S 3 U 13/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 13/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 U 5/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 21.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.02.2012 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass das Ereignis am 16.10.2008 ein Arbeitsunfall ist.

Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls.

Nach der Unfallanzeige des Klinikums der Johannes Gutenberg Universität Mainz vom 06.11.2008 ist der Kläger, welcher als Laborleiter im C. beschäftigt war, am 16.10.2008 gegen 10:30 Uhr vom Schreibtisch in seinem Dienstzimmer, wo er Eingaben am PC getätigt hat, aufgestanden, um ins Labor zu gehen. Nach wenigen Schritten sei ihm schwindelig geworden. Der Kläger habe sich sodann mit der rechten Hand auf einem rollbaren Schubladencontainer abgestützt, welcher weggerollt sei, wodurch der Kläger auf den Boden stürzte. Dabei sei das Brillenglas des Klägers gebrochen und das linke Auge verletzt worden. An den Aufprall könne sich der Kläger nicht mehr erinnern.

Noch am Unfalltag stellte sich der Kläger in der Augenklinik des Universitätsklinikums Mainz bei Dr. D. vor. Im Augenarztbericht vom 19.11.2008 wird zum Unfallhergang ausgeführt, dass der Kläger bei der Arbeit ohnmächtig geworden sei. Dr. D. stellte am linken Auge des Klägers eine perforierende Hornhaut- und Linsenverletzung, multiple Hornhautschnittwunden sowie einen Riss der vorderen Linsenkapsel fest.

Es erfolgte eine Primärversorgung des linken Auges mit einer Hornhautnaht und Linsenabsaugung. Der Kläger wurde am 22.10.2008 aus der Klinik entlassen. In der Epikrise des Klinikums der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vom 22.10.2008 wird berichtet, dass der Kläger angegeben habe, während seiner Arbeit im Labor bewusstlos geworden und infolge dessen gestürzt zu sein. Zudem wurde aufgeführt, dass die Abklärung durch die Neurologen der Klinik den Verdacht ergeben habe, dass die Synkope im Rahmen einer orthostatischen Dysregulation ohne Hinweis auf eine Epilepsie aufgetreten sei. Auch die kardiologische Vorstellung habe den Verdacht auf eine orthostatische Synkope ergeben.

Mit Schreiben vom 08.04.2010 beantragte der Kläger die Gewährung einer Unfallrente. Daraufhin wurde Prof. Dr. E. mit der Erstattung eines augenärztlichen Gutachtens (Ersten Rentengutachten) beauftragt, welches dieser unter dem 24.09.2010 erstattete.

Danach hat der Kläger zur Entstehung der Verletzung und zum Unfallhergang mitgeteilt, dass er im Labor des Arbeitgebers nach dem Aufstehen aus dem Sitzen eine Schwindelsymptomatik wahrgenommen habe. Er habe sich sodann an einem Rollcontainer abgestützt, dieser sei weggerollt, woraufhin er gestürzt sei. Er sei mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen, wodurch ein Brillenglas zerbrochen sei. Im Rahmen der Untersuchung habe der Kläger über eine schlechte Sehschärfe am linken Auge geklagt. Auch fehle das räumliche Sehen. Bedingt dadurch sei es ihm nicht mehr möglich gewesen, seine Arbeitsstelle im Labor des C. auszuüben. Er arbeite nun nicht mehr im erlernten Beruf, sondern administrativ in einer Forschungseinrichtung der F Universität in A-Stadt. Prof. Dr. E. führte weiter aus, dass beim Kläger unfallabhängig die Notwendigkeit einer Hornhautransplantation (perforierende Keratoplastik) links bestanden habe. Am linken Auge bestehe eine Linsenlosigkeit (Aphakie). Bedingt durch diese Unfallfolgen bestehe ein deutlich reduziertes Sehvermögen auf dem linken Auge. Zudem fehle das räumliche Sehen (Stereosehen). Der Sachverständige bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund der Verletzungsfolgen mit 25 v.H.

