L 6 AS 562/18

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 9 AS 235/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 562/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zu den Auswirkungen fehlender Verfahrenshandlungsfähigkeit auf die Bekanntgabe eines (belastenden) Verwaltungsakts und der vorherigen Anhörung
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 30. Juli 2018 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger auch für das Berufungsverfahren die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die vollständige Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2009 und die Erstattung der für diese Zeit erbrachten Leistungen in Höhe von insgesamt 30.398,86 Euro.

Der 1957 in Äthiopien geborene Kläger kam Ende der 1980er Jahre in die Bundesrepublik Deutschland und ist mittlerweile deutscher Staatsbürger. In der Bundesrepublik nahm er – nachdem er vor der Einreise schon an der Universität Addis Abeba studiert hatte – 1997 ein Studium an der Universität Kassel auf. Ab 1. Januar 2005 bezog er Arbeitslosengeld II von dem Beklagten (beziehungsweise von dessen Rechtsvorgängerin, der Arbeitsförderung Kassel Stadt GmbH; im Folgenden einheitlich: Beklagter), und zwar – jedenfalls im streitigen Zeitraum – durchgängig.

Ob namentlich anlässlich der Erstantragstellung am 22. Dezember 2004, einem der Fortzahlungsanträge oder der Erarbeitung einer im Mai 2005 zwischen den Beteiligten abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung das Studium des Klägers thematisiert wurde, ist aus den Akten nicht ersichtlich. In den Anträgen erwähnte der Kläger das Studium nicht; allerdings wurde in den von Beklagten verwendeten Formularen bis in das Jahr 2008 auch nicht explizit nach einem Studium gefragt, sondern nur – und auch dies nur bei der Erstantragstellung – danach, ob der Antragsteller "Auszubildender – auch in Schulausbildung –" sei (vgl. Leistungsakte – im Folgenden: LA – Bl. 2). In dem ab Sommer 2008 verwendeten Formblatt für Fortzahlungsanträge wurde nach "Änderungen in den persönlichen Verhältnissen" gefragt, wobei als Unterfall "Studentin/Student seit " vorgesehen war – was der Kläger jeweils verneinte (vgl. LA Bl. 327 und Bl. 384).

Spätestens im Rahmen einer persönlichen Vorsprache am 8. August 2005 teilte der Kläger dem Beklagten allerdings mündlich mit, dass er noch an der Universität eingeschrieben sei (vgl. den entsprechenden Vermerk des Sachbearbeiters des Beklagten LA Bl. 1441). Zu einer Vorsprache des Klägers am Folgetag hielt der Beklagte in einem weiteren Vermerk fest, der Kläger sei eingeschrieben für Stadtplanung und Umweltökologie, habe jedoch zur Zeit ein Urlaubssemester auf Grund einer Erkrankung. Die Diplomarbeit sei geschrieben, die mündliche Prüfung fehle noch und werde voraussichtlich im September 2005 erfolgen. Der Kläger wolle dann wieder vorsprechen. Wegen der Einzelheiten wird auf LA Bl. 1442 f. Bezug genommen. Auch im Rahmen eines Telefonats am 16. September 2005 waren – vor dem Hintergrund des Wunsches des Klägers, der Beklagte möge ihm einen CAD-Kurs für Architekten finanzieren – das Studium, die dort erworbenen Kenntnisse und die nach Auffassung des Beklagten bestehende Notwendigkeit, nach Abschluss des Studiums zunächst Bewerbungsbemühungen zu unternehmen, bevor ein entsprechender Kurs gefördert werden könne, Thema (vgl. den entsprechenden Vermerk LA Bl. 1446).

Mit Schreiben vom 3. Oktober 2005 (Gerichtsakte – im Folgenden: GA – Bl. 163), das einen Eingangsstempel des Beklagten vom selben Tage trägt, legte der Kläger ein Zeugnis aus dem September 2005 über die Diplom-Prüfung I als Diplom-Ingenieur in der Fachrichtung Stadtplanung vor und teilte mit, dass er für die Diplomprüfung II in der Fachrichtung Stadtplanung eingeschrieben sei. Zu einer persönlichen Vorsprache am 16. Januar 2006 hielt der Beklagte in einem Vermerk (LA Bl. 1447) fest, der Kläger habe "Diplom und Nachweis CAD Lehrgänge" vorgelegt. Er habe sich erfolglos um Arbeit als "Dipl.-Ingenieur Stadtplanung" beworben.

Bald nach Abschluss des Aufbaustudiengangs Ökologische Stadtplanung im Juli 2006 legte der Kläger – wohl im Rahmen einer persönlichen Vorsprache – noch das entsprechende Zeugnis vor. Ob aus diesem Anlass die Fortführung des Studiums zwischen den Beteiligten thematisiert wurde, ist dem von dem Beklagten hierzu gefertigten Vermerk (LA Bl. 1448) nicht zu entnehmen. Tatsächlich belegte der Kläger bis 30. September 2009 den weiteren Studiengang Stadt- und Regionalplanung zur Erlangung des Diploms II; wegen der Einzelheiten wird auf die Studienverlaufsbescheinigung der Universität Kassel vom 16. Dezember 2019 (GA Bl. 565 f.) Bezug genommen. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob, wann und mit welchem Inhalt der Kläger den Beklagten hierüber informierte.

Im Sommer 2012 gelangte – soweit ersichtlich im Rahmen vermittlerischer Bemühungen um die Aufarbeitung der Ausbildungs- und Arbeitsbiographie des Klägers – eine Studienverlaufs- und eine Exmatrikulationsbescheinigung zu den Akten des Beklagten, aus der das Studienende (erst) zum 30. September 2009 ersichtlich war; wegen der Einzelheiten wird auf LA Bl. 1292 f. Bezug genommen. Der Beklagte hörte den Kläger daraufhin mit Schreiben vom 17. September 2012 (LA Bl. 1362 f.) – dessen Zugang der Kläger allerdings später in Frage stellte – zur Aufhebung und Erstattung der ihm bewilligten Leistungen sowie zu einer Aufrechnung mit den aktuell gewährten Leistungen an. Gemäß § 7 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bestehe während des Studiums kein Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch. Der Kläger habe daher in der Zeit vom 1. Oktober 2006 bis zum 30. September 2009 30.398,86 Euro zu Unrecht erhalten.

Der Kläger äußerte sich mit Schreiben vom 20. September 2012 (Bl. 25 GA) sowie vom 2. Oktober 2012 (LA Bl. 1383); dabei machte er der Sache nach geltend – und verlangte eine entsprechende Bestätigung des Beklagten –, dass die ihn betreuenden Sachbearbeiter gewusst hätten, dass er in der streitigen Zeit Student gewesen sei, und er in den Jahren 2005 und 2006 die entsprechenden Zeugnisse vorgelegt habe.

