Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 2116/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 2305/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 07.06.2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin gegen den Beklagten ein Anspruch auf höhere (Erst-)Feststellung ihres Grades der Behinderung (GdB; mindestens 60) seit 15.05.2017 zusteht.
Bei der 1976 geborenen Klägerin, deutsche Staatsangehörige, war zuletzt mit Bescheid des Landratsamtes B. (LRA) vom 29.10.2012 (Blatt 103/104 der Beklagtenakte) wegen Unfallfolgen laut Bescheid der BG ETEM für die Zeit vom 15.11.2010 bis 08.05.2012 der GdB mit 20 festgestellt worden (die BG hatte als Unfallfolge eine endgradige Bewegungseinschränkung im rechten oberen Sprunggelenk nach knöchern fest verheiltem Sprunggelenksbruch und ein chronisches Schmerzsyndrom im Stadium II nach Gebershagen festgestellt). Danach betrage der GdB 10.
Am 15.05.2017 (Blatt 113/116 der Beklagtenakte) beantragte die Klägerin beim LRA die Feststellung des GdB. Zu diesem Antrag gab sie Schmerzen am Fuß, Rückenschmeruzen, psychische Depressivität und Lungen-/Atem-Beschwerden an.
Das LRA zog von der BG ETEM Unterlagen (dazu vgl. Blatt 136/161 der Beklagtenakte) und Befundbeschreibungen von den Hausärzten Dres. K. /B. sowie Dr. K. , Psychiatrische Tagesklinik F. , bei (dazu vgl. Blatt 122/135, 162 der Beklagtenakte).
Der Versorgungsarzt Dr. E. schätzte in seiner Stellungnahme vom 05.07.2017 (Blatt 165/166 der Beklagtenakte) den GdB wegen der bg-lichen Unfallfolgen auf 10.
Mit Bescheid vom 07.07.2017 (Blatt 167/186 der Beklagtenakte) lehnte das LRA die Feststellung des GdB ab, da kein GdB von mindestens 20 festzustellen sei.
Den am 18.07.2017 erhobenen Widerspruch der Klägerin (Blatt 169 der Beklagtenakte), den sie nicht weiter begründete, wies der Beklagte durch das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.2017 (Blatt 174/175 der Beklagtenakte) zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 06.10.2017 beim Sozialgericht (SG) Konstanz Klage erhoben. Sie bedürfe in mehreren Lebensbereichen der Hilfe, da sie wegen ihrer gesundheitlichen Beschwerden nicht schmerzfrei alltägliche Aufgaben erledigen könne. Ihr stehe ein GdB von mindestens 60 zu. Sie könne ihr Bein wegen der Unfallfolgen nicht belasten. Sie habe auch Bandscheibenprobleme und sehr starke Depressionen.
Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. K. hat dem SG am 11.12.2017 (Blatt 27/46 der SG-Akte) geschrieben, es bestehe ein GdB von 10 seit 29.10.2012. Dipl.Psych. Dr. K. , Psychiatrische Tagesklinik F. , hat dem SG mit Brief vom 13.12.2017 (Blatt 47 der SG-Akte) mitgeteilt, es habe sich das Bild einer chronifizierten Schmerzstörung ergeben. Eine einzeltherapeutische Behandlung erfolge nicht. Die Fachärztin für Anästhesie, spezielle Schmerztherapie, Dr. S. hat dem SG am 18.12.2017 (Blatt 48/60 der SG-Akte) geschrieben, in der ihr überlassenen versorgungsärztlichen Stellungnahme fehle die Diagnose eines CRPS. Dr. S. , Facharzt für Orthopädie, hat mit Brief vom 19.12.2017 (Blatt 61/75 der SG-Akte) ausgeführt, es bestünden chronische Sprunggelenksbeschwerden und chronische untere Rückenschmerzen. Er halte den GdB von 10 für gerechtfertigt. Dr. W. von der BG Unfallklinik M. hat dem SG am 21.12.2017 geschrieben (Blatt 76/78 der SG-Akte), die GdB-Bewertungen einem Gutachten zu überlassen.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens beim Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Spezielle Schmerztherapie, Prof. Dr. B ... Dieser hat in seinem Gutachten vom 28.03.2018 (Blatt 85/104 der SG-Akte; Untersuchung der Klägerin am 07.03.2018) ein nozizeptives Schmerzsyndrom bei trimalleolärer Sprunggelenksfraktur rechts am 15.11.2010 (osteosynthetisch versorgt), eine Adipositas, eine tiefe Beinvenentrombose rechts, ein fragliches passageres CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom) Typ I und einen Zustand nach Morphinentzug diagnostiziert. Den GdB aufgrund der chronischen Schmerzsymptomatik mit zusätzlicher belastungsakzentuierter Komponente hat er auf 10 geschätzt.
