L 9 VE 22/18 ZVW

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 39 VE 16/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 9 VE 22/18 ZVW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 14/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.Die Anerkennung einer Erkrankung an ADEM als Folge einer Hepatits-A-Impfung scheidet bei differentialdiagnostisch nicht auszuschließender Zytomegalie-Virusinfektion aus, da sie nicht mehr als
überwiegend wahrscheinlich angesehen werden kann.
2. Die bloße Möglichkeit einer impfbedingten Verursachung einer Erkrankung an ADEM reicht zur Anerkennung als Impfschaden nicht aus.
3. Das Vorliegen überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Anerkennung eines Impfschadens ist notwendige Voraussetzung zur Anerkennung eines Impfschadens.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 15. Mai 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung eines Impfschadens nach einer Hepatitis-A-Impfung am 26.11.2007.

Der 1974 geborene Kläger beantragte am 18.11.2010 beim Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz. Er habe am 26.11.2007 von seiner Hausärztin Frau Dipl.-Med. E ... eine im Freistaat Sachsen öffentlich empfohlene Hepatitis-A-Auffrischungsimpfung mit dem Impfstoff "Havrix" erhalten. In der Folge sei er an ADEM, das heißt einer akut-entzündlichen Erkrankung des Nervensystems, erkrankt. Er leide noch immer an starken gesundheitlichen Einschränkungen (der Kläger hatte im August 1996 und im November 1997 bereits den gleichen Impfstoff verabfolgt bekommen).

Der Beklagte zog Krankenhausberichte der Y ...-Klinik vom 08.01.2008 bei. Der Kläger habe über seit letztem Freitag bestehende Kopfschmerzen vom Nacken ausgehend sowie Dysthesien der Haut, Gleichgewichtsstörungen, Schwindel und nächtliches Fieber bis 39 °C geklagt. Aus dem Bericht der Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin des Städtischen Krankenhauses in B ...-Neustadt vom 22.02.2008, wo der Kläger vom 08.-09.01.2008 zunächst untersucht und betreut wurde, ergibt sich aus der Anamnese, dass der Kläger zwei Wochen zuvor einen Infekt der oberen Atemwege durchgemacht habe. Bei der Infektionsimmunologie ergaben sich erhöhte Werte für Epstein-Barr-Virus-Antikörper (EBV-VCA-IgG und EBV-EBNA1-IgG-Antikörper), nicht aber für EBV-VCA-IgM-Antikörper. Die Antikörper gegen Zytomegalie (CMV) vom IgG-Typ waren nur gering, aber vom IgM-Typ deutlich erhöht. Als Diagnosen wurden danach bei ihm eine Akute demyelisierende Enzephalomyelitis mit spinalem Schwerpunkt, klinisch maximale Symptomausprägung in Form einer Hirnstammfunktionsstörung, eine komplette Querschnittslähmung ab Segment Th7, eine neurogene Blasenentleerungsstörung, ein Zustand nach Anlegen eines suprapubischen Blasenkatheters sowie eine neurogene Mastdarmentleerungsstörung erhoben. Grundsätzlich sei sowohl ein infektgetriggerter Prozess bei im Vorfeld geschildertem Infekt der oberen Atemwege als auch ein atypischer Impfverlauf nach Hepatitis-A-Impfung (Auffrischung am 26.11.2007) denkbar. Der Beklagte zog des Weiteren den Reha-Entlassungsbericht der Klinik X ... vom 06. Mai 2008 sowie Behandlungsberichte der radiologischen Praxis W ... über ein MRT der HWS vom 20.06.2008 sowie einen MRT-Spinal-Befund vom 18.09.2009 und einen MRT-Kopf-Hals-Befund von diesem Tag, einen Befundbericht der Gemeinschaftspraxis Humangenetik, einen Befundbericht der Uniklinik V ... vom 09.09.2009, worin ein Immundefekt ausgeschlossen wurde, sowie weitere Behandlungsberichte der V ... Klinik und Poliklinik für Neurologie, Prof. U ..., vom 18.09.2009 zur erektilen Dysfunktion sowie Kinderwunsch und der V ... Klinik für Urologie vom 20.03.2010 bei.

Auf Anfrage des Beklagten nahm das Paul-Ehrlich-Institut am 24.03.2011 Stellung. Entsprechend der vorliegenden Befunde bleibe es unklar, ob eine Infektion Auslöser für die ADEM gewesen sei, oder ob eine unspezifische, überschießende immunpathologische Reaktion auf die Hepatitis-A-Impfung als Ursache für die Erkrankung anzunehmen sei. Von ADEM in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen würde vereinzelt berichtet. Ein plausibler zeitlicher Zusammenhang liege vor, wenn die Symptomatik innerhalb von 14 Tagen nach der Impfung beginne, spätestens aber nach vier Wochen klinisch auffällig sei. Da der zeitliche Zusammenhang vorliegend eher unwahrscheinlich sei und durchaus die Möglichkeit einer koinzidenten Infektion vorgelegen haben könne, werde der ursächliche Zusammenhang zwischen der Havrix-Impfung und der ADEM-Erkrankung durch das Paul-Ehrlich-Institut als unwahrscheinlich bezeichnet.