Mit dem streitigen Bescheid vom 19. November 2012 hob der Beklagte die einzeln aufgeführten Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2009 auf der Grundlage von § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) und § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) "ganz" auf und machte die Erstattung überzahlter Leistungen sowie von Beiträgen zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung in Höhe von insgesamt 30.398,86 Euro auf der Grundlage von § 50 SGB X beziehungsweise § 40 Abs. 2 Nr. 5 SGB II in Verbindung mit § 335 Abs. 1 SGB III geltend. Der Kläger habe während seines Studiums gemäß § 7 Abs. 5 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen gehabt. Seiner Verpflichtung aus § 60 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I), alle Änderungen in den maßgeblichen Verhältnissen mitzuteilen, sei er zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Wegen des Inhalts des Bescheides und seiner Begründung wird im Übrigen auf GA Bl. 12 ff. Bezug genommen.

Der Kläger legte am 18. Dezember 2012 Widerspruch ein. Der Sache nach machte er geltend, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei nicht eingetreten. Auch habe er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt, die gewährten Leistungen vielmehr in gutem Glauben verbraucht. Es sei nicht ersichtlich, dass ihn der Beklagte zur Auskunft über ein Studium aufgefordert habe. Das Studium sei diesem im Übrigen durchgängig bekannt gewesen. Selbst bei Annahme einer Änderung der Verhältnisse sei zudem nicht nachgewiesen, dass er nicht hilfebedürftig gewesen sei. Zudem hätte vor Erlass des Bescheides eine Anhörung stattfinden müssen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf GA Bl. 16 ff. Bezug genommen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 2013 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger sei mit Schreiben vom 17. September 2012 angehört worden. Bis 30. September 2009 habe ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 5 SGB II bestanden. Insoweit seien die Bewilligungsentscheidungen von Anfang an rechtswidrig gewesen. Auf Vertrauen könne sich der Kläger nicht berufen. Entgegen seinen Angaben im Rahmen der Anhörung beziehungsweise im Widerspruch habe er das Weiterbetreiben seines Studiums nicht angegeben. Die Entscheidung beruhe damit auf Angaben, die er mindestens grob fahrlässig unrichtig oder unvollständig gemacht habe (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Er habe die Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung zudem gekannt beziehungsweise hätte diese erkennen können (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Wegen der Einzelheiten wird auf GA Bl. 21 ff. Bezug genommen.

Nachdem der Kläger zunächst am 19. Februar 2013 und am 6. März 2013 dem Beklagten nochmals sein Widerspruchsschreiben übersandt hatte, wandte er sich – nachdem ihm der Widerspruchsbescheid am 11. März 2013 förmlich zugestellt worden war (vgl. LA Bl. 1608) – am 13. März 2013 an den Beklagten und erhob Einwände gegen den Widerspruchsbescheid; insoweit wird auf LA Bl. 1605 f. verwiesen. Mit Eingang am 10. April 2013 hat er zudem unmittelbar Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben.

Bereits zuvor hatte der Beklagte mit Blick auf eine bei dem Kläger vermutete psychiatrische Erkrankung ein Gutachten zur Überprüfung seiner Erwerbsfähigkeit ins Auge gefasst. Am 2. Februar 2013 hatte der Kläger zudem selbst beantragt, dass seine Erwerbsfähigkeit überprüft werden solle, und beanstandet, dass davon ab Juli 2012 abgesehen worden sei (vgl. LA Bl. 2332). In der Folgezeit ist es allerdings dennoch zu einer umfangreichen Kontroverse hinsichtlich der Mitwirkungsobliegenheiten des Klägers bei der Ermittlung seines Gesundheitszustandes gekommen, weil dieser Zweifel an seiner Prozessfähigkeit und die damit in Zusammenhang stehenden Ermittlungen nicht hat hinnehmen wollen.

Auch der Senat hatte zwischenzeitlich Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers bekommen. Zur Aufklärung hat er ein Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C. eingeholt, das dieser – nachdem der Kläger zur vorgesehenen ambulanten Untersuchung nicht erschienen war – am 27. Juni 2013 nach Aktenlage erstellt hat. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger seit April 2009 wegen einer schwer ausgeprägten wahnhaften Störung nicht mehr in der Lage gewesen sei, Handlungen, welche die Führung von Prozessen beträfen, von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 60 ff. GA Bezug genommen. Nachdem der Kläger die durch Schreiben des Sozialgerichts vom 19. Juli 2013 unter anderem auch in das hiesige Verfahren eingeführten Ergebnisse des Gutachtens in Frage gestellt hatte, hat das Sozialgericht selbst am 25. April 2014 ein weiteres Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. in Auftrag gegeben. Da der Kläger auch dort trotz mehrfacher Einladung zur Untersuchung nicht erschienen ist, hat der Sachverständige am 27. Februar 2015 ein ebenfalls nach Aktenlage erstelltes Gutachten vorgelegt. Er ist wie Dr. C. zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger seit mindestens April 2009 eine schwere andauernde wahnhafte Störung bestehe, die seinen Willen und dessen Bestimmbarkeit so stark beherrsche, dass die freie Willensbestimmung ausgeschlossen sei. Mit Schreiben vom 5. März 2015 hat das Sozialgericht das Gutachten in die zu diesem Zeitpunkt zwischen den Beteiligten bei ihm anhängigen Verfahren eingeführt. Nachdem der Kläger wiederholt trotz Ladung zu Gerichtsterminen, bei denen sich das Sozialgericht einen persönlichen Eindruck von seiner Prozessfähigkeit hatte machen wollen, nicht erschienen war, hat das Gericht – im hiesigen Verfahren durch Beschluss vom 15. Januar 2016 (GA Bl. 212 ff.) – RA E. zum besonderen Vertreter nach § 72 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestellt.

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger geltend gemacht, eine Mitteilungspflicht habe er nicht verletzt. Dem Beklagten sei durchgängig seit dem 1. Januar 2005 bis zum Abschluss seines Studiums bekannt gewesen, dass er an der Universität Kassel eingeschrieben gewesen sei. Auch habe er die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht erkennen können. Er habe auf die Bewilligung vertraut. Für den Fall, dass ein Student wirklich nicht leistungsberechtigt sei, hätte der Beklagte ihm bereits ab 1. Januar 2005 keine Leistungen zahlen dürfen. Er hat zudem eine ausreichende Anhörung bestritten. Durch seinen besonderen Vertreter hat er weiter geltend gemacht, sich auf schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Leistungsbewilligungen berufen zu können. In den anfänglich vom Beklagten verwendeten Antragsformularen sei nicht nach einem Studentenstatus gefragt worden. Als die Formulare im Herbst 2008 erstmals eine entsprechende Frage enthalten hätten, habe für ihn, den Kläger, kein Anlass bestanden, eine Änderung anzuzeigen, da er durchgängig studiert habe.

Der Beklagte hat demgegenüber seinen Bescheid verteidigt und sich darauf berufen, dass der Kläger danach gefragt worden sei, ob er "Auszubildender – auch in Schulausbildung" sei. Auch das Hochschulstudium sei eine Schulausbildung. Gerade bei dem Kläger, der immerhin mehrere Studiengänge absolviert habe, hätte sich damit die Überlegung aufdrängen müssen, dass sein Studium anzugeben sei. Gerade in Anbetracht des bereits erreichten Ausbildungsstandes des Klägers könne man aber auch davon ausgehen, dass diesem der Ausschluss von SGB II-Leistungen durch das Studium bewusst gewesen sein müsse.

