L 9 P 29/19 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 9 P 29/19 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zu den wohnumfeldverbessernden Maßnahmen i. S. v. § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI kann auch der Umzug in ein neu errichtetes Wohnhaus mit behindertengerecht ausgestattetem Bad gehören. Dann zählen auch die Mehrkosten für die behindertengerechte Errichtung des Bades zu den Kosten für die wohnumfeldverbessernde Maßnahme.
2. Sind die Mehrkosten für die wohnumfeldverbessernde Maßnahme bereits verauslagt worden, fehlt es für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG an einem Anordnungsgrund, da ein solcher grundsätzlich ausscheidet, soweit Leistungen für die Vergangenheit begehrt werden.
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten ist, die behinderungsbedingten Mehraufwendungen bei der (bereits erfolgten) Neuerrichtung eines Bades in einem ebenfalls neu errichteten Wohnhaus als wohnumfeldverbessernde Maßnahme zu bezuschussen.

Der 1923 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin Mitglied in der sozialen Pflegeversicherung und bezieht aus dieser Pflegeleistungen. Er leidet unter zahlreichen Erkrankungen und Behinderungen. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B anerkannt.

Am 15.09.2015 beantragte er bei der Antragsgegnerin die Gewährung von Zuschüssen zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen und teilte in diesem Zusammenhang mit, er beabsichtigte, von seinem bisherigen Wohnort in X ... nach A ... um- und dort - zusammen mit seinem Sohn - in ein noch fertigzustellendes behindertengerechtes Wohnhaus nebst behindertengerecht ausgestattetem Bad einzuziehen. Er beantrage daher Zuschüsse zu den Umzugskosten und den Mehrkosten für die behindertengerechte Ausstattung des Bades. Nach Einholung von Stellungnahmen des Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) lehnte die Antragsgegnerin die beantragten Zuschüsse mit Bescheiden vom 14.10.2015 (Umzugskosten) und 10.12.2015 (Kosten Badneubau) mit der Begründung ab, die Maßnahmen seien aus pflegerischen Gründen nicht erforderlich, da die Pflege in der bisherigen Wohnung in X ... sichergestellt sei. Auf die hiergegen am 03.01.2016 beim Sozialgericht (SG) W ... erhobene Klage (S 16 P 4805/15) wies das Gericht in einem am 08.04.2017 durchgeführten Erörterungstermin darauf hin, dass der Umzug nach A ... aus pflegerischen Gründen erforderlich sei, da nach den Angaben des Antragstellers und seines Sohnes dort weitere Angehörige zur Durchführung der erforderlichen häuslichen Pflege zur Verfügung stünden. Beim Neubau eines behindertengerechten Bades handele es sich jedoch seiner Ansicht nach nicht um eine nach § 40 Abs. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) bezuschussungsfähige wohnumfeldverbessernde Maßnahme. Daraufhin schlossen die Beteiligten zur einvernehmlichen Erledigung des Rechtsstreits einen Vergleich, in welchem sich die Antragsgegnerin verpflichtete, bei fortbestehendem Bezug von Pflegeleistungen seitens des Antragstellers die Kosten seines Umzugs nach A ... gem. § 40 Abs. 4 SGB XI zu bezuschussen. In Ausführung dieses gerichtlichen Vergleichs bewilligte ihm die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 24.05.2016 die Beteiligung an den Umzugskosten nach A ... bis zu einem Betrag von maximal 4.000,00 EUR. Sie wies zugleich darauf hin, dass bei künftig im neuen Wohnumfeld notwendig werdenden Umbaumaßnahmen diese voraussichtlich nur in dem Umfang bezuschusst werden könnten, in welchem dieser Höchstbetrag durch den Umzug noch nicht ausgeschöpft sei. Mit Schreiben vom 20.12.2016 informierte die Antragsgegnerin den Antragsteller darüber, dass sie einen Erstattungsbetrag für die Umzugskosten von 1.999,20 EUR auf sein Bankkonto überwiesen habe.

Am 20.01.2017 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Auszahlung des aus dem gerichtlichen Vergleich noch ausstehenden Differenzbetrags von 2.000,80 EUR für die Mehrkosten bei der behindertengerechten Errichtung des Bades. Nachdem die Antragsgegnerin Stellungnahmen vom SMD vom 23.02.2017 und 06.04.2017 beigezogen hatte, lehnte sie den erneuten Antrag mit Bescheid vom 10.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2017 mit der Begründung ab, der SMD habe eingeschätzt, dass die Wohnsituation in X ... pflegeadäquat gewesen sei und der aufwendige Badumbau in der neuen Wohnung nicht als pflegeerleichternd betrachtet werden könne. Ergänzend wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass es sich auch nach der Auffassung des SG W ... beim Badneubau nicht um eine nach § 40 Abs. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) bezuschussungsfähige wohnumfeldverbessernde Maßnahme handele (bzw. - nach Fertigstellung des Hauses in A ... und Umzugs des Antragstellers Mitte 2017 - gehandelt habe).