Die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 14.05.,2018 (Blatt 1107113 der Senatsakte) zu dem Gutachten geäußert. Sie habe wegen des Unfalles ihre Arbeitszeit von 100 % auf 75 % reduziert. Es sei daher nicht zutreffend, wenn der Gutachter die Situation so darstelle, als ob sie ohne Probleme in Vollzeit weiterarbeiten könne. Sie habe wegen der Schmerzen ihre Hobbies aufgeben müssen. Sie könne nicht mehr mit der Familie Bowling und Federball spielen. Auch bestünden Sensibilitätsstörungen und Schmerzen bei Berührung. Sie habe auch die im Januar 2016 geborene Tochter überwiegend zu betreuen, denn ihr Ehemann arbeite im Dreischichtbetrieb. Wenn sie die gesamten Medikamente einnehme, könne sie sich nicht mehr um ihre Tochter aufmerksam kümmern.
Mit Gerichtsbescheid vom 07.06.2019 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein GdB von insgesamt 20 sei nicht festzustellen. Im Funktionssystem der Psyche bestehe ein GdB von 10.
Gegen den ihrem Bevollmächtigten am 14.06.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15.07.2019 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Es liege seit einem schweren und komplizierten Arbeitsunfall eine zunehmende Verschlechterung und Verringerung der Leistungsfähigkeit vor. Das SG verkenne, dass wegen des Arbeitsunfalles mittlerweile eine Erwerbsminderungsrente zugesprochen worden sei.
Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 07.06.2019 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 07.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.09.2017 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung seit Antragstellung von mindestens 60 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Nach Anhörung der Beteiligten hat der Senat mit Beschluss vom 19.09.2019 die Berufung nach § 153 Abs. 5 SGG dem Berichterstatter übertragen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Blatt 20, 21 der Senatsakte).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden hat (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
Über die Berufung konnte der Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheiden, nachdem das SG mit Gerichtsbescheid vom 07.06.2019 entschieden hatte und die Berufung dem Berichterstatter durch Beschluss des Senates nach § 153 Abs. 5 SGG übertragen worden war. Der Senat hat keine Gründe feststellen können, die eine Entscheidung durch den ganzen Senat erforderlich machen, solche waren auch in der schriftlichen Anhörung von den Beteiligten nicht mitgeteilt worden.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 07.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.09.2017. Diese Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten; die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 20.
Rechtsgrundlage für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX (§ 152 SGB IX) in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I 2016, 3234), da maßgeblicher Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz ist, wobei es für laufende Leistungen auf die Sach- und Rechtslage in dem jeweiligen Zeitraum ankommt, für den die Leistungen begehrt werden; das anzuwendende Recht richtet sich nach der materiellen Rechtslage (Keller in: Meyer- Ladewig, SGG, 12. Auflage, § 54 RdNr. 34). Nachdem § 241 Abs. 2 SGB IX lediglich eine (Übergangs-)Vorschrift im Hinblick auf Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz enthält, ist materiell-rechtlich das SGB IX in seiner derzeitigen Fassung anzuwenden.
Nach dessen § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderung solche Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt nach § 2 Abs.1 Satz 2 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, zuvor § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Damit gilt weiterhin die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2009 (BGBl. I, 2412), deren Anlage zu § 2 die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VG) beinhalten. Diese stellen – wie auch die zuvor geltenden Anhaltspunkte (AHP) - auf funktionelle Beeinträchtigungen ab, die im Allgemeinen zunächst nach Funktionssystemen zusammenfassend (dazu vgl. A Nr. 2 Buchst. e) VG) und die hieraus gebildeten Einzel-GdB (vgl. A Nr. 3a) VG) nach § 152 Abs. 3 SGB IX (zuvor: § 69 Abs. 3 SGB IX) anschließend in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen sind. Die Feststellung der jeweiligen Einzel-GdB folgt dabei nicht einzelnen Erkrankungen, sondern den funktionellen Auswirkungen aller derjenigen Erkrankungen, die ein einzelnes Funktionssystem betreffen.