Mit Bescheid vom 21.12.2011 lehnte die Beklagte das Unfallereignis vom 16.10.2008 als Arbeitsunfall ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass die Ursache für den bei der Arbeit aufgetretenen Schwindel allein in der körpereigenen Konstitution des Klägers liege. Dem Aufstehen vom Stuhl könne keine besondere betriebliche Bedeutung beigemessen werden. Ebenso sei keine Betriebseinrichtung die rechtlich wesentliche Ursache für die Art und Schwere der klägerischen Verletzung. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger auch ohne den rollbaren Schubladencontainer zu Boden gestürzt und die gleiche Verletzung auch ohne die Betriebseinrichtung eingetreten wäre. Eine rechtlich wesentliche Ursache könne daher weder in der versicherten Tätigkeit noch in einer Betriebseinrichtung gesehen werden.

Dagegen legte der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 03.01.2012 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass dem Kläger nicht aufgrund körpereigener Konstitution schwindelig geworden sei, sondern Ursache dafür die äußeren Arbeitsumstände an diesem Tag gewesen seien. Es habe eine aktuelle Umzugssituation am Arbeitsplatz geherrscht, die zur Konsequenz gehabt hatte, dass der Kläger zum Teil Arbeiten eines ausgefallenen Kollegen habe übernehmen müssen und zudem ständig den Arbeitsort habe wechseln müssen. Auch habe eine sehr hohe Arbeitsdichte geherrscht. Der Unfall habe sich ereignet, als der Kläger vom Schreibtisch ins Labor habe wechseln wollen. Der Kläger sei vom Schreibtisch aufgestanden und zwei Schritte in Richtung Labor gegangen. Aufgrund der Hektik sei ihm schummerig geworden. Er habe noch versucht sich am nicht arretierten Container am Schreibtisch festzuhalten, welcher jedoch weggerollt sei, sodass der Kläger stürzte. Ein Arbeitsunfall liege vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.02.2012 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die Annahme des Klägers, die Hektik habe den Schwindel ausgelöst, sei nicht nachvollziehbar. Bei leitenden Angestellten komme es immer wieder zu Stresssituationen, die über das alltägliche Maß einer Belastung hinausgingen. Eine außergewöhnliche körperliche Belastung habe nicht bestanden. Der Sturz auf den Boden sei zwar das "äußere Ereignis", allerdings sei es dazu durch den Schwindel aus innerer Ursache gekommen, weshalb die innere Beziehung zur Arbeitstätigkeit fehle. Ein Arbeitsunfall liege nicht vor.

Dagegen hat der Kläger am 29.02.2012 Klage erhoben und im Wesentlichen den Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.

Er beantragt,
den Bescheid vom 21.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.02.2012 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis am 16.10.2008 ein Arbeitsunfall ist.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie erachtet ihre Entscheidung für rechtmäßig.

Im Rahmen der Ermittlungen von Amtswegen hat das Gericht den Kläger aufgefordert mitzuteilen, ob er vor dem Ereignis am 16.10.2008 oder danach vergleichbare Synkopen oder Schwindelanfälle erlebt hat. Unter dem 31.05.2012 teilte der Kläger mit, dass er weder vor noch nach dem Unfall eine Synkope oder sonstige Schwindelanfälle erlebt habe. Auch sämtliche nach dem Ereignis durchgeführte medizinische Untersuchungen hätten diesbezüglich keine Ursachen aufdecken können.

Aus einem Befundbericht der Klinik und Poliklinik für Neurologie vom 21.01.2013, wo sich der Kläger einmal konsiliarisch am 22.10.2008 vorstellte, geht hervor, dass der Neurostatus unauffällig gewesen sei und ein EEG keinen pathologischen Befund ergeben habe. Man sei am ehesten von einer Synkope ausgegangen. Ein Anhaltspunkt für eine Epilepsie habe sich nicht ergeben.