Die hiergegen am 19.09.2017 erhobene Klage hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) mit Urteil vom 05.04.2018, dem Antragsteller zugestellt am 19.05.2018, abgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt:

"Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung des beantragten Zuschusses nach § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI in der ab dem 01.01.2015 geltenden Fassung. Die Norm ist als Ermessensnorm ausgestaltet. Ein solches war jedoch nicht zu prüfen, da es bereits an den Tatbestandsvoraussetzungen des § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI mangelt. Voraussetzung für die Bezuschussung von Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes in Form von technischen Hilfen oder finanziellen Zuschüssen ist, wenn hierdurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbständige Lebensführung der versicherten Person wieder hergestellt wird. Insoweit geht die Kammer in Übereinstimmung mit der Beklagten davon aus, dass auf das individuelle Wohnumfeld des Versicherten bei Antragstellung abzustellen ist. In diesem individuellen Wohnumfeld müssen die entsprechend subventionierten Maßnahmen erforderlich sein. Der Kläger hat jedoch bei der Beantragung für sein früheres individuelles Wohnumfeld in X ... keine Maßnahmen beantragt. Vielmehr wollte er für ein zukünftiges Wohnumfeld, das zum damaligen Zeitpunkt mangels Baues noch nicht bestand, die entsprechenden Mehrkosten bei der Erstellung erhalten. Dabei sollte nach den Darstellungen in der mündlichen Verhandlung das zukünftig zu errichtende Haus der Pflegeperson gehören und der Kläger lediglich einen Nießbrauch erhalten. Teile der behindertengerechten Ausstattung waren zudem darauf ausgerichtet, der drohenden Erblindung des Sohnes Rechnung zu tragen. Solche Kosten sieht die Kammer nicht als Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes an.

Darüber hinaus steht aus Sicht der Kammer auch der vor dem Sozialgericht W ... geschlossene Vergleich entgegen. Der Vergleich beinhaltete die Zahlung von Umzugskosten in eine zum Zeitpunkt des Umzuges behindertengerecht ausgestattete Wohnung und dem weiteren Ziel, dass dort noch ein weiterer Sohn des Klägers mit seiner Familie im Bedarfsfalle die Pflege übernehmen könnte. Gleichzeitig war in diesem Vergleich auch ein Verzicht auf Zuschüsse zu den weiteren streitgegenständlichen Umbaumaßnahmen enthalten, denn beide Streitgegenstände waren Teil des Verfahrens. Da lediglich ein Teil des Klagegegenstandes im Vergleich gewährt wurde und im Übrigen das Verfahren für erledigt erklärt wurde, ist de facto eine Verzichtserklärung, bzw. eine Klagerücknahme hinsichtlich der Umbaukosten erfolgt. Der Prozessvergleich ist einerseits Prozesshandlung und andererseits zugleich, sofern er Gegenstände auf dem Gebiet des Sozialrechts zum Inhalt hat, öffentlich-rechtlicher Vergleichsvertrag im Sinne von § 54 SGB X. Als solcher entfaltet er nach den §§ 58 und 59 SGB X gesteigerte Bindungswirkungen. Der berechtigte Kläger hat im früheren Rechtsstreit im Wege des gegenseitigen Nachgebens im Sinne von § 54 SGB X auf die Geltendmachung weiterer Rechte in Bezug gerade auf den bereits dortigen ablehnenden Verwaltungsakt verzichtet. Dies war weder aus prozessualen Gründen unwirksam, noch nicht ein Fall der Nichtigkeit oder ein Anpassungs- oder Kündigungsgrund im Sinne der §§ 58, 59 SGB X vor.

Entgegen der Auffassung des Klägers hat die Beklagte im Ausführungsbescheid zum Prozessvergleich keine weiteren Ansprüche bewilligt. In den einleitenden Passagen im Bescheid vom 24.05.2016 wird – möglicherweise für den juristischen Laien nicht sofort ersichtlich - versucht, den Gesetzeswortlaut wiederzugeben. Erst auf Seite 2 wird der Bescheid in der Umsetzung des Vergleichs konkret. Dort wird ausgeführt, dass sich die Beklagte bis maximal 4.000,00 EUR an Umzugskosten von X ... nach A ... beteiligt. Ergänzend wird ausgeführt, dass zukünftig ggf. erforderlich werdende Umbaumaßnahmen im neuen Wohnumfeld bis zum genannten Höchstbetrag von 4.000,00 EUR übernommen werden können. Der dortige erklärende und im konkreten Bescheid überflüssige Rechtshinweis bezieht sich aber eindeutig auf zukünftig notwendig werdende Maßnahmen. Die Maßnahmen, die der erstmaligen Erstellung der behindertengerechten Wohnung dienen, sind nicht umfasst."