Eine GdB-Feststellung ist nach § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX nur zu treffen, wenn ein Gesamt-GdB von wenigstens 20 vorliegt. Liegt kein Gesamt-GdB von wenigstens 20 vor, besteht kein Anspruch auf Feststellung einer Behinderung.
Die Bemessung des Gesamt-GdB (dazu s. unten) erfolgt nach § 152 Abs. 3 SGB IX (zuvor: § 69 Abs. 3 SGB IX). Danach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktions-beeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Insoweit scheiden dahingehende Rechtsgrundsätze, auch solche, dass ein Einzel-GdB nie mehr als die Hälfte seines Wertes den Gesamt-GdB erhöhen kann, aus. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3 3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft – gleiches gilt für alle Feststellungsstufen des GdB - nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 – oder anderer Werte - fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris). Damit entscheidet nicht die Anzahl einzelner Einzel-GdB oder deren Höhe die Höhe des festzustellenden Gesamt-GdB, sondern der Gesamt-GdB ist durch einen Vergleich der im zu beurteilenden Einzelfall bestehenden Funktionsbehinderungen mit den vom Verordnungsgeber in den VG für die Erreichung einer bestimmten Feststellungsstufe des GdB bestimmten Funktionsbehinderungen – bei Feststellung der Schwerbehinderung ist der Vergleich mit den für einen GdB von 50 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen, bei Feststellung eines GdB von 30 ist der Vergleich mit den für einen GdB von 30 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen usw. vorzunehmen – zu bestimmen. Maßgeblich sind damit grds. weder Erkrankungen noch deren Schlüsselung in Diagnosemanualen an sich, sondern ob und wie stark die funktionellen Auswirkungen der tatsächlich vorhandenen bzw. ärztlich objektivierten Erkrankungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) anhand eines abstrakten Bemessungsrahmens (Senatsurteil 26.09.2014 – L 8 SB 5215/13 – juris RdNr. 31) beeinträchtigen. Dies ist – wie dargestellt – anhand eines Vergleichs mit den in den VG gelisteten Fällen z.B. eines GdB von 50 festzustellen. Letztlich handelt es sich bei der GdB-Bewertung nämlich nicht um eine soziale Bewertung von Krankheit und Leid, sondern um eine anhand rechtlicher Rahmenbedingungen vorzunehmende, funktionell ausgerichtete Feststellung.
Der Senat ist nach eigener Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass die der Klägerin vorliegen-den Funktionsbehinderungen in ihrer Gesamtschau und unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit keinen Gesamt-GdB von mindestens 20 rechtfertigen; dies gilt sowohl unter der seit 01.01.2018 anzuwendenden Rechtslage, als auch unter Anwendung der bis 31.12.2017 geltenden Rechtslage des SGB IX.
Vorliegend stellt der Senat anhand der vorhandenen ärztlichen Befunde und Unterlagen, wie auch anhand des Vorbringens der Klägerin fest, dass eine rezidivierende Bronchitis und ein Nikotinabusus bei der Klägerin keine funktionellen Teilhabebehinderungen bedingen, die einen GdB von 10 rechtfertigen.
Das Wirbelsäulenleiden ist bei belastungsabhängigen lumbalen Beschwerden (Blatt 150 der Beklagtenakte) nach B 18.9 VG allenfalls mit einem GdB von 10 zu bewerten. Wesentliche funktionelle Auswirkungen bestehen nicht. Der behandelnde Orthopäde Dr. S. hat ebenfalls einen GdB von 10 angenommen, sodass sich der Senat nicht von stärkeren teilhabebeeinträchtigenden Funktionseinbußen überzeugen konnte.