Aus einem Befundbericht des Herz- und Gefäßzentrums Marburg vom 14.06.2012 ergibt sich, dass der Kläger am 29.10.2008 untersucht worden ist. Dabei ist vom 27.10.2008 bis zum 28.10.2008 eine Langzeit-EKG-Registrierung und vom 28.10.2008 bis zum 29.10.2008 eine Langzeitblutdruckmessung durchgeführt worden. Am 29.10.2009 erfolgte zudem eine Kipp-Tischuntersuchung. Infolge der Untersuchungen diagnostizierte Dr. G. eine Grenzwerthypertonie. Eine kardiale Grunderkrankung habe nicht festgestellt werden können. Die Belastungsergometrie sei unauffällig gewesen (bis 225 Watt, bei einer maximalen Herzfrequenz von 126/min und maximalen Blutdruck von 180/90; keine Herzrhythmusstörungen). Der Kipp-Tisch-Test habe ergeben, dass eine Synkope oder ein Schwindel nicht auslösbar waren.

Aus einer vom Kläger eingereichten Bescheinigung von Frau H., der Hausärztin des Klägers, vom 19.06.2012 ergibt sich, dass sie den Kläger seit 2003 betreut und anhand ihrer Anamnese und der ihr vorliegenden, routinemäßig erhobenen Laborbefunde, es für den Schwindelanfall des Klägers am 16.10.2008 keine medizinisch begründbaren Argumente, insbesondere auch im Hinblick auf das Herz-Kreislaufsystem, gebe. Ferner hätten die weitergehenden medizinischen Untersuchungen wie EEG, Belastungs- und Langzeit-EKG sowie Herzultraschall der Fachkollegen nach dem Ereignis keine körperlichen Anhaltspunkte liefern können. Frau H. berichtete unter dem 20.06.2012 zudem, dass der Kläger sich im Jahr 2007 bei ihr vorgestellt und damals über sehr viel Stress an der Arbeit berichtet habe. Er habe angegeben 10-12 Stunden am Tag zu arbeiten. Der Kläger habe jedoch weder über Herzrhythmusstörungen noch über Schwindelattacken geklagt. Die klinischen Untersuchungen im Rahmen des Check up´s im Jahr 2007 seien bis auf ein Wirbelsäulenleiden medizinisch unauffällig gewesen.

Die Beklagte führte nach Auswertung der medizinischen Unterlagen aus, dass nachgewiesen sei, dass der Sturz durch eine körpereigene Ursache (Schwindel, Ohnmacht) auftreten sei. Zudem könne es viele Anlässe für Stürze geben, arbeitsbedingte und nicht arbeitsbedingte. Hier sei sogar denkbar, dass es für den Schwindel keine Erklärung gebe. Auch einem gesunden Menschen könne jederzeit schwindelig werden aufgrund von Positionswechseln, Erfahren eines dramatischen oder freudigen Ereignisses, Hyperventilation etc. Ein Bezug zur Arbeitstätigkeit könne daher nicht hergestellt werden. Bekanntlich führe ein unerklärlicher Sturz in "nur" zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht notwendig zur Anerkennung des Vorgangs als Arbeitsunfall: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSGE 19, 52) gebe es keine Rechtsvermutung, wonach ein Versicherter, welcher tot auf der Betriebsstätte aufgefunden werde und bei welchem die Todesursache nicht zu ermitteln sei, einem Arbeitsunfall erlegen sei. Daraus folge, dass es auch keine Rechtsvermutung gebe, dass jemand der mit der beim Kläger eingetreten Verletzung aufgefunden wurde, einen Arbeitsunfall erlitten habe.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 21.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.02.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass das Unfallereignis des Klägers vom 16.10.2008 ein Arbeitsunfall gewesen ist.

Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; Satz 1). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2).

Für einen Arbeitsunfall eines Versicherten ist danach erforderlich, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Bedingung für die Feststellung eines Arbeitsunfalls (vgl. BSG, Urteil vom 4. September 2007 - B 2 U 24/06 R, Juris).