Das Sozialgericht hat nach mündlicher Verhandlung, an welcher der Kläger trotz Anordnung der Pflicht zum persönlichen Erscheinen nicht teilgenommen hat, der Klage stattgegeben und durch Urteil vom 30. Juli 2018 den streitigen Bescheid vom 19. November 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 2013 aufgehoben.

Die Klage sei zulässig. Es fehle zwar an der für eine wirksame Klageerhebung erforderlichen Prozesshandlungsfähigkeit des Klägers. Er sei jedenfalls partiell für Behörden- und Gerichtsangelegenheiten im Bereich des Sozialgesetzbuches Zweites Buch als prozessunfähig anzusehen, wie das Sozialgericht unter ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Prozessverhalten des Klägers, den Gutachten von Dr. C., Dr. D. und Herrn F., letzteres aus einem zivilgerichtlichen Betreuungsverfahren, und der fehlenden Bereitschaft, bei dem Sachverständigen Dr. D. zu erscheinen sowie dem Gericht eine persönliche Anhörung hierzu zu ermöglichen, näher ausgeführt hat. Wegen der Einzelheiten wird auf die entsprechenden Ausführungen im Urteil, Umdruck Bl. 17 bis Bl. 21 (GA Bl. 392 ff.), Bezug genommen.

Dementsprechend habe die Kammervorsitzende dem Kläger mit Beschluss vom 15. Januar 2016 Rechtsanwalt E. als besonderen Vertreter bestellt. Das der Vorsitzenden in § 72 Abs. 1 SGG eingeräumte Ermessen ("kann") sei nicht als Entscheidungsoption hinsichtlich des "Ob" der Bestellung eines besonderen Vertreters zu verstehen, sondern lediglich als Ausdruck der Wahlmöglichkeit, entweder auf die Vertretung des Prozessunfähigen durch einen gesetzlichen Vertreter hinzuwirken oder dort, wo dies nicht möglich sei, einen besonderen Vertreter zu bestellen. Die Bestellung eines besonderen Vertreters diene dabei der Prozessökonomie, weil die Einrichtung einer Betreuung nicht abgewartet werden müsse, um den Prozess fortführen zu können (Hinweis auf BSG, Urteil vom 15. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, juris). Ein Betreuer werde dem Kläger ausweislich der vom Amtsgericht und Landgericht Kassel hierzu getroffenen Entscheidungen nicht bestellt. Anlass, die Bestellung des besonderen Vertreters nunmehr aufzuheben oder auch nur abzuändern, habe die Kammer nicht, wie das Sozialgericht wiederum näher unter Verweis auf die nach seiner Auffassung fortbestehende Prozessunfähigkeit, die fehlende Rechtfertigung der Vorwürfe des Klägers gegen den als besonderen Vertreter bestellten Rechtsanwalt E. und die Unzulässigkeit einer erneuten Beschwerde in diesem Zusammenhang ausgeführt hat. Hierzu wird auf Umdruck Bl. 22 f. (GA Bl. 397 f.) verwiesen.

Die als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthafte Klage sei auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 19. November 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 2013 sei rechtswidrig und verletze den Kläger in eigenen Rechten.

Dabei lasse die Kammer dahinstehen, ob der Bescheid formell rechtmäßig sei, insbesondere ob zuvor eine Anhörung gemäß § 24 SGB X stattgefunden habe. Für eine Anhörung spreche für die Kammer aber, dass sie keinen Anlass sehe, warum der Kläger, wenn er das Anhörungsschreiben vom 17. September 2012 nicht erhalten hätte, plötzlich mit Schreiben vom 20. September 2012 gefordert haben sollte, eine Bestätigung über die Kenntnis seiner Sachbearbeiter von seinem Studentenstatus zu bekommen. Außerdem sehe die Kammer, dass der Kläger bei ihm nicht genehmen Unterlagen reflexhaft behaupte, diese nicht erhalten zu haben, auch wenn Zustellungsurkunden oder andere Umstände wie von ihm selbst ergriffene Rechtsmittel dies widerlegten.

In der Sache seien die Bewilligungsentscheidungen des Beklagten für die Zeit vom 1. Oktober 2006 bis 30. September 2009 zwar rechtswidrig gewesen. Nach der im streitgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen Rechtslage hätten Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAFöG) förderungsfähig gewesen sei, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch gehabt. Anhaltspunkte, dass das Studium des Klägers nicht grundsätzlich förderungsfähig gewesen sei, habe die Kammer nicht. Darüber sei allein aufgrund abstrakter Kriterien zu befinden, nicht anhand der Person des Klägers. Auf die Frage, ob er aufgrund seiner bereits seit vielen Jahren andauernden, verschiedenen Studiengänge seinen BAföG-Anspruch erschöpft gehabt habe, komme es demnach nicht an. Urlaubssemester habe er seit dem Wintersemester 2006/2007 ausweislich der Studienbescheinigung nicht mehr eingelegt. Eine besondere Härte (§ 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II) sei im Falle des Klägers, der bereits zuvor über zwei Studienabschlüsse verfügt habe, ebenfalls nicht erkennbar. Nach Auffassung der Kammer habe er seit 1. Januar 2005 bis (mindestens) 30. September 2009 schlicht nie einen Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch gehabt.

Die Voraussetzungen des allein als Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung in Betracht kommenden § 45 SGB X lägen jedoch nicht vor. Der Kläger könne sich auf Vertrauen berufen. Nach Überzeugung der Kammer beruhten die Verwaltungsakte nicht auf Angaben, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Dem Beklagten sei bei seinen Bewilligungen 2005 und Anfang 2006 bekannt gewesen, dass der Kläger als Student eingeschrieben gewesen sei. Im Januar beziehungsweise Juli 2006 habe er Diplom-Zeugnisse vorgelegt. Der Beklagte habe daraus geschlossen, dass der Kläger nicht mehr Student gewesen sei. Es fänden sich in den Akten des Beklagten aber keine Hinweise darauf, dass der Kläger diesbezüglich je nochmals befragt worden wäre. In den von 2005 bis Frühjahr 2008 von dem Beklagten verwendeten Antragsformularen sei die Frage nach einem Studentenstatus nicht vorgekommen. Die Frage nach einem Status als "Auszubildender – auch in Schulausbildung" im Ursprungsformular von 2004 umfasse nach Auffassung der Kammer jedenfalls nicht klar auch den Studentenstatus. In den Folgeanträgen sei dann nur abstrakt nach Veränderungen gefragt worden. Erstmals finde sich eine Frage nach einem Studentenstatus in dem im August 2008 verwendeten Antragsformular, allerdings in der Form, dass nach Änderungen in den persönlichen Verhältnissen gefragt worden sei (Ziff. 2c). Eine Änderung sei beim Kläger jedoch nicht eingetreten gewesen, er sei seit 1997 durchgehend Student gewesen.