Die Versorgungsärztin Dr. T ... lehnte in ihrer Stellungnahme vom 13.05.2011 einen plausiblen ursächlichen Zusammenhang ab.

Mit Bescheid vom 28.06.2011 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab. Die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) lägen nicht vor. Der Kläger sei Anfang Januar 2008 an einer akuten demyelisierenden Enzephalomyelitis (ADEM) erkrankt und mache diese als Folge der am 26.11.2007 verabreichten Hepatitis-A-Impfung geltend. Bei einer ADEM-Erkrankung handele es sich um eine Erkrankung des Zentralnervensystems, die häufig nach einer Infektion auftrete. Es sei bekannt, dass Impfungen das Risiko in sich bürgen, auch entzündliche Veränderungen von Gehirn und Rückenmark zu entwickeln. In der Vergangenheit sei dies häufig bei älteren Impfstoffen aufgetreten, die Verwendung neuerer Impfstoffe habe diese Komplikationen aber nahezu hinfällig werden lassen. Die entzündliche Erkrankung wirke über das Immun-system und trete 14 Tage bis vier Wochen nach der Infektion oder Impfung auf. Der Kläger sei Anfang Januar 2008 an der diagnostisch gesicherten ADEM-Erkrankung erkrankt. Damit betrage das zeitliche Intervall zur Impfung sechs Wochen und es sei schon nicht mehr von einem zeitlichen Zusammenhang auszugehen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.09.2011 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers vom 18.07.2011 als unbegründet zurück. Die angeschuldigte Hepatitis-A-Impfung sei nicht ursächlich für die geltend gemachte ADEM-Erkrankung. Nach Aussage des RKI (gemeint ist das Paul-Ehrlich-Institut) fehle es im Fall des Klägers bereits an einem zeitlichen Zusammenhang. Nach den aktenkundigen Befundunterlagen sei die Impfung am 26. November 2007 erfolgt. Symptombeginn der ADEM-Erkrankung sei nach den vorliegenden Unterlagen Anfang Januar 2008 gewesen. Dass bereits vorher Kopfschmerzen und allgemeines Unwohlsein aufgetreten seien, sei den Befunden nicht zu entnehmen. Nach Aussage des Robert-Koch-Instituts (gemeint ist das Paul-Ehrlich-Institut) sei ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der stattgehabten Impfung und der Erkrankung unwahrscheinlich.

Hiergegen hat der Kläger am 10.10.2011 beim Sozialgericht Dresden (SG) Klage erhoben, mit der er sein Begehren um die Anerkennung der ADEM-Erkrankung als Impfschaden nach einer Hepatitis-A-Impfung und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) weiterverfolgt hat. Bereits ab dem 20.12.2007 habe sich sein Zustand stetig verschlechtert. Zunehmende Kopfschmerzen, allgemeines Unwohlsein, ab dem 04.01.2008 hinzukommende Nackenschmerzen übergehend in den Kopf, die sich mit normalen Schmerzmitteln nicht mehr lindern ließen, hätten sich eingestellt. Die Nackenschmerzen seien mit nächtlichem Fieber einhergegangen. Am Montag, dem 07.01.2008, habe er morgens seine Hausärztin Frau DM E ... aufgesucht. Er habe sich am 07.01.2008 ins Krankenhaus fahren lassen, wo ihm ein Katheter gelegt worden sei. Am 08.01.2008 sei ein MRT angefertigt worden, danach habe er sich kaum noch selbstständig auf den Beinen halten und auch nicht mehr selbst aufrichten können. Es sei durch die Literatur belegt, dass es ADEM-Erkrankungen gebe, welche auf Impfungen, insbesondere auch Hepatitis-A-Impfungen, zurückzuführen seien. Ein Zusammenhang seiner Erkrankung mit der vorangegangenen Impfung, auch zeitlich, sei daher wahrscheinlich, so dass die begehrte Anerkennung des Impfschadens vorzunehmen sei.

Auf Veranlassung des Gerichts hat Dr. med. S ... nach ambulanter Untersuchung des Klägers ein medizinisches Sachverständigengutachten am 02.01.2013 erstellt. Der Gutachter betreibt eine privatärztliche Praxis zur Impfstoffsicherheit und Impfschadensforschung. Beim Kläger habe ein Zustand nach akuter disseminierter Enzephalomyelitis (ADEM) mit Residualschaden bestanden. Es sei beim Kläger innerhalb des als plausibel geltenden Zeitfensters zu einer zunächst unspezifischen Phase der ADEM-Erkrankung gekommen. Die unerwünschte Reaktion einer immunologisch vermittelten Entzündung des Gehirns sei nach der Hepatitis-A-Impfung als bekannt zu betrachten. Alternative Ursachen (wie nachgewiesene Infektionen im plausiblen Intervall) der Erkrankung hätten nicht festgestellt werden können. Beim Kläger seien damit die Kriterien erfüllt, die von der WHO für die Feststellung eines "wahrscheinlichen Zusammenhangs" gefordert würden.