Diese Voraussetzungen sind gegeben. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt als Laborleiter des C. C-Stadt angestellt und damit nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert. Durch den Sturz hat der Kläger einen Unfall erlitten. Denn das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis liegt nicht nur bei einem besonders ungewöhnlichen Geschehen, sondern auch bei einem alltäglichen Vorgang, wie dem Stolpern über die eigenen Füße oder – wie hier – dem Aufschlagen auf den Boden vor, weil hierdurch ein Teil der Außenwelt auf den Körper einwirkt (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 - B 2 U 23/05 R, Juris; BSG, Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R, Juris). Dies ist insoweit zwischen den Beteiligten unstreitig. Auch die Verrichtung des Klägers zur Zeit des Unfallereignisses – das Aufstehen vom Schreibtisch im Dienstzimmer, nachdem er Daten im PC eingegeben hatte, um ins Labor zugehen - gehörte zur versicherten Tätigkeit und stand daher mit dieser in einem sachlichen/inneren Zusammenhang. Infolge des Sturzes hat der Kläger zudem eine Verletzung des linken Auges und damit einen Gesundheitserstschaden erlitten.

Schließlich liegt auch die Unfallkausalität vor. Der Begriff der Unfallkausalität kennzeichnet die Kausalität zwischen der mit der versicherten Tätigkeit im inneren Zusammenhang stehenden Verrichtung zur Zeit des Unfalls und dem Unfallereignis.

Insoweit gilt ebenso wie für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden die Theorie der wesentlichen Bedingung (BSG, Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 11/04 R, Juris). Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie, nach der jedes Ereignis Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist allerdings zwischen Ursachen zu unterscheiden, denen der Erfolg zugerechnet wird und die für den Erfolg rechtlich unerheblich sind. Als kausal und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R, Juris).

Nach der Rechtsprechung des Bundesozialgerichts ist die erforderliche Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis (Unfallkausalität) bereits dann gegeben, wenn außer dem kausalen Anknüpfungspunkt der versicherten Tätigkeit keine anderen Tatsachen feststehen, die als Konkurrenzursachen wirksam geworden sein könnten (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 23/05 R, Juris; BSG, Urteil vom 17.°Februar 2009 – B 2 U 18/07 R, Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.04.2012 – L 2 U 224/07, Juris). Bei gegebener Ursächlichkeit der versicherten Tätigkeit für das Unfallereignis im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne (Conditio-sine-qua non) wird die Unfallkausalität somit vermutet (vgl. Keller in Hauck/Noftz, Stand 1/13, § 8 SGB VII Rn. 342). Diese Vermutung wird nur erschüttert, wenn ein Konkurrenzfaktor aus dem persönlichen Risikobereich des Versicherten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich feststeht, welcher zudem das Unfallereignis wahrscheinlich im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne (mit)-verursacht hat. Fehlt es jedoch an einer solchen Konkurrenzursache ist die versicherte Tätigkeit immer wesentliche Ursache des Unfallereignisses, eine Abwägung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung entfällt (vgl. Keller in Hauck/Noftz, Stand 1/13, § 8 SGB VII Rn. 342).