Die Sprunggelenkserkrankung (Folgen des BG-lich versicherten Unfalles) bedingen im Funktionssystem der Beine nur geringgradige Bewegungsbeeinträchtigungen. B Nr. 18.14 VG sieht dazu folgende Bewertungsvorgaben vor: Versteifung des oberen Sprunggelenks in günstiger Stellung (Plantarflexion um 5° bis 15°) 20 Versteifung des unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung (Mittelstellung) 10 Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung 30 in ungünstiger Stellung 40 Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk geringen Grades 0 mittleren Grades (Heben/Senken 0-0-30) 10 stärkeren Grades 20
Im Hinblick auf diese Bewertungsvorgaben bedingt bei geringen Bewegungseinschränkungen im oberen Sprunggelenk von 20-0-40o, wie sie der behandelnde Orthopäde Dr. S. im Bericht vom 18.07.2017 beschrieben hat, die Sprunggelenksverletzung keinen GdB von mindestens 10. Allenfalls die Schmerzerkrankung erhöht den GdB auf 10, wie Prof. Dr. B. festgestellt hat. Auch der Hausarzt Dr. K. hat den GdB von 10 für zutreffend erachtet. Dr. K. hat, wie Prof. Dr. B. , eine chronifizierte Schmerzstörung angenommen; mit der Diagnose eines CRPS, also eines regionalen Schmerzsyndroms, haben sich Dr. S. und Dr. S. dieser Diagnostik angeschlossen. Auch die Ärzte der BG Klinik M. sehen eine chronische Schmerzerkrankung.
Prof. Dr. B. hat bei seiner Untersuchung der Klägerin ein nozizeptives Schmerzsyndrom bei trimalleolärer Sprunggelenksfraktur rechts am 15.11.2010 (osteosynthetisch versorgt), ein fragliches passageres CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom) Typ I und einen Zustand nach Morphinentzug diagnostiziert. Den GdB aufgrund der chronischen Schmerzsymptomatik mit zusätzlicher belastungsakzentuierter Komponente hat er auf 10 geschätzt. Prof. Dr. B. hat insoweit auf den Tagesablauf, die Freizeitaktivitäten und die berufliche Leistungsfähigkeit, die auch wegen des Unfalles reduziert worden sei – die Klägerin ist zu 75 % der Normarbeitszeit als Teamleitung für Projektlogistik mit Weisungsbefugnis über 5 Mitarbeiter tätig (schmerzbedingte Fehltage sind nicht aufgetreten) – und die fehlende Notwendigkeit zur Einnahme von Schmerzmitteln oder psychotropen Substanzen verwiesen. Daraus kann der Senat mit Prof. Dr. B. weder depressive Symptome bzw. Verhaltensweise eruieren (eine antidepressive Therapie wurde zu keinem Zeitpunkt durchgeführt) noch auf eine stärker behindernde Wirkung der Schmerzen schließen. Damit kann der GdB sowohl im Hinblick auf die Bewertungsvorgaben nach B 18.14 VG für das Funktionssystem der beine noch im Hinblick auf die Bewertungsvorgaben nach B 3.7 VG für eine psychische Erkrankung insoweit lediglich mit 10 angenommen werden.
Weitere - bisher nicht berücksichtigte - GdB-relevante Funktionsbehinderungen, die einen Einzel- bzw. Teil-GdB von wenigstens 10 bedingen, wurden weder geltend gemacht noch konnte der Senat solche feststellen.
Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben mit dem vom SG eingeholten Gutachten dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 30, 40 oder 50 fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris).
Einen Antrag nach § 109 SGG hat die Klägerin im Berufungsverfahren nicht gestellt.
Nach Überzeugung des Senats ist der Gesamt-GdB unter integrierender Bewertung der Funktionsbehinderungen und unter Beachtung ihrer gegenseitigen Auswirkungen der Gesamt-GdB zu bilden aus Einzel-GdB-Werten von allenfalls 10. Da kein Fall vorliegt, in denen ausnahmsweise GdB-Werte von 10 erhöhend wirken, konnte der Senat einen GdB von 20 und mehr nicht feststellen.
Insgesamt ist der Senat unter Berücksichtigung eines Vergleichs der bei der Klägerin insgesamt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren gegenseitigen Auswirkungen einerseits und derjenigen Fälle, für die die VG einen GdB von 20 vorsehen andererseits, zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nicht entsprechend schwer funktionell in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist.
Der Senat schließt sich daher nach eigener Prüfung der angefochtenen Entscheidung des SG vollumfänglich an, weist die Berufung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück und sieht von einer weiteren Darstellung der Gründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Die Berufung war daher in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Von der Androhung von Kosten nach § 192 Abs. 1 SGG hat der Senat nach Ermessen abgesehen, auch wenn die Fortführung eines Verfahrens missbräuchlich erscheint, wenn keiner der behandelnden Ärzte das Prozessziel auch nur im Ansatz unterstützt.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin gegen den Beklagten ein Anspruch auf höhere (Erst-)Feststellung ihres Grades der Behinderung (GdB; mindestens 60) seit 15.05.2017 zusteht.