Hiergegen richtet sich der Antragsteller mit seiner am 22.05.2018 eingelegten Berufung (L 9 P 41/18) und führt - unter Wiederholung und Vertiefung seiner bereits im Widerspruchs- und Klageverfahren vorgetragenen Argumente - aus, er habe sich im Vorfeld hinsichtlich der behinderungsbedingt erforderlichen Baumaßnahmen u. a. für das Bad von dem Behindertenvertreter aus X ... beraten lassen und für diese Maßnahmen auch rechtzeitig vorab bei der Antragsgegnerin eine Bezuschussung beantragt. Entgegen der Rechtsauffassung des SG habe er im Rahmen des Vergleichsschlusses keinen Verzicht auf die Bezuschussung der Mehrkosten für den Badneubau erklärt.

Am 13.09.2019 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig die Mehrkosten für den behindertengerechten Neubau des Bades in A ... einen Zuschuss bis maximal 2.000,80 EUR zu zahlen.

Die Antragsgegnerin hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und die Akte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache - sofern es sich, wie hier, bei dieser nicht um eine reine Anfechtungssache im Sinne des § 86 b Abs. 1 SGG handelt - auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Eine einstweilige Anordnung ist auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). In beiden Fällen ist Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes. Dabei bezieht sich der Anordnungsanspruch auf den im Hauptsacheverfahren streitigen Anspruch und damit auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Der Anordnungsgrund betrifft die Frage der Dringlichkeit oder Eilbedürftigkeit und stellt damit den Grund für den einstweiligen Rechtsschutz dar. Als Anordnungsgrund verlangt das Gesetz für die Sicherungsanordnung eine Gefahr für die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG) und für die Regelungsanordnung die Abwendung wesentlicher Nachteile (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG). Es muss ein gewichtiges Interesse des Antragstellers vorliegen, aufgrund dessen es ihm nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

Bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen über den vorläufigen Rechtsschutz sind die Gerichte gehalten, der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte, insbesondere desjenigen aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), Rechnung zu tragen. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - BVerfGE 93, 1, 14; Beschluss vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745/88 - BVerfGE 79, 69, 74). Dies gilt sowohl für Anfechtungs- als auch für Vornahmesachen. Hierbei dürfen die Entscheidungen der Gerichte grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breith. 2005, 803, 806; Kammerbeschluss vom 27. Mai 1998 - 2 BvR 378/98 - NVwZ-RR 1999, 217, 218). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einstweilige Anordnung die endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorwegnehmen darf (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 12. Auflage, § 86 b Rn. 31).

Des Weiteren stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In solchen Fällen sind die Gerichte, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, gehalten, die Sach- und Rechtslage eingehend zu prüfen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 - NZS 2009, 674, 675; Kammerbeschluss vom 19. März 2004 - 1 BvR 131/04 - NZS 2004, 527, 528). Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Juli 1996 - 1 BvR 638/96 - NVwZ 1997, 479, 480). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 - NZS 2009, 674, 675; Kammerbeschluss vom 29. November 2007 - 1 BvR 2496/07 - NZS 2008, 365, 366; Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breith 2005, 803, 806 f.). Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).

Gemessen hieran hat der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht zu erfolgen. Das Gericht geht zwar davon aus, dass gewichtige Gründe für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs gegeben sind, jedoch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht glaubhaft gemacht ist.

Streitig ist im Berufungs- und vorliegenden Antragsverfahren allein die Frage, ob die Antragsgegnerin (einstweilen) aus dem bereits mit Bescheid vom 10.04.2017 bewilligten Zuschuss zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen einen Betrag von bis zu 2.000,80 EUR für die durch den behinderungsrechten Neubau des Bades entstandenen Mehrkosten zu zahlen hat. Nach § 40 Abs. 4 Sätze 1 und 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) können die Pflegekassen (subsidiär) finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des Pflegebedürftigen gewähren, beispielsweise für technische Hilfen im Haushalt, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbstständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird; die Zuschüsse dürfen einen Betrag in Höhe von 4 000 Euro je Maßnahme nicht übersteigen. Eine derartige Maßnahme kann - worauf die Antragsgegnerin in ihrem Ausführungsbescheid vom 24.05.2016 zutreffend hingewiesen hat - je nach den Besonderheiten des Einzelfalls auch in einem Umzug des Pflegebedürftigen in eine seinen behinderungsbedingten Anforderungen entsprechende Wohnung bestehen. Dies gilt auch für erforderliche Maßnahmen im Rahmen des Neubaus eines nach Umzug zu nutzenden eigenen Hauses (ebenso: Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Urteil vom 27. März 2009 – L 4 P 4363/08 – juris Rn. 22).

