltersrentenbescheid der DRV vom 2. Oktober 2018 ergibt. Danach sind für die Klägerin für den hier in Frage stehenden Zeitraum ab Mai 2015 bis zum 31. August 2018 lediglich – neben Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II – nur Pflichtbeitragszeiten für Pflegetätigkeiten berücksichtigt worden, nicht aber Kindererziehungszeiten im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VI oder gar Berücksichtigungszeiten im Sinne des § 57 SGB VI. Kinderziehungszeiten kommen nach § 56 Abs. 1 SGB VI im Übrigen nur für die Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren in Betracht. Dass die Klägerin beabsichtigte, das am 7. März 2016 in ihrem Haushalt aufgenommene Kind wenigstens drei Jahre lang als Pflegemutter zu betreuen, ist von ihr weder vorgetragen worden noch aus den von ihr vorgelegten Unterlagen ersichtlich gewesen, so dass der Beklagte einen solchen Sachverhalt auch nicht in seine Ermessenüberlegungen einbeziehen konnte.

Soweit im Übrigen aus dem Regelaltersrentenbescheid der DRV vom 2. Oktober 2018 aus dem Versicherungsverlauf hervorgeht, dass auch für den Zeitraum vom 1. Februar 2016 bis zum 31. August 2018 Pflichtbeitragszeiten für Pflegetätigkeit – die Pflege des Ehemannes durch die Klägerin – berücksichtigt worden sind, wäre dies zwar in eine Ermessensentscheidung des Beklagten einzustellen gewesen; denn bei Bezug einer vorzeitigen Altersrente können Beitragszeiten gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 3 Satz 1 Nr. 1 a SGB VI nicht mehr erworben werden. Die Pflichtbeiträge für Pflegetätigkeit würden die Rente jedenfalls grundsätzlich erhöhen (vgl. u. a. zu den Beträgen: www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Rente/Familie-und-Kinder/Angehörige).

Die Klägerin hat aber die von ihr bereits seit dem 1. Januar 2012 ausgeführte, nicht erwerbsmäßige Pflege ihres Ehemannes dem Beklagten nicht mitgeteilt, so dass dieser sie in seine Ermessenserwägungen nicht hat einstellen können. Auch aus den Akten des Beklagten ergibt sich kein Hinweis auf eine rentenrechtlich relevante Pflege des Ehemannes der Klägerin. Daraus hat der Senat gefolgert, dass die Ermessensentscheidung des Beklagten rechtlich nicht zu beanstanden ist, obwohl sich (allein) durch die Amtsermittlung des Senats Umstände (rentensteigernde Pflichtbeiträge wegen Pflege des Ehemannes u.a. vom 63. bis 65 Lebensjahr der Klägerin) ergeben haben, die bei der Ermessensentscheidung grundsätzlich zu berücksichtigen gewesen wären. Da sich dem Beklagten diese Pflichtbeitragszeiten nicht aufdrängen mussten – sie sind weder den von ihm angeforderten Rentenauskünften zu entnehmen noch sonst aktenkundig – hätte es der Klägerin oblegen, diese atypischen Umstände des Einzelfalls vorzutragen (so ausdrücklich, BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, B 14 AS 46/15 R, Rn. 26 am Ende, zitiert nach juris). Das Urteil verhält sich allerdings nicht dazu, wie zu verfahren ist, wenn die den atypischen Einzelfall begründenden Umstände erst durch die Amtsermittlung des erkennenden Gerichts zutage treten.

Welche Einzelansprüche der Klägerin bzw. dem Beklagten gegen die DRV zustehen, ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits. Der Beklagte wird in diesem Zusammenhang auf das durch ihn bei der DRV eingeleitete und noch nicht abgeschlossene Rentenverfahren zum Bezug einer vorzeitigen Altersrente der Klägerin und auf den von ihm dort angemeldeten Erstattungsanspruch zurückkommen müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 1, 2 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Frage der Reichweite des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) im Fall der Aufforderung zur Stellung eines Antrages auf vorgezogene Altersrente (§ 12 a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II) zugelassen. Weiter stellt sich die Frage, ob das BSG an seiner Rechtsprechung, dass der Leistungsempfänger die Umstände des atypischen Falles vortragen muss, auch für den Fall festhält, dass diese Umstände erst durch die gerichtliche Amtsermittlung zutage treten.
Rechtskraft
Aus
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