Nach Überzeugung der Kammer habe der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen auch nicht gekannt beziehungsweise habe er diese nicht nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Hs. 1 SGB X). Nachdem die partielle Prozessunfähigkeit des Klägers von den vom Sozialgericht und vom Hessischen Landessozialgericht gehörten Sachverständigen erst seit April 2009 angenommen werde, komme diesem Aspekt im vorliegenden Verfahren zwar keine Bedeutung zu. Nachdem der Beklagte jedoch in voller Kenntnis des Studentenstatus des Klägers bereits seit 2005 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch erbracht gehabt habe, habe es nach Auffassung der Kammer für den Kläger keinen Anhaltspunkt gegeben, dass dies dann ab 1. Oktober 2006 plötzlich rechtswidrig gewesen sein könnte. Beim Kläger habe sich allein das Studienfach geändert, nicht sein Status.

Der Beklagte hat – nach Versendung des Urteils am 19. September 2018 – mit Eingang am 15. Oktober 2018 Berufung eingelegt.

Der Senat hat dem Kläger durch Beschluss des Senatsvorsitzenden vom 22. Januar 2019 – mit Einverständnis sowohl des Klägers wie des beigeordneten Rechtsanwalts – RA Dr. B. als besonderen Vertreter nach § 72 Abs. 1 SGG beigeordnet. Wegen der Einzelheiten wird auf GA Bl. 464 ff. Bezug genommen.

Zur Begründung seiner Berufung macht der Beklagte im Wesentlichen geltend, die Rechtsauffassung des Sozialgerichts, dem Kläger sei eine grob fahrlässige Verletzung von Mitteilungspflichten nicht vorzuwerfen, da er sein Studium angegeben habe, greife zu kurz. Das Gericht habe in dem angegriffenen Urteil nämlich auch festgestellt, dass der Kläger zunächst mitgeteilt habe, er befinde sich in einem Urlaubssemester. Er habe dann zum Ende der Urlaubssemester seine Diplomzeugnisse vorgelegt. Seit dem "Wintersemester 2006" habe er aber kein Urlaubssemester mehr eingelegt. Er sei wieder als ordentlicher Student eingeschrieben gewesen. Darin liege durchaus eine erhebliche Änderung in den Verhältnissen, die er dem Beklagten gegenüber hätte mitteilen müssen. Auch hält der Beklagte daran fest, dass der Kläger allenfalls auf Grund grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht erkannt habe. Die Verfahrenshandlungsunfähigkeit des Klägers habe er, der Beklagte, nicht erkennen können. Bis zu deren Feststellung sei der Kläger als prozessfähig zu behandeln gewesen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 30. Juli 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vorbringens das erstinstanzliche Urteil.

Der Senat hat den Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 5. Februar 2020 persönlich gehört; insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Weiter hat der Beklagte auf Anforderung des Senats die zum Kläger gefertigten und elektronisch gespeicherten Beratungsvermerke seit 17. Juli 2016 vorgelegt; die früheren Beratungsvermerke seien "wohl systemseitig gelöscht worden". Diesbezüglich wird auf GA Bl. 497 ff. Bezug genommen. Im Übrigen wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes auf die gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat den Bescheid des Beklagten vom 19. November 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 2013 zu Recht aufgehoben, da dieser sowohl formell wie materiell rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

I. Die Berufung ist zulässig, insbesondere angesichts des streitigen Betrages auf der Grundlage von § 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG von Gesetzes wegen statthaft sowie den Vorgaben des § 151 Abs. 1 SGG entsprechend form- und fristgerecht eingelegt.

Nachdem die Berufung allein durch den – erstinstanzlich in vollem Umfang unterlegenen – Beklagten eingelegt worden ist, spielt in diesem Zusammenhang die (möglicherweise weiterhin fehlende) Prozessfähigkeit des Klägers keine Rolle. An dieser Stelle ist daher nur darauf hinzuweisen, dass der Kläger entweder zwischenzeitlich selbst wieder als prozessfähig anzusehen ist – er hat sein Prozessverhalten in den letzten Monaten, vermutlich auf Grund der Vertretung durch RA Dr. B., vollständig verändert – oder er, sollte dies nicht der Fall sein, durch RA Dr. B., der ihm durch Beschluss des Senatsvorsitzenden vom 22. Januar 2019 als besonderer Vertreter nach § 72 Abs. 1 SGG beigeordnet worden ist, ausreichend vertreten ist.

II. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben.

1. Es ist zunächst zutreffend von der Zulässigkeit der erhobenen Klage ausgegangen.

a) Diese ist als reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG) statthaft, nachdem sich der Kläger gegen einen ihn beschwerenden Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X) wehrt.

In diesem Zusammenhang kommt es (noch) nicht darauf an, ob der Bescheid wirksam bekanntgegeben wurde oder ob er – mangels wirksamer Bekanntgabe – (weiterhin) nicht wirksam geworden ist (vgl. zur Notwendigkeit der Bekanntgabe § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Auch in diesem Fall nämlich ist die Anfechtungsklage zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes zulässig, wenn sich der Leistungsträger auf den vermeintlichen Bescheid beruft: In diesem Fall hat der Betroffene ein schützenswertes Interesse daran, dass der Rechtsschein eines ihn belastenden Verwaltungsaktes beseitigt wird, schon weil er andernfalls gewärtigen müsste, dass der Leistungsträger den Bescheid zu vollstrecken versucht (vgl. nur Keller, in: Meyer-Ladewig u.a., SGG – Kommentar, 12. Aufl. 2017, § 54 Rn. 8a; Engelmann, in: von Wulffen/Schütze, SGB X – Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 37 Rn. 23). In diesem Falle ist nach Auffassung des Senats – jedenfalls auch – eine Anfechtungsklage zulässig (vgl. Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 37 Rn. 154; Littmann, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch, § 37 SGB X Rn. 43 [Stand: Mai 2017]).

Die Klage ist auch wirksam erhoben: Zwar geht der Senat (jedenfalls) für den Zeitraum der Klageerhebung von fehlender Prozessfähigkeit des Klägers (§ 71 Abs. 1 SGG i.V.m. § 104 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –) aus, so dass er selbst nicht zur wirksamen Klageerhebung in der Lage war. Bereits der erstinstanzlich aus diesem Grunde bestellte besondere Vertreter nach § 72 Abs. 1 SGG, Rechtsanwalt E., hat jedoch die Klageerhebung zumindest konkludent genehmigt (vgl. zur Genehmigungsmöglichkeit von schwebend unwirksamen Prozesshandlungen für viele: BSG, Urteil vom 21. Juni 2001 – B 13 RJ 5/01 R –, juris; speziell zum Fall der Prozessunfähigkeit und aus jüngster Zeit: BSG, Beschluss vom 2. Oktober 2018 – B 2 U 5/18 BH –, juris). Zur Wirksamkeit von dessen Bestellung nimmt der Senat auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts zu dieser Frage Bezug.