Diese vom Bundesozialgericht angenommene Vermutung folgt aus dem Schutzzweck des Unfallversicherungsrechts. Ohne die Vermutung wäre mit erheblichen, dem Normzweck entgegenstehenden Beweisschwierigkeiten für den Versicherten zu rechnen, die dem Umstand nicht gerecht würden, dass die versicherte Tätigkeit bei gegebener Ursächlichkeit im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne in aller Regel auch wesentliche Ursache ist (vgl. Keller in Hauck/Noftz, Stand 1/13, § 8 SGB VII Rn. 342). Insofern hat das Bundessozialgericht zutreffend ausgeführt, dass oft kein Grund zu erkennen ist, warum sich der Unfall gerade jetzt und so zugetragen hat, z.B. bei dem bekannten "Stolpern über die eigenen Füße". Daher sei die für die Annahme eines Arbeitsunfalls erforderliche Unfallkausalität stets gegeben, wenn außer dem kausalen Anknüpfungspunkt der versicherten Tätigkeit keine anderen Tatsachen festgestellt sind, die als Konkurrenzursache wirksam geworden sein könnten. Jede andere Betrachtung würde dem Versicherten die objektive Beweislast dafür, auferlegen, warum es gerade zu diesem Zeitpunkt aufgrund von Ursachen, die der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sind, zu dem Unfall gekommen ist und damit den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung und die mit ihm verfolgten Ziele des sozialen Schutzes und des Betriebsfriedens in vielen Fällen leer laufen lassen (BSG, Urteil vom 24. Februar 1988 – B 2 RU 30/87, Juris; BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 23/05 R, Juris).

Lässt sich hingegen ein relevanter Konkurrenzfaktor aus dem persönlichen Risikobereich des Versicherten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Vollbeweis), welcher zudem ursächlich für das Unfallereignis im naturwissenschaftlichen-philosophischen Sinne war, feststellen, ist eine Abwägung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung erforderlich.

Typische Fallgestaltungen, in denen die Unfallkausalität näherer Erörterung bedarf, sind unter anderem Fälle einer nachgewiesenen inneren Ursache, einer gemischten Tätigkeit, einer unerheblichen Unterbrechung oder einer eingebrachten Gefahr. Bei diesen Fallgestaltungen kann gerade nicht ausgeschlossen werden, dass neben der im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung zur Zeit des Unfalls eine weitere, nicht versicherten Zwecken zuzurechnende Ursache hinzutritt (BSG, Urteil vom 17. Februar 2009 – B 2 U 18/07 R , Juris.

Jedoch nur wenn eine solche nachgewiesene konkurrierende Ursache auch neben der versicherten Ursache als naturwissenschaftliche Bedingung für das Unfallereignis wirksam geworden ist, ist zu entscheiden, welche der Ursachen rechtserheblich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ist (BSG vom 30. Januar 2007 - B 2 U 23/05 R , Juris; BSG, Urteil vom 17. Februar 2009 – B 2 U 18/07 R, Juris). Erst dann ist in einem zweiten Schritt wertend zu entscheiden, ob die versicherte Ursache wesentlich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ist (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.04.2012 – L 2 U 224/07, Juris). Für den Ausschluss der versicherten Tätigkeit als wesentliche Ursache für das Unfallereignis reicht es daher nicht aus, festzustellen, dass der Versicherte eine als Konkurrenzursache grundsätzlich in Frage kommende Grunderkrankung als innere Ursache in sich trägt und damit ein konkurrierender körpereigener Umstand latent und abstrakt vorliegt. Feststehen muss vielmehr auch, dass diese innere Ursache tatsächlich kausal geworden ist, d.h. einen Ursachenbeitrag gesetzt und das konkrete Unfallereignis (zumindest mit-)verursacht hat.

Ein Schwindel aus innerer Ursache, welcher infolge einer Grunderkrankung des Klägers an der Arbeit aufgetreten ist, lässt sich ebenso wenig nachweisen, wie das Vorliegen einer anderen Konkurrenzursache.

Insoweit ist zu beachten, dass für die Feststellung eines Arbeitsunfalls der volle Beweis (an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit) für das Vorliegen sowohl einer versicherten als auch einer inneren nicht versicherten Ursache geführt sein muss (BSG, Urteil vom 7. September 2004 – B 2 U 34/03 R, Juris) und lediglich für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R, Juris).

Aus den medizinischen Unterlagen lassen sich aber keine Hinweise dafür entnehmen, dass bei dem Kläger vor dem Unfallereignis am 16.10.2008 eine Neigung bestand aus innerer Ursache (z.B. Kreislaufstörungen) an Schwindelanfällen zu leiden oder bewusstlos zu werden.