Der versorgungsmedizinische Dienst hat in seiner Stellungnahme von 28.02.2013 darauf hingewiesen, dass eine Infektion der oberen Luftwege vom Gutachter außer Acht gelassen worden sei.

Dr. R ... hat abschließend Stellung genommen und die alternative Ursache eines Infektes der oberen Atemwege als nicht nachgewiesen abgelehnt.

Mit Urteil vom 15.05.2014 hat das Gericht der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, beim Kläger einen Impfschaden mit der Gesundheitsstörung "Zustand nach akuter disseminierter Enzephalomyelitis (ADEM-Erkrankung) mit Residualschaden" anzuerkennen und zu entschädigen. Hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verursachung des vorliegenden gesundheitlichen Zustands nach akuter disseminierter Enzephalomyelitis (ADEM) mit Residualschaden durch die am 26. November 2007 erfolgte Hepatitis-A-Impfung mit "Havrix" sei gegeben. Es spreche mehr dafür als dagegen. Zwar gebe es auch Argumente, die gegen eine solche Wahrscheinlichkeit sprächen wie etwa die, dass eine ADEM-Erkrankung nur eine sehr seltene Folge der Impfung mit "Havrix" sei, und dass vorliegend mit dem Infekt der oberen Luftwege grundsätzlich eine konkurrierende Ursache gegeben sei. Aus Sicht des Gerichts sei es nicht sehr wahrscheinlich, dass der Infekt der oberen Luftwege (hier die Halsentzündung) zu der ADEM-Erkrankung geführt habe, da eine solche ADEM-Erkrankung meist durch eine Viruserkrankung ausgelöst werde. Die beim Kläger durchgeführten Untersuchungen hätten allerdings ergeben, dass bei ihm kein positiver Nachweis einer stattgehabten Virusinfektion erbracht werden konnte.

Gegen das dem Beklagten am 03.06.2014 zugestellte Urteil hat dieser am 16.06.2014 Berufung beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegt. Das Hauptargument des Gerichts sei es gewesen, dass der Nachweis einer stattgehabten Virusinfektion nicht habe erbracht werden können. Diese Einschätzung sei unzutreffend. Es existiere eine positive Anamnese über einen Infekt der oberen Luftwege etwa zwei Wochen vorher. Es existiere auch eine positive Serologie für eine frische Zytomegalievirusinfekton (Nachweis von CMV-IgM im Liquor). IgM-Antikörper würden nur im Rahmen einer akuten Infektion gebildet. In Anwendung einer sauberen Kausalitätsbeurteilung sei die Impfung schon allein damit nicht die wahrscheinliche Ursache, weil nicht mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spreche.

Auf Veranlassung des Senats hat Prof. Dr. D ..., Facharzt für Neurologie und Psychia-trie, am 20.11.2015 ein Gutachten erstellt. Es handele sich um einen Zustand nach akuter demyelinisierender Enzephalitis (ADEM-Erkrankung) mit Querschnittssymptomatik und passageren Sehstörungen. Die Verursachung dieser Erkrankung sei unklar. Eine post-vakzinale Auslösung sei ebenso denkbar wie eine virusbedingte. Für letztere sprächen die serologischen Zeichen einer CMV-Reaktivierung (erhöhte CMV-IgM-Antikörper) und die intrathekale Antikörperproduktion (Erkl.: bezeichnet eine Antikörperproduktion im Liquor) gegen Zytomegalie (vom IgM-Typ). Alternativ komme eine direkt erregerbedingte Zytomegalie-Enzephalomyelitis in Frage. Die genaue Abgrenzung wäre nur durch eine Hirnbiopsie möglich gewesen, die aber verständlicherweise nicht durchgeführt worden sei. Ein Zusammenhang der akuten neurologischen Symptomatik im Januar 2008 im Sinne einer ADEM mit Schwerpunkt einer Querschnittslähmung sei möglich, aber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Hepatitis-A-Vakzination zurückzuführen. Bei den jetzt vorhandenen Gesundheitsstörungen in Form einer ausgeprägten Paraspastik (spastische Lähmung der unteren Extremitäten und des Rumpfes unterhalb des 4./5. Brustsegments), einer neurogenen Blasenstörung, einer neurogenen Mastdarmentleerungsstörung, einer erektilen Impotenz, eines ausgeprägten Schmerzsyndroms im Bereich von Sakralregion und der unteren Extremitäten lasse sich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verursachung durch die Schutzimpfung nicht begründen. Es bestehe zwar die Möglichkeit eines Zusammenhangs, die Wahrscheinlichkeit liege aber nicht über 50%. Es spreche mehr gegen als für einen Zusammenhang. Was die Zytomegalie-IgM-Antikörper anbetreffe, so sei eine unspezifische polyklonale (Erkl.: Mischung von vielen Antikörpern) Aktivierung im Rahmen einer ADEM-Erkrankung durchaus möglich. Eine direkte Enzephalomyelitis durch Zytomegalie (CMV) oder eine "parainfektiöse" Reaktion (Erkl.: als "parainfektiös" bezeichnet man ein Ereignis, das in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Infektionskrankheit entsteht, aber nicht durch deren Erreger direkt verursacht wird) durch CMV (welche einer ADEM entspräche) sei nicht auszuschließen. Das beschriebene klinische Bild entspreche eher einer parainfektiösen Reaktion – also einer ADEM- als einer direkten Virus-Enzephalomyelitis durch CMV (siehe Bitsch, Zytomegalie-Virus, in: H. Prange & A. Bitsch (Hrsg.) Infektionserkrankungen des Zentralnervensystems, 2. Aufl. 2001, S. 43-53). Der Gutachter folge nicht der Einschätzung des Gutachters der 1. Instanz, Dr. R ..., wonach alternative Ursachen für das akute Krankheitsbild ausgeschlossen seien. Die vom Gutachter R ... aufgeführten Kriterien, die den international anerkannten Vorgaben entsprächen, seien nicht erfüllt, weil ein differentialdiagnostischer Ausschluss anderer Ursachen im Fall des Klägers nicht möglich sei. Dabei brauche auf das diskutierte zeitliche Intervall zwischen Vakzination und Erstsymptomen nicht weiter eingegangen zu werden. Auch die nicht von der Hand zu weisenden Einwände der Versorgungsmedizinerin Q ... müssten nicht weiter diskutiert werden. Aufgrund der Befundlage könne er nur feststellen, dass eine Kausalität zwischen Hepatitis-A-Vakzination und ADEM beim Kläger zwar möglich sei, die Wahrscheinlichkeit aber weit unter 50% liege.