Die Klage ist weiter rechtzeitig erhoben. Die Monatsfrist für ihre Erhebung aus § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG ist hier schon deswegen gewahrt, weil der Widerspruchsbescheid dem Kläger erst am 11. März 2013 zugestellt worden und ihn damit erstmals – nachweisbar – zugegangen ist. Im Übrigen fehlt es, wie nachfolgend näher auszuführen sein wird (vgl. sogleich unter b.aa.(1.)), wegen der Verfahrenshandlungsunfähigkeit des Klägers ohnehin an einer wirksamen Zustellung oder Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. Die Klagefrist hatte daher, nachdem die Heilung eines Bekanntgabemangels – sofern es zu einer solchen überhaupt gekommen sein sollte – nicht rückwirkend, sondern ex nunc erfolgt (vgl. nur Engelmann, in: von Wulffen/Schütze, SGB X – Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 37 Rn. 23b; Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 37 Rn. 160), jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zu laufen begonnen.

b) Das Sozialgericht ist weiter im Ergebnis zu Recht auch von der Begründetheit der Klage ausgegangen.

aa) Der angegriffene Bescheid ist allerdings bereits formell rechtswidrig.

(1.) Es dürfte zunächst (bis heute) an einer wirksamen Bekanntgabe (oder Zustellung) des streitigen Bescheides fehlen; sofern dieser Mangel geheilt worden sein sollte, wäre jedenfalls die Frist aus § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt (vgl. dazu im Einzelnen unter bb (2) (b)).

Sowohl Zustellungen wie die grundsätzlich zulässige formlose Bekanntgabe von Bescheiden (vgl. dazu § 37 SGB X) können nur an einen verfahrenshandlungsfähigen Betroffenen erfolgen (vgl. für viele BSG, Urteil vom 27. August 1998 – B 10 KR 5/97 R –, BSGE 82, 283 = juris, Rn. 40 und Engelmann, in: von Wulffen/Schütze, SGB X – Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 37 Rn. 8).

Wie der Senat mehrfach entschieden hat, war der Kläger jedoch seit April 2009 (und zumindest in dem gesamten für eine wirksame Anhörung und eine rechtzeitige Bekanntgabe im hiesigen Verfahren relevanten Zeitraum im hiesigen Verfahren bis Ende 2013) andauernd prozess- und verfahrenshandlungsunfähig für Verfahren mit Bezug zur Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der Vorschrift des § 71 Abs. 1 SGG zufolge ist ein Beteiligter prozessunfähig, soweit er sich nicht durch Verträge verpflichten kann. Dies ist unter anderem der Fall bei Personen, die nicht geschäftsfähig sind, weil sie sich im Sinne von § 104 Nr. 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befinden und deshalb nicht in der Lage sind, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl. nur BSG, Urteil vom 15. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, SozR 4-1500 § 72 Nr. 2 = juris, Rn. 7). Für die Verfahrenshandlungsfähigkeit im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB X gelten die gleichen Maßstäbe, nachdem auch dort auf die Regelungen des bürgerlichen Rechts verwiesen wird.

Nach dem im Verfahren L 6 AS 397/12 B ER vom Senat eingeholten und auch im vorliegenden Rechtsstreit im Rahmen des Urkundenbeweises verwertbaren Sachverständigengutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. C. vom 27. Juni 2013 litt der Kläger jedenfalls seit April 2009 unter einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit in Form einer schwer ausgeprägten wahnhaften Störung (ICD 10 F22.0) vom Subtypus Verfolgungswahn. Aufgrund dessen war er nicht mehr in der Lage, hinsichtlich solcher Handlungen, welche die Führung von sozialgerichtlichen Prozessen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende und ebenso von Verwaltungsverfahren mit dem Beklagten betrafen, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.

Die Ausführungen des Sachverständigen zur Prozess- und dementsprechend auch zur Verwaltungsverfahrenshandlungsunfähigkeit des Klägers sind jedenfalls für den maßgeblichen Zeitraum nach wie vor einleuchtend und überzeugend. Auch der persönliche Eindruck, den der Senat sich in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger hat verschaffen können, und dessen Einlassung, er sei nach seiner Auffassung nie prozess- und verfahrenshandlungsunfähig gewesen, vermögen die diesbezügliche Überzeugung des Senats für die im hiesigen Verfahren maßgebliche Zeit in den Jahren 2012/2013 nicht zu erschüttern. So spricht sicherlich viel – und auch der aktuelle Eindruck in der mündlichen Verhandlung – dafür, dass der Kläger gegenwärtig wieder prozess- und verfahrenshandlungsfähig ist. Für die zurückliegenden Zeiträume gilt dies jedoch nicht; insoweit folgt der Senat vielmehr weiterhin den übereinstimmenden und fundierten Einschätzungen insbesondere von Dr. C. und Dr. D ...

Zwar ist das von Dr. C. erstellte Gutachten vom 27. Juni 2013 nach Aktenlage und ohne Untersuchung des Klägers erstellt worden, weil dieser zu dem vom Gutachter bestimmten Untersuchungstermin nicht erschienen ist. Der Sachverständige verfügt andererseits aber nicht nur über die allgemein zur Beurteilung der von Seiten seines neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets maßgeblichen Aspekte erforderliche akademische Ausbildung, sondern darüber hinaus auch über eine langjährige Erfahrung in der Anfertigung von Sozialgerichtsgutachten. Den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen zufolge kam bereits dem Inhalt der ihm überlassenen Akten eine derartige Aussagekraft zu, dass auf deren Grundlage und nach sorgfältigem Abwägen des Für und Wider bei dem Kläger eine schwer ausgeprägte Beeinträchtigung der geistig-seelischen und sozialen Fertigkeiten wegen einer wahnhaften Störung vom Subtypus Verfolgungswahn als nachgewiesen angesehen werden muss, aufgrund derer er im maßgeblichen Zeitraum – hier also insbesondere in den Jahren 2012 und 2013 – nicht mehr dazu in der Lage war, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen hinsichtlich der zur Diskussion stehenden Handlungen (Prozesse und Verwaltungsverfahren führen) abhängig zu machen. Es handelt sich bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. C. um einen fachlich hochkompetenten, kritischen und beruflich trainierten Sachverständigen mit hoher Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf die Beurteilung von Gesundheitsbeeinträchtigungen auf psychiatrischem Fachgebiet, so dass der Senat keinerlei Bedenken hat, sich dessen Beurteilung zu eigen zu machen und es im Ergebnis als nachgewiesen anzusehen, dass der Kläger wegen seiner Erkrankung seit 2009 (und jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitraum bis Ende 2013) prozess- und verfahrenshandlungsunfähig war. Ernstzunehmende Anhaltspunkte dahingehend, dass das Sachverständigengutachten vom 27. Juni 2013 Mängel aufwiese, in sich widersprüchlich wäre, von unzulässigen Voraussetzungen ausginge oder Zweifel an der Sachkunde des Gutachters erweckte, sind weder vom Kläger aufgezeigt worden noch sonst erkennbar.