Bei der 1976 geborenen Klägerin, deutsche Staatsangehörige, war zuletzt mit Bescheid des Landratsamtes B. (LRA) vom 29.10.2012 (Blatt 103/104 der Beklagtenakte) wegen Unfallfolgen laut Bescheid der BG ETEM für die Zeit vom 15.11.2010 bis 08.05.2012 der GdB mit 20 festgestellt worden (die BG hatte als Unfallfolge eine endgradige Bewegungseinschränkung im rechten oberen Sprunggelenk nach knöchern fest verheiltem Sprunggelenksbruch und ein chronisches Schmerzsyndrom im Stadium II nach Gebershagen festgestellt). Danach betrage der GdB 10.
Am 15.05.2017 (Blatt 113/116 der Beklagtenakte) beantragte die Klägerin beim LRA die Feststellung des GdB. Zu diesem Antrag gab sie Schmerzen am Fuß, Rückenschmeruzen, psychische Depressivität und Lungen-/Atem-Beschwerden an.
Das LRA zog von der BG ETEM Unterlagen (dazu vgl. Blatt 136/161 der Beklagtenakte) und Befundbeschreibungen von den Hausärzten Dres. K. /B. sowie Dr. K. , Psychiatrische Tagesklinik F. , bei (dazu vgl. Blatt 122/135, 162 der Beklagtenakte).
Der Versorgungsarzt Dr. E. schätzte in seiner Stellungnahme vom 05.07.2017 (Blatt 165/166 der Beklagtenakte) den GdB wegen der bg-lichen Unfallfolgen auf 10.
Mit Bescheid vom 07.07.2017 (Blatt 167/186 der Beklagtenakte) lehnte das LRA die Feststellung des GdB ab, da kein GdB von mindestens 20 festzustellen sei.
Den am 18.07.2017 erhobenen Widerspruch der Klägerin (Blatt 169 der Beklagtenakte), den sie nicht weiter begründete, wies der Beklagte durch das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.2017 (Blatt 174/175 der Beklagtenakte) zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 06.10.2017 beim Sozialgericht (SG) Konstanz Klage erhoben. Sie bedürfe in mehreren Lebensbereichen der Hilfe, da sie wegen ihrer gesundheitlichen Beschwerden nicht schmerzfrei alltägliche Aufgaben erledigen könne. Ihr stehe ein GdB von mindestens 60 zu. Sie könne ihr Bein wegen der Unfallfolgen nicht belasten. Sie habe auch Bandscheibenprobleme und sehr starke Depressionen.
Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. K. hat dem SG am 11.12.2017 (Blatt 27/46 der SG-Akte) geschrieben, es bestehe ein GdB von 10 seit 29.10.2012. Dipl.Psych. Dr. K. , Psychiatrische Tagesklinik F. , hat dem SG mit Brief vom 13.12.2017 (Blatt 47 der SG-Akte) mitgeteilt, es habe sich das Bild einer chronifizierten Schmerzstörung ergeben. Eine einzeltherapeutische Behandlung erfolge nicht. Die Fachärztin für Anästhesie, spezielle Schmerztherapie, Dr. S. hat dem SG am 18.12.2017 (Blatt 48/60 der SG-Akte) geschrieben, in der ihr überlassenen versorgungsärztlichen Stellungnahme fehle die Diagnose eines CRPS. Dr. S. , Facharzt für Orthopädie, hat mit Brief vom 19.12.2017 (Blatt 61/75 der SG-Akte) ausgeführt, es bestünden chronische Sprunggelenksbeschwerden und chronische untere Rückenschmerzen. Er halte den GdB von 10 für gerechtfertigt. Dr. W. von der BG Unfallklinik M. hat dem SG am 21.12.2017 geschrieben (Blatt 76/78 der SG-Akte), die GdB-Bewertungen einem Gutachten zu überlassen.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens beim Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Spezielle Schmerztherapie, Prof. Dr. B ... Dieser hat in seinem Gutachten vom 28.03.2018 (Blatt 85/104 der SG-Akte; Untersuchung der Klägerin am 07.03.2018) ein nozizeptives Schmerzsyndrom bei trimalleolärer Sprunggelenksfraktur rechts am 15.11.2010 (osteosynthetisch versorgt), eine Adipositas, eine tiefe Beinvenentrombose rechts, ein fragliches passageres CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom) Typ I und einen Zustand nach Morphinentzug diagnostiziert. Den GdB aufgrund der chronischen Schmerzsymptomatik mit zusätzlicher belastungsakzentuierter Komponente hat er auf 10 geschätzt.