Mit Schreiben von 23.06.2016 hat der Gutachter Prof. Dr. D ... nochmals ergänzend Stellung genommen. Er hat insbesondere ergänzende Ausführungen zur Pathogenese einer ADEM (oder auch eines Guillain-Barrée-Syndroms) gemacht. Der Prozess verlaufe wie folgt: Immunstimulus-Immunreaktion-überschießende Immunreaktion-Markscheidendestruktion-demyelisierende Neuritis oder Enzephalitis-Therapie mit einem Kortison-Präparat (z.B. Prednisolon) zur Unterdrückung der überschießenden Immunreaktion. Bei dem Immunstimulus handele es sich in den meisten Fällen um eine Virusinfektion oder eine medikamentöse Wirkung mit Haptenbindung. Hauptauslöser einer ADEM sei eine Virusinfektion. Beim Kläger bestehe sogar eine Antikörperreaktion auf ein bestimmtes Virus, nämlich das Zytomegalie-Virus. Diese Tatsache zwinge den Gutachter zu seiner Einschätzung.

Auf Antrag des Klägers hat Dr. C ..., Facharzt für Innere Medizin -Kardiologie-, ein Gutachten nach § 109 SGG am 24.06.2017 erstellt. Im Ergebnis seiner Begutachtung hält der Gutachter fest, dass CMV-IgM-Antikörper nachgewiesen worden seien. Es sei versäumt worden, eine IgG-Serokonversion nachzuweisen. Unter Berücksichtigung der klinischen Angaben von hohem Fieber und dem Nachweis einer Leberenzyme-Erhöhung spreche mehr für eine akute CMV-Infektion als für die Reaktivierung einer latenten Infektion. Aufgrund der klinischen Parameter von Fieber bis 39°, einer Erhöhung der Leberenzyme und der Immunglobulinkonstellation trotz negativer PCR müsse die CMV-Infektion differenzialdiagnostisch als gleichberechtigter Auslöser einer ADEM angesehen werden.

Mit Schriftsatz vom 30.10.2017 sowie im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.01.2018 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers ergänzende Beweisfragen gestellt, die dem Gutachter Dr. C ... zur Beantwortung vorgelegt werden sollten. In der mündlichen Verhandlung hat die Prozessbevollmächtigte die Verletzung des Fragerechts gem. § 116 Satz 2 i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 397, 402 und 411 Abs. 4 ZPO bezüglich ihres Schriftsatzes vom 30.10.2017, eingegangen beim LSG am 23.11.2017, gerügt.

Mit Urteil des Senats vom 30.01.2018 hat der Senat der Berufung des Beklagten stattgegeben und das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Beim Kläger bestehe kein Impfschaden mit der Gesundheitsstörung "Zustand nach akuter disseminierter Enzephalomyelitis (ADEM-Erkrankung) mit Residualschaden". Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Anerkennung und Entschädigung seines Zustandes nach der ADEM-Erkrankung als Impfschaden nach erfolgter Hepatitis-A-Impfung nach den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes, da die Erkrankung mit ADEM nicht hinreichend wahrscheinlich auf die Impfung zurückgeführt werden könne.

Gegen das der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 16.02.2018 zugestellte Urteil hat diese am 16.03.2018 Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht eingelegt, die sie mit einer Verletzung des Fragerechts des Klägers begründet hat. Mit Beschluss des BSG vom 27.09.2018 hat dieses dem Antrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers wegen eines Verfahrensmangels im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG, auf dem die Entscheidung beruhen kann, stattgegeben und den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an den erkennenden Senat zurückverwiesen.