Bereits Umfang und Art der Prozessführung des Klägers ließen im maßgeblichen Zeitraum vielmehr erkennen, dass er außerstande war, seine Entscheidungen hinsichtlich der Führung von sozialgerichtlichen Prozessen und Verwaltungsverfahren im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Er hat in den Jahren 2009 bis 2013 beim erkennenden Senat jährlich circa 100 neue Verfahren anhängig gemacht, im Jahre 2014 annähernd 200 neue Verfahren, im Jahre 2015 insgesamt 290 neue Verfahren, im Jahre 2016 insgesamt 212 neue Verfahren, im Jahre 2017 insgesamt 15 neue Verfahren und im Jahre 2018 annähernd 40 neue Verfahren. Der Kläger erhob gegen Senatsentscheidungen reflexhaft Beschwerden, Anhörungsrügen und Gegenvorstellungen und hat darüber hinaus zahlreiche Ablehnungsanträge wegen der Besorgnis der Befangenheit gestellt. Dabei wiederholten sich die Rechtsschutzbegehren vielfach und waren oft schon aus Zeitgründen längst überholt, ohne dass der Kläger dies bei seiner Prozessführung berücksichtigt hätte. Vielmehr häuften sich – selbst dann, wenn das Rechtsschutzziel in der Sache ersichtlich nicht (mehr) erreicht werden konnte oder bereits erreicht war – auch Nebenanträge wie beispielsweise Akteneinsichtsgesuche oder die Rüge verweigerter Akteneinsicht durch das Ausgangsgericht.

Neben der ungewöhnlichen Vielzahl der Eingaben belegten auch Inhalt und Diktion der Schreiben des Klägers aus dieser Zeit seine Prozess- und Verfahrenshandlungsunfähigkeit. Aus seinen zahllosen Schreiben war deutlich, dass er sich nicht nur in seinen Rechten verletzt, sondern sich von dem Beklagten wie auch vom Sozialgericht Kassel und vom Hessischen Landessozialgericht verfolgt sah. So hat er zum Beispiel immer wieder vorgetragen, ihm gegenüber werde vorsätzlich die Unwahrheit vermittelt, um ihm zu schaden ("wirklich unwahrste Unwahrheit", "schwerst bzw. gravierend gelogen"), ohne dass er jemals erkennbar eine Einsicht in die gerichtlicherseits ausgeführten Sachargumente hätte entwickeln können und daher in der Lage gewesen wäre, seine Rechte sachgerecht geltend zu machen. Die von Dr. med. C. im Gutachten vom 27. Juni 2013 festgestellte wahnhafte Störung hat im Übrigen auch der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. D. in dem vom Sozialgericht Kassel zur Frage der Prozessfähigkeit des Klägers eingeholten Sachverständigengutachten mit eingehender und überzeugender Begründung ausdrücklich bestätigt.

In dem auf Anregung des Beklagten bei dem Amtsgericht Kassel eingeleiteten betreuungsrechtlichen Verfahren haben sich keine dem entgegenstehende Erkenntnisse ergeben. Das in diesem Verfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen F. vom Gesundheitsamt Kassel – Sozialpsychiatrie –, in welchem dem Kläger wie bereits in den vorstehend genannten Gerichtsgutachten eine wahnhafte Störung attestiert worden ist, gebietet insoweit entgegen der Auffassung des Klägers keine andere Sicht der Dinge. Der auf dieser Grundlage ergangene Beschluss des Amtsgerichts Kassel vom 27. März 2017 über die Bestellung eines Vertreters gemäß § 15 SGB X ist im nachfolgenden Beschwerdeverfahren zwar seitens des Landgerichts Kassel – 3 T 200/17 – durch Beschluss vom 8. Januar 2018 wieder aufgehoben worden. Ausschlaggebend hierfür waren indes allein formale Erwägungen; die hinsichtlich der Prozessfähigkeit des Klägers bestehenden gravierenden Zweifel konnten im Beschwerdeverfahren hingegen nicht entkräftet werden.

Demgegenüber hat der Kläger zwar wiederholt und auch in der mündlichen Verhandlung im hiesigen Verfahren geltend gemacht, dass er sehr wohl durchgehend prozessfähig gewesen sei und dass die eingeholten Sachverständigengutachten aus den verschiedensten Gründen unzutreffend beziehungsweise nicht verwertbar seien. Das überzeugt den Senat jedoch aus den dargelegten Gründen für die hier maßgeblichen Zeiträume in der Vergangenheit nicht.

Nachdem das Verhalten des Klägers unmittelbar im Verhältnis zu dem Beklagten sich mit seinem Prozessverhalten in den gerichtlichen Verfahren deckt, hat der Senat auch keine Zweifel, dass der Kläger nicht nur (partiell) prozessunfähig in den gerichtlichen Streitsachen, sondern auch in den die Grundsicherung für Arbeitsuchende betreffenden Verwaltungsverfahren nicht verfahrenshandlungsfähig im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB X war, nachdem hierfür die gleichen Maßstäbe gelten (vgl. nur Roller, in: von Wulffen/Schütze, SGB X – Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 11 Rn. 6).

Damit konnte der streitige Bescheid nicht wirksam an den Kläger bekanntgegeben werden (vgl. nur BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 – 9 RV 14/96 –, BSGE 80, 283 = juris, Rn. 18). Auch eine förmliche Nachholung der Zustellung oder Bekanntgabe ist nicht erfolgt; das würde voraussetzen, dass der Beklagte durch willentliches Handeln dem (inzwischen wieder) prozessfähigen Kläger selbst oder einem der ihm bestellten Vertreter Kenntnis vom Inhalt des Bescheides verschafft hätte (vgl. zum Begriff der Bekanntgabe: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. August 2019 – L 11 SB 156/18 –, juris, Rn. 32; Engelmann, in: von Wulffen/Schütze, SGB X – Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 37 Rn. 3; vgl. zur Heilung durch Nachholung der Bekanntgabe: BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 – 9 RV 14/96 –, BSGE 80, 283 = juris, Rn. 19). Die (zufällige) Kenntnisnahme vom Inhalt des Bescheides etwa durch Akteneinsicht wird dagegen ganz überwiegend als nicht ausreichend angesehen, um den damit einhergehenden formellen Mangel zu heilen (vgl. nur BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 – B 14 AS 2/13 R –, SozR 4-4200 § 38 Nr. 3 = juris, Rn. 22; Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 37 Rn. 163). Die Kenntnisnahme (zunächst) des erstinstanzlich zum besonderen Vertreter bestellten Rechtsanwalts E. und (inzwischen auch) des besonderen Vertreters im Verfahren vor dem Senat, Rechtsanwalt Dr. B., im Rahmen der Akteneinsicht reichte damit nicht aus, um den Bekanntgabemangel zu heilen. Nachdem viel dafür spricht, dass der Kläger inzwischen wieder als prozessfähig anzusehen ist, wäre dagegen immerhin denkbar, dass der Bescheid – der den Kläger ja unzweifelhaft tatsächlich erreicht hatte – seit dem Zeitpunkt als wirksam bekanntgegeben gelten kann, als der Kläger ihn nach seiner – unterstellten – Genesung zur Kenntnis genommen hat. Der Senat kann dies offenlassen: Eine Heilung des Zustellungs- beziehungsweise Bekanntgabemangels unterstellt, wäre diese jedenfalls – wie noch näher auszuführen sein wird – nicht innerhalb der Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X erfolgt.