Die Annahme der Beklagten, ein Schwindel sei per se Folge einer inneren Ursache, teilt die Kammer nicht. Der vom Kläger angegebene Schwindel oder das Unsicherheitsgefühl unmittelbar vor dem Sturz am Unfalltag kann sowohl versicherte (Einatmen chemiekalischer Dämpfe, hektische Arbeitsumstände etc.) als auch unversicherte (arterielle Hypotonie; orthostatische Dysregulation etc.) Ursachen haben und stellt für sich lediglich ein Symptom, wie z.B. auch Herzklopfen, Schweißausbrüche oder Übelkeit dar. Um jedoch eine innere Ursache annehmen zu können, welche zudem als ursächlich für den Erfolg angesehen werden kann, müsste eine Grunderkrankung beim Kläger im Vollbeweis gesichert sein, welche zu dem beschriebenen Schwindelgefühl oder einer Bewusstlosigkeit des Klägers führen kann. Eine solche Erkrankung wäre als innere Ursache und somit als Konkurrenzursache bei der Frage der Unfallkausalität zu berücksichtigen.

Eine derartige Erkrankung des Klägers ist jedoch weder nach dem Unfallereignis noch davor durch Ärzte festgestellt bzw. dokumentiert worden. Der Kläger litt zum Unfallzeitpunkt weder unter einer Epilepsie noch an Kreislauf- oder Herzproblemen. Die zeitnah zum Unfallereignis durchgeführten Untersuchungen (Langzeit-EKG, Belastungsergometrie, Langzeitblutdruckmessung und der Kipp-Tisch-Test) ergaben keinen pathologischen Befund. Auch im Jahr 2007 hat ein bei der Hausärztin durchgeführter Check-up keine Hinweise auf eine solche Grunderkrankung ergeben. Im Rahmen der Untersuchung am 22.10.2008 in der Neurologie und Kardiologie wurde zudem lediglich der Verdacht einer orthostatische Dysregulation gestellt. In den folgenden Untersuchungen konnte dieser allerdings nicht bestätigt werden. Im Gegenteil, der am 29.10.2009 durchgeführte Kipp-Tisch-Test war unauffällig. Es waren weder ein Schwindel noch eine Synkope beim Kläger auslösbar. Auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger glaubhaft erklärt, dass er vor und nach dem Unfallereignis keine weitere vergleichbare Situation erlebt hat.

Mangels nachgewiesener Konkurrenzursache (inneren Ursache) im Vollbeweis, hat eine Prüfung der wesentlichen Verursachung nach der Theorie der wesentlichen Bedingungen nicht zu erfolgen.

Der Einwand der Beklagten, dass im vorliegenden Fall ggf. nicht aufzuklären sei, weshalb dem Kläger schwindelig geworden bzw. er gestürzt sei, da einer Person aus vielen körpereigenen Gründen schwindelig werden kann und dies nicht zwingend in der versicherten Tätigkeit zu sehen ist, ist zwar zutreffend, der Rückschluss der Beklagten daher liege keine Unfallkausalität vor, hingegen nicht. Denn der Kläger muss nicht beweisen, dass bei ihm keine innere Ursache vorgelegen hat. Die Nichterweislichkeit einer inneren Ursache geht vielmehr – wie auch im vorliegenden Fall – zu Lasten der Beklagten. Dass eine innere Ursache der Grund für den Sturz und den Schwindel war, ist reine Spekulation. Hypothetische Ereignisse kommen als Ursachen jedoch nicht in Betracht, denn die ursächliche Verknüpfung (Unfallkausalität) ist allein anhand der gegebenen Tatsachen zu beurteilen (BSG, Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R, Juris).