Der Senat hat sodann den Gutachter nach § 109 SGG, Dr. C ..., zu den Beweisfragen aus dem Schriftsatz vom 30.10.2017 sowie aus der mündlichen Verhandlung zur ergänzenden Beantwortung befragt. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 26.12.2018 hat der Gutachter C ... mitgeteilt, dass die Klinik mit einem Fieber von bis 39° C, einer Erhöhung der Leberenzyme und die Immunglobulin-Konstellation trotz negativer PCR so starke Hinweise auf eine CMV-Infektion biete, dass die CMV-Infektion differenzialdiagnostisch gleichberechtigt als Auslöser einer ADEM angesehen werden müsse. Andererseits sei es auch möglich, dass die geschilderten Symptome - Fieber bis 39° C und die erhöhten Leberwerte - auch Ausprägungen der der ADEM als Folge der Impfung seien. Im Folgenden hat er ausgeführt, dass der Nachweis von IgG-Antikörpern gegen Epstein-Barr-Virus eine zurückliegende Infektion beweise. Der Nachweis von IgM-Antikörpern gegen CMV sei verdächtig auf eine akute CMV-Infektion. Der ermittelte Antikörperspezifitätsindex beweise die CMV-Infektion nicht. Entscheidend sei, dass die Labordiagnostik nicht wiederholt worden sei. Damit bleibe die CMV-Infektion weiter möglich. Unter Berücksichtigung der klinischen Angaben mit hohem Fieber und dem Nachweis einer Leberenzymerhöhung spreche mehr für eine akute CMV-Infektion als für die Reaktivierung einer latenten Infektion. Eine eindeutige Diagnose stelle er damit aber nicht. Allerdings müsse die Zytomegalie-Virusinfektion als gleichberechtigte mögliche Ursache neben dem Impfschaden angesehen werden. Eine Zytomegalie-Virusinfektion sei grundsätzlich geeignet, eine akute disseminierte Enzephalomyelitis auszulösen. In der Literatur fänden sich hierfür genügend Beispiele. Der Gutachter halte es für gerechtfertigt, die ADEM nach stattgehabter CMV-Infektion als in der Medizin anerkannte Krankheitsfolge anzusprechen.

Der Beklagte hat unter Bezugnahme auf die Antwort des Versorgungsmediziners Dipl.-Med. P ... am 05.03.2019 Stellung genommen. Zusammenfassend hebt er hervor, dass sich der vom Gutachter C ... beklagte Mangel an Befunden nicht ändern lasse, aber auch nicht entscheidungserheblich sei.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am 31.05.2019 abschließend Stellung genommen. Der Gutachter Dr. C ... habe in Beantwortung der ergänzenden Beweisfragen des Klägers ausdrücklich bestätigt, dass die akute CMV-Infektion lediglich eine mögliche Ursache des eingetretenen Schadens beim Kläger sei. Die CMV-Infektion sei jedoch nicht vollbeweislich gesichert. Sie sei daher differentialdiagnostisch lediglich als gleichberechtigter Auslöser anzusehen. Da die akute CMV-Infektion nicht vollbeweislich gesichert sei, müsse die Kausalität im Hinblick auf die Impfschädigung angenommen werden. Es sei nicht Aufgabe des Klägers, eine vermutete weitere Ursache für den Schadenseintritt differenzialdiagnostisch auszuschließen. Erst wenn die in die Bewertung einzubeziehende Konkurrenzursache überhaupt vollbeweislich gesichert sei, könne eine entsprechende Wertung der Kausalität vorgenommen werden. Mithin sei hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Kausalzusammenhang zwischen der stattgefundenen Impfung und dem eingetretenen Schaden zu bejahen. Im übrigen sei die Beweislast umzukehren, wenn es um die Anerkennung eines Impfschadens nach einer Hepatitis-A-Impfung gehe, da ansonsten nie der Nachweis einer impfbedingten Schädigung erbracht werden könne.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 15. Mai 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen und die Revision zuzulassen.

Er vertritt die Auffassung, dass wie von der ersten Instanz entschieden hier überwiegende Wahrscheinlichkeit einer impfbedingten Erkrankung gegeben sei.

Dem Senat lagen die Verwaltungsakten des Beklagten, die beigezogenen Schwerbehinderten-Akten, sowie die Gerichtsakten beider Instanzen vor. Ihr Inhalt war Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.

Zu Unrecht hat das SG mit Urteil vom 15. Mai 2014 der Klage stattgegeben und beim Kläger einen Impfschaden mit der Gesundheitsstörung "Zustand nach akuter disseminierter Enzephalomyelitis (ADEM-Erkrankung) mit Residualschaden" anerkannt und den Beklagten verurteilt, diesen zu entschädigen. Das Urteil war aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der angefochtene Bescheid vom 28.06.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Anerkennung und Entschädigung seines Zustandes als Impfschaden nach erfolgter Hepatitis-A-Impfung nach den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes.

Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 60 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die 1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, 2. auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, 3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 4. auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

Nach § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß aller Impfreaktionen hinausgehenden gesundheitlichen Schädigungen durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Personen geschädigt wurde.

Die Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG – u.a. z.B. öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde – erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Reaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine dauerharfte gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (siehe zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19. März 1986, 9a RVi 2/84 sowie 9a RV 4/84, zitiert nach juris).