Die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 14.05.,2018 (Blatt 1107113 der Senatsakte) zu dem Gutachten geäußert. Sie habe wegen des Unfalles ihre Arbeitszeit von 100 % auf 75 % reduziert. Es sei daher nicht zutreffend, wenn der Gutachter die Situation so darstelle, als ob sie ohne Probleme in Vollzeit weiterarbeiten könne. Sie habe wegen der Schmerzen ihre Hobbies aufgeben müssen. Sie könne nicht mehr mit der Familie Bowling und Federball spielen. Auch bestünden Sensibilitätsstörungen und Schmerzen bei Berührung. Sie habe auch die im Januar 2016 geborene Tochter überwiegend zu betreuen, denn ihr Ehemann arbeite im Dreischichtbetrieb. Wenn sie die gesamten Medikamente einnehme, könne sie sich nicht mehr um ihre Tochter aufmerksam kümmern.
Mit Gerichtsbescheid vom 07.06.2019 hat das SG die Klage abgewiesen. Ein GdB von insgesamt 20 sei nicht festzustellen. Im Funktionssystem der Psyche bestehe ein GdB von 10.
Gegen den ihrem Bevollmächtigten am 14.06.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15.07.2019 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Es liege seit einem schweren und komplizierten Arbeitsunfall eine zunehmende Verschlechterung und Verringerung der Leistungsfähigkeit vor. Das SG verkenne, dass wegen des Arbeitsunfalles mittlerweile eine Erwerbsminderungsrente zugesprochen worden sei.
Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 07.06.2019 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 07.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.09.2017 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung seit Antragstellung von mindestens 60 festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte ist der Berufung entgegengetreten und hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Nach Anhörung der Beteiligten hat der Senat mit Beschluss vom 19.09.2019 die Berufung nach § 153 Abs. 5 SGG dem Berichterstatter übertragen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Blatt 20, 21 der Senatsakte).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen
Entscheidungsgründe:
Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden hat (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
Über die Berufung konnte der Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheiden, nachdem das SG mit Gerichtsbescheid vom 07.06.2019 entschieden hatte und die Berufung dem Berichterstatter durch Beschluss des Senates nach § 153 Abs. 5 SGG übertragen worden war. Der Senat hat keine Gründe feststellen können, die eine Entscheidung durch den ganzen Senat erforderlich machen, solche waren auch in der schriftlichen Anhörung von den Beteiligten nicht mitgeteilt worden.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 07.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.09.2017. Diese Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten; die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 20.
Rechtsgrundlage für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX (§ 152 SGB IX) in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I 2016, 3234), da maßgeblicher Zeitpunkt bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz ist, wobei es für laufende Leistungen auf die Sach- und Rechtslage in dem jeweiligen Zeitraum ankommt, für den die Leistungen begehrt werden; das anzuwendende Recht richtet sich nach der materiellen Rechtslage (Keller in: Meyer- Ladewig, SGG, 12. Auflage, § 54 RdNr. 34). Nachdem § 241 Abs. 2 SGB IX lediglich eine (Übergangs-)Vorschrift im Hinblick auf Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz enthält, ist materiell-rechtlich das SGB IX in seiner derzeitigen Fassung anzuwenden.
Nach dessen § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderung solche Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt nach § 2 Abs.1 Satz 2 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, zuvor § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Damit gilt weiterhin die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2009 (BGBl. I, 2412), deren Anlage zu § 2 die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VG) beinhalten. Diese stellen – wie auch die zuvor geltenden Anhaltspunkte (AHP) - auf funktionelle Beeinträchtigungen ab, die im Allgemeinen zunächst nach Funktionssystemen zusammenfassend (dazu vgl. A Nr. 2 Buchst. e) VG) und die hieraus gebildeten Einzel-GdB (vgl. A Nr. 3a) VG) nach § 152 Abs. 3 SGB IX (zuvor: § 69 Abs. 3 SGB IX) anschließend in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen sind. Die Feststellung der jeweiligen Einzel-GdB folgt dabei nicht einzelnen Erkrankungen, sondern den funktionellen Auswirkungen aller derjenigen Erkrankungen, die ein einzelnes Funktionssystem betreffen.