(2.) Überdies fehlt es an einer genügenden Anhörung des Klägers.

Zwar spricht alles dafür, dass das Anhörungsschreiben des Beklagten vom 17. September 2012 den Kläger tatsächlich erreicht hat. Insofern kann auf die Ausführungen des Sozialgerichts auf Seite 25 des angegriffenen Urteils Bezug genommen werden. Weiter kann offenbleiben, ob der Beklagte den Kläger noch einmal hätte anhören müssen, nachdem er den Widerspruchsbescheid auf eine andere Rechtsgrundlage, nämlich § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Nr. 3 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III), gestützt hatte als den auf § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III) beruhenden Ausgangsbescheid oder ob dies, weil jedenfalls im Wesentlichen die gleichen tatsächlichen Umstände für die Entscheidung maßgeblich blieben, als entbehrlich angesehen werden kann (vgl. zu dieser Problematik BSG, Urteil vom 26. Juli 2016 – B 4 AS 47/15 R –, BSGE 122, 25 [Rn. 13]).

Jedenfalls kann auch ein nach § 24 Abs. 1 SGB X gebotenes Anhörungsverfahren wirksam nur mit einem verfahrenshandlungsfähigen Beteiligten durchgeführt werden (vgl. für viele BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 – B 14 AS 153/10 R –, BSGE 108, 289 [Rn. 24] – zur Anhörung Minderjähriger –; Roller, WzS 2012, 231 [233]); andernfalls ist ihm, sofern ein gesetzlicher Vertreter, bei Erwachsenen also ein Betreuer, nicht bereits vorhanden ist und auch nicht (hinreichend schnell) bestellt werden kann, ein Vertreter nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X von Amts wegen beizuordnen. So hätte dies auch bei dem Kläger geschehen müssen, der, wie bereits ausgeführt, zum Zeitpunkt der vom Beklagten veranlassten Anhörung nicht verfahrenshandlungsfähig war.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob ihm die Verfahrenshandlungsunfähigkeit bekannt oder auch nur erkennbar war. Auch die verdeckte Verfahrenshandlungsunfähigkeit, auf die sich der Leistungsträger nicht einstellen kann, schließt vielmehr eine wirksame Anhörung (wie auch eine wirksame Bekanntgabe) aus: Es geht in diesem Zusammenhang nämlich in keiner Weise um ein Verschulden der Behörde, sondern allein um den Schutz desjenigen, der seine Rechte auf Grund einer Erkrankung nicht selbst wahren kann (zum Zweck der Regelungen über die Verfahrenshandlungsfähigkeit als Schutzrecht für den Geschäftsunfähigen vgl. auch BSG, Urteil vom 27. August 1998 – B 10 KR 5/97 R –, BSGE 82, 283 = juris, Rn. 28). Gerade der Wahrung dieser Rechte durch die Beteiligung an der Sachverhaltsaufklärung und die Möglichkeit, die eigene Rechtsposition im Vorfeld einer belastenden Verwaltungsentscheidung sachgerecht geltend zu machen, dient aber die Anhörung. Auf Grund dieses Zusammenhangs ist Verfahrenshandlungsfähigkeit zwingende Voraussetzung einer wirksamen Anhörung, da nur in diesem Falle – das ist gerade inhaltlicher Kern und Definitionskriterium der Verfahrenshandlungs(un)fähigkeit – der Betroffene selbst und ohne Unterstützung durch einen Betreuer oder einen Vertreter nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X in der Lage ist, seine Rechtsposition im Rahmen des Anhörungsverfahrens sachgerecht zu Gehör zu bringen.

Der daraus resultierende Mangel ist auch nicht geheilt. Das gilt zunächst für die Zeit bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, das regelmäßig auch ohne förmliche Nachholung des Anhörungsverfahrens eine Heilung bewirken kann, wenn der Betroffene – durch den Ausgangsbescheid über die für die Entscheidung wesentlichen Umstände unterrichtet – sich im Widerspruchsverfahren zu diesen äußern kann. Das aber setzt wiederum voraus, dass der Betroffene in diesem Verfahrensstadium (wieder) verfahrenshandlungsfähig war. Das war jedoch vorliegend nicht der Fall – die Prozess- und Verfahrenshandlungsunfähigkeit des Klägers dauerte nach der insbesondere auf die Gutachten von Dr. C. vom 27. Juni 2013 Überzeugung des Senats vielmehr bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens im Februar 2013 fort.

Auch im Klage- und Berufungsverfahren schließlich ist der Anhörungsmangel nicht geheilt worden. Zwar ist grundsätzlich eine Heilung noch bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens möglich (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X). Im gerichtlichen Verfahren setzt die Heilung jedoch die Durchführung eines eigenständigen, mehr oder weniger förmlichen Verfahrens voraus, durch das die Behörde für den Betroffenen erkennbar die Anhörung nachholt und nach dessen Durchführung eine Entscheidung darüber trifft, ob sie an ihrem Verwaltungsakt festhält (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2016 – B 4 AS 47/15 R –, BSGE 122, 25 [Rn. 19]; BSG, Urteil vom 6. April 2006 – B 7a AL 64/05 R –, juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 16. März 2017 – B 10 LW 1/15 R –, BSGE 122, 302 [Rn. 20]; BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 – B 14 AS 144/10 R –, juris). Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es zu einer Heilung nicht gekommen; ein mehr oder weniger förmliches, von dem Beklagten durchgeführtes (Anhörungs-)Verfahren hat bis zur Entscheidung durch den Senat nicht stattgefunden.

bb) Ohnedies ist der Bescheid auch materiell rechtswidrig. Das gilt zunächst für die Aufhebung der Leistungsbewilligung.

(1.) Der Beklagte hat – jedenfalls im Widerspruchsbescheid – seine Entscheidung zutreffend auf § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III gestützt. Nachdem der Kläger im streitigen Zeitraum durchgängig als Student – ohne weiteres Urlaubssemester oder sonstige erkennbare Unterbrechungen – eingeschrieben war, entsprachen die Bewilligungsbescheide von Anfang an nicht dem materiellen Recht (vgl. § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II, wobei insoweit die Änderungen bezüglich der Leistungen an Auszubildende durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 [BGBl. I S. 1824, 2718] ohne Relevanz sind). Eine nachträgliche wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X, wie noch im Ausgangsbescheid des Beklagten angenommen, ist dagegen nicht ersichtlich. Die Auswechslung der Rechtsgrundlage durch den Beklagten ist allerdings – mit Ausnahme der Frage, ob dadurch eine ergänzende Anhörung notwendig wurde – als solche unproblematisch, da er in beiden Fällen eine gebundene Entscheidung zu treffen hatte, für die im Wesentlichen übereinstimmende tatsächliche Umstände maßgeblich waren.