Da im vorliegenden Fall eine Ursächlichkeit der versicherten Tätigkeit für das Unfallereignis im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne (Conditio-sine-qua non) besteht, weil außer dem kausalen Anknüpfungspunkt der versicherten Tätigkeit gerade keine anderen Tatsachen im Vollbeweis feststellbar waren, welche als Konkurrenzursachen wirksam geworden sein könnten und die versicherte Tätigkeit – das Aufstehen, um ins Labor zu gehen – nicht hinweg gedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele, ist die Unfallkausalität zu bejahen.

In der Kommentarliteratur wird dazu auch folgender Beispielsfall beschrieben: Der Versicherte stürzt bei seiner Arbeit zu Boden und zieht sich eine Kopfverletzung zu. Die Ursächlichkeit des Unfallereignisses im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne ist gegeben, weil es zu der Verletzung mit identischen Folgen zu diesem Zeitpunkt nicht gekommen wäre, wenn sich der Versicherte z.B. zuhause im Bett befunden hätte. Da nicht festgestellt werden konnte, dass der Sturz im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne auch auf eine nachgewiesene Ursache aus dem persönlichen Risikobereich (z.B. körpereigene Ursache) zurückzuführen ist, ist von der Unfallkausalität auszugehen (vgl. Keller in Hauck/Noftz, Stand 1/13, § 8 SGB VII Rn.342). Dieses Beispiel ist auf den vorliegenden Fall übertragbar, denn auch beim Kläger hat sich keine medizinische Erklärung in Form einer inneren Ursache (Konkurrenzursache) für den Schwindelanfall oder eine Bewusstlosigkeit finden lassen.

Soweit die Beklagte sich auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 1963 (BSG, Urteil vom 29.03.1963 – 2 RU 75/61, Juris) beruft, wonach es bei Unklarheit darüber, was den Tod des Klägers verursacht hat, keine Rechtsvermutung gebe, dass die versicherte Tätigkeit die Ursache gewesen ist und somit auch im vorliegenden Fall keine Rechtsvermutung bestehen könne, wonach der Kläger mit den am Arbeitsplatz erlittenen Verletzungen einen Arbeitsunfall erlitten habe, steht diese Rechtsansicht nicht im Einklang mit der aktuellen ständigen Rechtsprechung des Bundesozialgerichts. Denn danach würde im Ergebnis dem Versicherten die objektive Beweislast aufgebürdet, dass die versicherte Tätigkeit die Ursache für das Unfallereignis gewesen ist.

Nach der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung, welche die Kammer für zutreffend erachtet und ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat, trägt der Versicherte jedoch nicht (mehr) die objektive Beweislast dafür, dass die versicherte Tätigkeit die wesentliche Ursache für das Unfallereignis gewesen ist, sofern sich keine Konkurrenzursachen feststellten lassen. Die Unfallkausalität ist vielmehr bereits zu bejahen, wenn außer dem kausalen Anknüpfungspunkt der versicherten Tätigkeit keine anderen Tatsachen festgestellt sind, die als Konkurrenzursache wirksam geworden sein könnten (BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 23/05 R, Juris; BSG, Urteil vom 17. Februar 2009 – B 2 U 18/07 R –, Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.04.2012 – L 2 u 224/07, Juris). Diese Entscheidung hat das BSG bewusst in mehreren Entscheidungen getroffen und mit dem Schutzzweck des Unfallversicherungsrechts nachvollziehbar begründet. Denn jede andere Betrachtung würde dem Versicherten die objektive Beweislast dafür auferlegen, warum es gerade zu diesem Zeitpunkt aufgrund von Ursachen, die der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sind, zu dem Unfall gekommen ist und damit den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung und die mit ihm verfolgten Ziele des sozialen Schutzes und Betriebsfriedens in vielen Fällen leer laufen lassen. (BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 23/05 R, Juris Rn. 15 f.).

Da folglich auch die Unfallkausalität gegeben ist, sind die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 SGB VII erfüllt. Der Bescheid der Beklagten war aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis am 16.10.2008 ein Arbeitsunfall ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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