Eine GdB-Feststellung ist nach § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX nur zu treffen, wenn ein Gesamt-GdB von wenigstens 20 vorliegt. Liegt kein Gesamt-GdB von wenigstens 20 vor, besteht kein Anspruch auf Feststellung einer Behinderung.
Die Bemessung des Gesamt-GdB (dazu s. unten) erfolgt nach § 152 Abs. 3 SGB IX (zuvor: § 69 Abs. 3 SGB IX). Danach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktions-beeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Insoweit scheiden dahingehende Rechtsgrundsätze, auch solche, dass ein Einzel-GdB nie mehr als die Hälfte seines Wertes den Gesamt-GdB erhöhen kann, aus. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3 3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft – gleiches gilt für alle Feststellungsstufen des GdB - nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 – oder anderer Werte - fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris). Damit entscheidet nicht die Anzahl einzelner Einzel-GdB oder deren Höhe die Höhe des festzustellenden Gesamt-GdB, sondern der Gesamt-GdB ist durch einen Vergleich der im zu beurteilenden Einzelfall bestehenden Funktionsbehinderungen mit den vom Verordnungsgeber in den VG für die Erreichung einer bestimmten Feststellungsstufe des GdB bestimmten Funktionsbehinderungen – bei Feststellung der Schwerbehinderung ist der Vergleich mit den für einen GdB von 50 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen, bei Feststellung eines GdB von 30 ist der Vergleich mit den für einen GdB von 30 in den VG vorgesehenen Funktionsbehinderungen usw. vorzunehmen – zu bestimmen. Maßgeblich sind damit grds. weder Erkrankungen noch deren Schlüsselung in Diagnosemanualen an sich, sondern ob und wie stark die funktionellen Auswirkungen der tatsächlich vorhandenen bzw. ärztlich objektivierten Erkrankungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) anhand eines abstrakten Bemessungsrahmens (Senatsurteil 26.09.2014 – L 8 SB 5215/13 – juris RdNr. 31) beeinträchtigen. Dies ist – wie dargestellt – anhand eines Vergleichs mit den in den VG gelisteten Fällen z.B. eines GdB von 50 festzustellen. Letztlich handelt es sich bei der GdB-Bewertung nämlich nicht um eine soziale Bewertung von Krankheit und Leid, sondern um eine anhand rechtlicher Rahmenbedingungen vorzunehmende, funktionell ausgerichtete Feststellung.
Der Senat ist nach eigener Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass die der Klägerin vorliegen-den Funktionsbehinderungen in ihrer Gesamtschau und unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit keinen Gesamt-GdB von mindestens 20 rechtfertigen; dies gilt sowohl unter der seit 01.01.2018 anzuwendenden Rechtslage, als auch unter Anwendung der bis 31.12.2017 geltenden Rechtslage des SGB IX.
Vorliegend stellt der Senat anhand der vorhandenen ärztlichen Befunde und Unterlagen, wie auch anhand des Vorbringens der Klägerin fest, dass eine rezidivierende Bronchitis und ein Nikotinabusus bei der Klägerin keine funktionellen Teilhabebehinderungen bedingen, die einen GdB von 10 rechtfertigen.
Das Wirbelsäulenleiden ist bei belastungsabhängigen lumbalen Beschwerden (Blatt 150 der Beklagtenakte) nach B 18.9 VG allenfalls mit einem GdB von 10 zu bewerten. Wesentliche funktionelle Auswirkungen bestehen nicht. Der behandelnde Orthopäde Dr. S. hat ebenfalls einen GdB von 10 angenommen, sodass sich der Senat nicht von stärkeren teilhabebeeinträchtigenden Funktionseinbußen überzeugen konnte.