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei allein Ursächlichkeit nicht erforderlich ist (S. Knickrehm in Knickrehm, Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 Rn. 26 ff.) Bereiter-Hahn/Mertens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr. 8 m.w.N).

Die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im sogenannten Vollbeweis feststehen. Die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge müssen hinreichend wahrscheinlich sein (§ 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (BSGE 60, 58 = SozR 3850, § 51 Nr. 9; a. a. O., (S. Knickrehm in Knickrehm, Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 Rn. 34). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog. antizipierte Sachverständigengutachten (s. nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind die allerdings nicht anwendbar (BSG a.a.aO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten an allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr. 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr. 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr. 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben. Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr. 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden: Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Die versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr. 11 IfSG und Nr. 56 Abs. 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 IfSG durchzuführen.

Die seit dem 01.01.2009 anstelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.04.2009 –B 9 SB 3/08 R-, juris). Anders als die AHP enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss, oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen (vgl. BSG, Urt. v. 07.04.2011 –B 9 VJ 1/10 R-, juris).

Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neusten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht und Schwerbehindertenrecht (BSG Urteil vom 17. Dezember 1997 – 9 RVI 1/95-, juris, sowie Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 10/06 R- juris). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität auf Grund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl. BSG Urteil vom 02.12.2011 – B 9 V 1/10 R-, juris).

Bei Anwendung der neusten medizinischen Erkenntnisse ist jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, gegebenenfalls lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben. Eine S1-Leitlinie existiert im Zusammenhang mit der impfbedingten Verursachung einer Erkrankung an ADEM nicht. Zur Kausalität gibt es ein 2018 veröffentlichtes Papier der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das sich mit den Voraussetzungen zur Anerkennung impfbedingter Erkrankungen beschäftigt (Casuality Assessment of an Adverse Event Following Immunization (AEFI)). Danach sind jeweils vier Schritte einzuhalten: 1. Eligibility (Geeignetheit, Qualifikation), 2. Checklist, 3. Algorithm, 4. Classification. Im Rahmen des 2. Schrittes muss differentialdiagnostisch geklärt werden, ob es starke Hinweise auf eine andere Verursachung, das heißt eine andere Erkrankung gibt.

Dem Kläger ist am 26. November 2007 eine öffentlich empfohlene Hepatis-A-Auffrischungsimpfung verabreicht worden. Bei der Impfung handelte es sich um den Impfstoff Havrix (1440 Ch-B. AHAVB147AB).

Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

Impfkomplikationen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung am 26.11.2007 sind weder vorgetragen noch dokumentiert. Um die Weihnachtszeit herum traten beim Kläger ein diffuses Gefühl im Kopf und Nackenschmerzen auf. Anfang Januar litt der Kläger an Nackenschmerzen. Am 07.01.2008 trat nächtliches Fieber und ein Harnverhalt auf. Am 08.01.2008 kam es zu zunehmenden Lähmungen der Extremitäten und des Rumpfes. Am 08.01.2008 kam drohende Ateminsuffizienz hinzu. Die infektiös-immunlogische Untersuchung hat erhöhte Antikörperwerte für das Epstein-Barr-Virus, allerdings nicht für das EBV-VCA-IgM eregeben. Auch der Antikörpertiter für Zytomegalie-IgM war deutlich erhöht bei einem gering erhöhten Antikörperwert für CMV-IgG. Dies steht zur Überzeugung des Senats anhand der schlüssigen Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. D ... fest. Die MRT-Untersuchungen vom 08.01.2008 haben Signalstörungen mit maximaler Ausprägung im Centrum semiovale rechts im kranio-zervikalen Übergang, links zerebellär, im Hirnstamm, im Balken sowie langstreckig im gesamten Rückenmark ab Höhe HWK 7 mit Rückenmarksauftreibung ergeben. Die ausgeprägten Veränderungen im MRT haben sich innerhalb von sechs bis neun Monaten komplett zurück gebildet. In der Folge der akuten Erkrankung ist beim Kläger eine Querschnittssymptomatik mit erheblicher Beeinträchtigung des Gehvermögens (maximal 100m Gehstrecke) mit Blasen- und Mastdarmstörung sowie eine erheblichen Beeinträchtigung der Sexualfunktion und Sensibilitätsstörungen verblieben. Es kommt außerdem zu Spasmen in den Beinen vor allem in Ruhe, es besteht ein verstärktes Schwitzen. Dies steht zur Überzeugung des Senats im erforderlichen Vollbeweis anhand der schlüssigen und überzeugenden Ausführungen der Gutachter Prof. Dr. D ..., Dr. R ... fest.