Die Antragsgegnerin ist, dem richterlichen Hinweis des SG W ... folgend, davon ausgegangen, dass der Umzug des Antragstellers nach A ... mit Blick auf die dort verbesserten personellen Pflegemöglichkeiten eine erforderliche Maßnahme i. S. v. § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI darstellt und hat sich entsprechend mit Ausführungsbescheid vom 24.05.2016 verpflichtet, sich an den dadurch entstehenden Kosten bis zur gesetzlichen Höhe im Wege des Zuschusses zu beteiligen. Dann kann sie eine Bezuschussung eventuell entstehender/entstandener Mehrkosten für den mit dem Umzug eine einheitliche Maßnahme nach § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI bildenden Badneubau nicht mit der Begründung ablehnen, die Wohnsituation in der vormaligen Wohnung des Antragstellers in X ... sei pflegeadäquat gewesen. Es kann dahinstehen, ob davon auszugehen ist, der Vergleichsschluss vor dem SG W ... beinhalte einen Verzicht bzw. eine Klagerücknahme hinsichtlich dieses Teils des ursprünglichen Begehrs, da der Antragsteller jedenfalls am 20.01.2017 erneut einen entsprechenden Leistungsantrag gestellt hat. Ob und in welchem Umfang die Behinderungen des Antragstellers tatsächlich notwendige Mehrkosten beim Neubau des Bades verursacht haben und ob und in welchem Umfang diese aus dem noch vorhandenen Zuschuss in Höhe von 2.000,80 EUR zu übernehmen sind, hat die Antragsgegnerin bislang - unter Zugrundelegung der Stellungnahmen ihres SMD - nicht ermittelt. Dies wird sie im Hauptsacheverfahren, ggf. unter erneuter Inanspruchnahme des SMD, nachzuholen haben. Insoweit sind die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren als offen zu betrachten.

Ein Anordnungsgrund, mithin eine besondere Eilbedürftigkeit, ist damit jedoch nicht bereits glaubhaft gemacht. An den Anordnungsgrund sind hier angesichts der beschriebenen (offenen) Erfolgsaussichten erhebliche Anforderungen zu stellen. Ohne den Erlass der begehrten Anordnung müssen dem Antragsteller schwerwiegende Nachteile drohen, um den Anspruch trotz der noch nicht genau bestimmbaren Erfolgsaussichten der Hauptsache - wenn auch nur vorläufig - gewähren zu können. Dies setzt eine erhebliche Gefährdung von wesentlichen, grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Menschenwürde o. ä. voraus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 - juris Rn. 13). Eine solche Gefahrenlage besteht hier bereits deshalb nicht, da der Badneubau nicht mehr aussteht, sondern bereits seit Mitte 2017 abgeschlossen ist.

Eine aktuelle Notlage des Antragstellers ist damit nicht ersichtlich. Klarstellend ist darauf hinzuweisen, dass sich in einem Verfahren, welches auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet ist, das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach demjenigen Zeitpunkt zu beurteilen ist, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet. Dies bedeutet aber, dass die Bejahung eines Anordnungsgrundes grundsätzlich ausscheidet, soweit Leistungen für die Vergangenheit begehrt werden (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. November 2011 - L 9 KR 284/11 B ER - juris Rn. 2). Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG kann zwar in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume gebieten, wenn andernfalls bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen würden, die sich durch eine stattgebende Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen ließen. Derartige Umstände sind hier jedoch nicht ersichtlich. Insbesondere reichen gegenüber dritten Personen eingegangene Verbindlichkeiten hierfür nicht aus (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Januar 2008 – L 9 B 600/07 KR ER - juris Rn. 25). Stattgebende Entscheidungen im vorläufigen sozialgerichtlichen Rechtsschutzverfahren sind demnach grundsätzlich erst vom Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an möglich, weil nur solche Gefahren für Rechte und Ansprüche des Betroffenen noch gegenwärtig und damit durch den gerichtlichen Eilrechtsschutz abwendbar sind, die zu diesem und nach diesem Zeitpunkt noch bestehen.

Insgesamt gelangt das Gericht zu dem Schluss, dass dem Antragsteller das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache zuzumuten ist, da ihm insoweit keine schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Beeinträchtigungen drohen. Die noch ausstehenden Sachverhaltsermittlungen erscheinen übersichtlich und zeitnah durchführbar. Des Erlasses einer einstweiligen Anordnung durch das Gericht bedarf es vorliegend nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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