Die Sprunggelenkserkrankung (Folgen des BG-lich versicherten Unfalles) bedingen im Funktionssystem der Beine nur geringgradige Bewegungsbeeinträchtigungen. B Nr. 18.14 VG sieht dazu folgende Bewertungsvorgaben vor: Versteifung des oberen Sprunggelenks in günstiger Stellung (Plantarflexion um 5° bis 15°) 20 Versteifung des unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung (Mittelstellung) 10 Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung 30 in ungünstiger Stellung 40 Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk geringen Grades 0 mittleren Grades (Heben/Senken 0-0-30) 10 stärkeren Grades 20
Im Hinblick auf diese Bewertungsvorgaben bedingt bei geringen Bewegungseinschränkungen im oberen Sprunggelenk von 20-0-40o, wie sie der behandelnde Orthopäde Dr. S. im Bericht vom 18.07.2017 beschrieben hat, die Sprunggelenksverletzung keinen GdB von mindestens 10. Allenfalls die Schmerzerkrankung erhöht den GdB auf 10, wie Prof. Dr. B. festgestellt hat. Auch der Hausarzt Dr. K. hat den GdB von 10 für zutreffend erachtet. Dr. K. hat, wie Prof. Dr. B. , eine chronifizierte Schmerzstörung angenommen; mit der Diagnose eines CRPS, also eines regionalen Schmerzsyndroms, haben sich Dr. S. und Dr. S. dieser Diagnostik angeschlossen. Auch die Ärzte der BG Klinik M. sehen eine chronische Schmerzerkrankung.
Prof. Dr. B. hat bei seiner Untersuchung der Klägerin ein nozizeptives Schmerzsyndrom bei trimalleolärer Sprunggelenksfraktur rechts am 15.11.2010 (osteosynthetisch versorgt), ein fragliches passageres CRPS (komplexes regionales Schmerzsyndrom) Typ I und einen Zustand nach Morphinentzug diagnostiziert. Den GdB aufgrund der chronischen Schmerzsymptomatik mit zusätzlicher belastungsakzentuierter Komponente hat er auf 10 geschätzt. Prof. Dr. B. hat insoweit auf den Tagesablauf, die Freizeitaktivitäten und die berufliche Leistungsfähigkeit, die auch wegen des Unfalles reduziert worden sei – die Klägerin ist zu 75 % der Normarbeitszeit als Teamleitung für Projektlogistik mit Weisungsbefugnis über 5 Mitarbeiter tätig (schmerzbedingte Fehltage sind nicht aufgetreten) – und die fehlende Notwendigkeit zur Einnahme von Schmerzmitteln oder psychotropen Substanzen verwiesen. Daraus kann der Senat mit Prof. Dr. B. weder depressive Symptome bzw. Verhaltensweise eruieren (eine antidepressive Therapie wurde zu keinem Zeitpunkt durchgeführt) noch auf eine stärker behindernde Wirkung der Schmerzen schließen. Damit kann der GdB sowohl im Hinblick auf die Bewertungsvorgaben nach B 18.14 VG für das Funktionssystem der beine noch im Hinblick auf die Bewertungsvorgaben nach B 3.7 VG für eine psychische Erkrankung insoweit lediglich mit 10 angenommen werden.
Weitere - bisher nicht berücksichtigte - GdB-relevante Funktionsbehinderungen, die einen Einzel- bzw. Teil-GdB von wenigstens 10 bedingen, wurden weder geltend gemacht noch konnte der Senat solche feststellen.
Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben mit dem vom SG eingeholten Gutachten dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 30, 40 oder 50 fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris).
Einen Antrag nach § 109 SGG hat die Klägerin im Berufungsverfahren nicht gestellt.
Nach Überzeugung des Senats ist der Gesamt-GdB unter integrierender Bewertung der Funktionsbehinderungen und unter Beachtung ihrer gegenseitigen Auswirkungen der Gesamt-GdB zu bilden aus Einzel-GdB-Werten von allenfalls 10. Da kein Fall vorliegt, in denen ausnahmsweise GdB-Werte von 10 erhöhend wirken, konnte der Senat einen GdB von 20 und mehr nicht feststellen.
Insgesamt ist der Senat unter Berücksichtigung eines Vergleichs der bei der Klägerin insgesamt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren gegenseitigen Auswirkungen einerseits und derjenigen Fälle, für die die VG einen GdB von 20 vorsehen andererseits, zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nicht entsprechend schwer funktionell in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist.
Der Senat schließt sich daher nach eigener Prüfung der angefochtenen Entscheidung des SG vollumfänglich an, weist die Berufung aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück und sieht von einer weiteren Darstellung der Gründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Die Berufung war daher in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Von der Androhung von Kosten nach § 192 Abs. 1 SGG hat der Senat nach Ermessen abgesehen, auch wenn die Fortführung eines Verfahrens missbräuchlich erscheint, wenn keiner der behandelnden Ärzte das Prozessziel auch nur im Ansatz unterstützt.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
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