Auch wenn vorliegend manches gegen die diagnostische Zuordnung zu einer ADEM spricht, weil eine beim Kläger zunächst in 2010 eingetretene Verbesserung der Querschnittssymptomatik sich später wieder verschlechtert hat und dies für Multiple Sklerose aber nicht unbedingt für die ADEM typisch ist und auch der Liquorbefund für das Krankheitsbild ADEM untypisch ist, geht der Senat vom Vorliegen des Vollbeweises einer akuten demyelinisierende Enzephalomyelitis aus. Er folgt dabei den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. D ..., der höchst wahrscheinlich eine ADEM annimmt, wovon auch Dr. C ... ausgeht. Auch Dr. R ... und der Beklagte gehen vom Vorliegen einer ADEM aus. Dabei kann jedoch für den Senat dahingestellt bleiben, ob beim Kläger eine Erkrankung an ADEM und nicht möglicherweise doch eine MS-Erkrankung besteht und damit der eigentliche Primärschaden im Sinne des Vollbeweises überhaupt feststeht. Denn jedenfalls lässt sich entgegen den Ausführungen des Gerichts der ersten Instanz zur Überzeugung des Senats ein Zusammenhang zwischen der ADEM-Erkrankung und der Hepatitis-A-Impfung nicht wahrscheinlich machen. Hinreichende Wahrscheinlichkeit der Verursachung der akuten demyelinisierenden Enzephalitis (ADEM) mit einer ausgeprägten Paraspastik (spastische Lähmung der unteren Extremitäten und des Rumpfes unterhalb des 4./5. Brustsegments), einer neurogenen Blasenstörung, einer neurogenen Mastdarmentleerungsstörung, einer erektilen Impotenz, eines ausgeprägten Schmerzsyndroms im Bereich von Sakralregion und der unteren Extremitäten durch die am 26. November 2007 erfolgte Hepatitis-A-Impfung mit "Havrix" lässt sich nicht begründen. Es spricht mehr dagegen als dafür. Aus Sicht des Senats ist nach den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. D ... beim Kläger eine impfbedingte Erkrankung an ADEM zwar möglich, aber nicht überwiegend wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit der impfbedingten Verursachung liegt unter 50 %.

Bei einer ADEM existieren keine klar definierten diagnostischen Kriterien und die sichere Differenzierung einer ADEM gegenüber dem ersten Schub einer MS ist nach den Ergebnissen retrospektiver Verlaufsbeobachtungen nicht immer möglich (aus: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, KKNMS Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS, Stand 12.04.2012). An eine ADEM sollte bei parainfektiösem oder postvakzinalem Auftreten der Symptomatik gedacht werden, was häufig gutachterliche Fragestellungen der Kausalität nach sich zieht. Das Spektrum der klinischen Manifestation ist dabei sehr variabel und reicht von subklinischen Episoden bis hin zu fulminanten und tödlichen Verläufen. Es handelt es sich bei der ADEM um einen immunpathologischen Prozess, bei dem nach Exposition des Makroorganismus - das heißt hier: des Klägers - mit einem Antigen eine überschießende Autoimmunreaktion gegen eigene Strukturen des Körpers, in der Regel gegen Markscheiden des zentralen oder peripheren Nervensystems auftritt. Bei der Exposition handelt es sich um Virusinfekte, Medikamente mit Haptenwirkung, in seltenen Fällen bakterielle Infektion, Traumata und Impfreaktionen. Die Verursachung der Erkrankung des Klägers ist unklar und eben gerade nicht überwiegend wahrscheinlich auf die Impfung zurückzuführen. So kann sie postvakzinal ausgelöst worden sein, sie kann aber auch ebenso virusbedingt ausgelöst worden sein. Für eine virusbedingte Auslösung sprechen die serologischen Zeichen einer CMV-Reaktivierung (erhöhte CMV-IgM-Antikörper) und die intrathekale Antikörperproduktion gegen Zytomegalie (vom IgM-Typ). Schließlich kann es sich auch um eine direkt erregerbedingte Zytomegalie-Enzephalomyelitis gehandelt haben. Die genaue Abgrenzung ist nicht mehr möglich, dies wäre nur durch eine Hirnbiopsie möglich gewesen, die aber nicht durchgeführt wurde. Der Senat schließt sich hierbei den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. D ... an.

Was die Zytomegalie-IgM-Antikörper anbelangt, ist eine unspezifische polyklonale Aktivierung im Rahmen einer ADEM-Erkrankung durchaus möglich. Eine direkte Enzephalomyelitis durch Zytomegalie (CMV) oder eine "parainfektiöse" Reaktion durch CMV (welche einer ADEM entspräche) kann auch nicht ausgeschlossen werden. Das beschriebene klinische Bild entspricht eher einer parainfektiösen Reaktion also einer ADEM als einer direkten Virus-Enzephalomyelitis durch CMV. Ein differentialdiagnostischer Ausschluss anderer Ursachen war im Fall des Klägers nicht möglich. Der Senat folgt dabei den Ausführungen der Gutachter D ..., R ... und O ..., wonach ein solcher Ausschluss in Anlehnung an die von der WHO entwickelten Kriterien jedoch notwendige Voraussetzung für die Anerkennung einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist (vgl. WHO, Causality Assessment Of An Adverse Event Following Inmmunization (AEFI), User Manual For The Revised WHO Classification, Second Edition, S. 11-14). Da aber ein solcher Ausschluss nicht möglich ist, kann die Feststellung eines überwiegenden Zusammenhangs aufgrund der Impfung nicht getroffen werden. Die Wahrscheinlichkeit der Verursachung aufgrund der Impfung liegt allenfalls bei 50%, ist aber eben nicht überwiegend wahrscheinlich. Nach den Angaben in der medizinischen Literatur geht der ohnehin seltenen Erkrankung an ADEM in bis zu 75% der Fälle ein virale (ggf. auch bakterielle) Infektion voraus (http://myelitis.org/symptoms-conditions/acute-dessemnated-encephlomyelitis), während sie nur in bis zu 5% der Fälle in zeitlicher Verbindung mit einer Impfung auftritt.

Dabei braucht auf das diskutierte zeitliche Intervall zwischen Vakzination und Erstsymptomen nicht weiter vertieft zu werden. Auch hier folgt der Senat der Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts vom 24.11.2011, wonach ein plausibler zeitlicher Zusammenhang vorliegt, wenn die Symptomatik innerhalb von 14 Tagen nach dem Impfung beginnt, spätestens aber nach vier Wochen klinisch auffällig ist. Vier Wochen nach dem 26.11.2007 war der 24.12.2007. Selbst bei großzügiger Auslegung der Beschwerden des Klägers traten erste Beschwerden jedenfalls nicht innerhalb von vier Wochen auf, denn der Kläger hat hiervon erst nach Weihnachten berichtet. Die vom Kläger bei Klageerhebung genannten Beschwerden ab dem 20.12.2007 überzeugen den Senat nicht, denn dieser Vortrag ist erst 2011 mit Klageerhebung erstmals vorgebracht worden.

Die Pathogenese einer ADEM (oder auch eines Guillain-Barrée-Syndroms) verläuft in der Reihenfolge Immunstimulus – Immunreaktion - überschießende Immunreaktion - Markscheidendestruktion-demyelisierende Neuritis oder Enzephalitis-Therapie mit einem Kortison-Präparat (z.B. Prednisolon) zur Unterdrückung der überschießenden Immunreaktion. Bei dem Immunstimulus handelt es sich in den meisten Fällen um eine Virusinfektion oder eine medikamentöse Wirkung mit Haptenbindung. Hauptauslöser einer ADEM ist eine Virusinfektion. Beim Kläger bestand sogar eine Antikörperreaktion auf ein bestimmtes Virus, nämlich das Zytomegalie-Virus. Diese Tatsache lässt jedenfalls nicht die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Rückführung auf die Impfung zu.

Entgegen den Ausführungen des Klägers in seiner letzten Stellungnahme vom 31.05.2019 kommt es im Zusammenhang mit der ursächlichen Rückführung eines Krankheitsgeschehens auf eine Impfung nicht darauf an, dass eine mögliche andere Ursache der Erkrankung im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein müsste, um nicht eine impfbedingte Erkrankung anzunehmen. Die Argumentation des Klägers, dass die virusbedingte Erkrankung durch den Zytomeglie-Virus von Prof. Dr. D ... und Dr. C ... nicht nachgewiesen worden sei, führt nicht im Umkehrschluss dazu, dass die impfbedingte Schädigung erwiesen sei. Anders als in den von der Prozessbevollmächtigten zitierten Entscheidungen zur sog. "inneren Ursache" im Unfallversicherungsrecht, geht es vorliegend nicht darum, einen überwiegend wahrscheinlichen Kausalversauf zu entkräften, vielmehr geht es darum, den Kausalverlauf erstmalig festzulegen. Eine impfbedingte Schädigung lässt sich jedoch aufgrund der vorstehend genannten Zweifel nicht hinreichend wahrscheinlich nachweisen.

Entgegen der Ansicht von Gutachter Dr. R ... aus der ersten Instanz folgt der Senat nicht der Auffassung, dass die stattgefundene Hepatitis-A-Impfung des Klägers am 26.11.2007 weit überwiegend wahrscheinlich zu den jetzigen Gesundheitsstörungen des Klägers geführt hat, da Dr. R ... auch nach Ansicht von Prof. Dr. D ... die Zytomegalie-Virus-Infektion nicht in der erforderlichen Form mit berücksichtigt hat. Der Gutachter Dr. R ... hat die Gesamtkonstellation der klinischen und Laborbefunde nicht genügend gewürdigt. Ein Ausschluss einer Virusinfektion ist jedenfalls nicht möglich. Und ein Nachweis im Sinne des Vollbeweises des Zytomegalie-Viruses ist eben gerade nicht erforderlich, um eine impfbedingte Wahrscheinlichkeit abzulehnen.

Der Frage, ob der Kläger möglicherweise an MS erkrankt ist und nicht an ADEM, brauchte nicht weiter nachgegangen werden, denn nach weit überwiegender Meinung in der aktuellen medizinischen Forschung besteht kein Zusammenhang zwischen einer Impfung (egal welcher Art) und einer Erkrankung an MS (zuletzt große Studie im Jahr 2019 veröffentlicht von Prof. Dr. Bernhard Hemmer, TU München, veröffentlicht in Neurology 2019, online 30.07.2019 = http://doi.org/10.1222/WNL.0000000000008012).

Nach alledem war der Berufung des Beklagten stattzugeben, das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Mit in die Kostenentscheidung waren auch die Kosten für das Beschwerdeverfahren beim BSG einzubeziehen (vgl. 5. des Beschlusses vom 27.09.2018).

Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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