(2.) Der Aufhebungsbescheid ist aber rechtswidrig, weil der Beklagte die Frist aus § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt hat; der Senat kann sich zudem nicht davon überzeugen, dass die inhaltlichen Voraussetzungen einer Rücknahme für die Vergangenheit nach § 45 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 3 SGB X (und § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II sowie § 330 Abs. 2 SGB III) vorlagen.

(a) Das würde voraussetzen, dass der Kläger den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hätte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X), der Verwaltungsakt auf Angaben beruhte, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hätte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X), oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt oder nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hätte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte, ausgehend von einem subjektiven Maßstab, also namentlich seiner persönlichen Einsichtsfähigkeit, die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Halbs. 2 SGB X). Es ist jedoch nicht erkennbar, dass die genannten qualifizierten Verschuldensvoraussetzungen für die Rücknahme vorlagen. Insoweit kann auf die Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen werden.

Der Beklagte hat demgegenüber in der Berufung namentlich geltend gemacht, der Kläger hätte mitteilen müssen, dass seine Beurlaubung geendet habe. Auch mit Blick hierauf wird jedoch eine für die fortdauernde Leistungsbewilligung ursächliche Verletzung einer Mitteilungspflicht nicht erkennbar, nachdem der Kläger noch im Sommer 2006 – und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem der Beklagte nach den im Jahre 2005 geführten Gesprächen nicht mehr ohne Weiteres von einem ruhenden Studium ausgehen konnte – Zeugnisse eingereicht hat, aus denen deutlich wurde, dass er (aktiv und erfolgreich) weiter studiert hatte.

Hinzu kommt, dass der Beklagte – auf die entsprechende Anforderung des Berichterstatters – nur noch die Beratungsvermerke ab 17. Juli 2006 hat vorlegen können. In den Verwaltungsakten finden sich zwar Beratungsvermerke aus der Zeit vorher, wobei angesichts ihrer Vielzahl und zeitlichen Dichte nicht wenig dafür spricht, dass diese vollständig sind; sicher feststellbar ist dies nicht. Es lässt sich daher nicht mehr abschließend klären, ob der Kläger nicht doch, wie von ihm behauptet, den Beklagten sogar ausdrücklich über den Fortgang seines Studiums informiert hat. Die materielle Beweislast trägt der Beklagte, wobei es keinen Anlass gibt, insoweit zu einer Umkehr oder auch nur Erleichterung der Beweislast zu gelangen, da der Verlust der Vermerke gerade nicht vom Kläger zu vertreten oder seiner Sphäre zuzurechnen ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. Mai 2006 – B 11a AL 7/05 R –, BSGE 96, 238).

Der Bescheid kann unter diesen Umständen bereits dann keinen Bestand haben, wenn die (plausible) Möglichkeit besteht, dass der Kläger den Beklagten ausreichend informiert hat. Davon geht der Senat aus, nachdem der Kläger jedenfalls bis 2006 immer wieder Zeugnisse eingereicht hat, aus denen für den Beklagten die Fortdauer auch eines aktiv betriebenen Studiums erkennbar war. Nachfolgend hat der Kläger keine unzutreffenden Angaben gemacht: Jedenfalls in der Zeit, in der in den vom Beklagten verwendeten und vom Kläger ausgefüllten Formblättern hinreichend deutlich nach einem Studium gefragt wurde, also ab 2008, ist es zu einer Änderung hinsichtlich der Studiensituation des Klägers nicht gekommen, so dass die Verneinung der entsprechenden, auf Veränderungen zielenden Frage ihm nicht vorgeworden werden kann.

Auch vermochte sich der Senat von einer Kenntnis oder auf grober Fahrlässigkeit beruhenden Unkenntnis des Klägers davon, dass er von Leistungen ausgeschlossen war und die Bewilligungsbescheide daher unzutreffend waren, nicht zu überzeugen. Entsprechende Kenntnis des Klägers lässt sich jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen. Das Gleiche gilt auch für das Vorliegen grober Fahrlässigkeit, die – ausgehend von einem subjektiven Maßstab – nur vorliegt, wenn der Leistungsbezieher einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt hat (vgl. für viele BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R –, SozR 3-1300 § 45 Nr. 45 = juris, Rn. 23; Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 45 SGB X Rn. 91).

Vielmehr konnte sich der Kläger durch die wiederholten Bewilligungen in der Annahme bestätigt sehen, er beziehe zu Recht die streitigen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch. So dürfen Leistungsbezieher regelmäßig auf die Richtigkeit des Bescheides vertrauen, jedenfalls wenn sie davon ausgehen können, dass der Behörde die maßgeblichen Umstände bekannt sind (vgl. nochmals BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R –, SozR 3-1300 § 45 Nr. 45 = juris, Rn. 25).

Der Beklagte hatte im Sommer 2005 nicht nur die bis dahin bewilligten Leistungen nicht zurückgenommen, sondern weiter Leistungen bewilligt, obwohl für ihn spätestens zu diesem Zeitpunkt das Studium (und auch dessen Fortführung) erkennbar war. Es ist auch nicht ersichtlich, dass für den Kläger irgendwie erkennbar gewesen wäre, dass dies nur im Hinblick auf das ruhende Studium geschehen wäre. Dies gilt nur umso mehr, als der Beklagte auch im Winter 2005/2006 und im Sommer 2006 Leistungen bewilligt (und die früheren Bewilligungen nicht korrigiert) hat, obwohl ihm spätestens durch die Vorlage des weiteren Zeugnisses im Sommer 2006 deutlich sein musste, dass der Kläger aktiv studiert hatte. Nach Auffassung des Senats bestand vor diesem Hintergrund für den Kläger kein Anlass zu Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Leistungsbewilligung. Gründe, warum dennoch von einem qualifizierten Verschulden des Klägers ausgegangen werden könnte, er also die Bewilligung mit besserer Rechtskenntnis als der Beklagte selbst leicht als falsch hätte erkennen können, sind nicht ersichtlich.

(b) Der Beklagte hat überdies die Aufhebungsfrist aus § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt, wobei für diese – anders als für die Frist nach § 45 Abs. 3 SGB X – das bislang nicht endgültig abgeschlossene Strafverfahren nicht von Bedeutung sein kann.

Die Bestimmung des Fristbeginns ist dabei auf Grund der Verfahrenshandlungsunfähigkeit des Klägers und der Bedeutsamkeit subjektiver Umstände (und damit einer mit dem Kläger ohne Beiordnung eines Vertreters nicht wirksam durchführbaren Anhörung) für die zu treffende Aufhebungsentscheidung nicht einfach möglich. Jedenfalls aber kann der Beklagte sich nicht darauf berufen, dass die Frist noch gar nicht begonnen hätte, sondern der Fristbeginn muss (allerspätestens) mit dem Erlass des streitigen Bescheides angenommen werden. Denn jedenfalls dies markiert die zeitliche Grenze, ab der die Behörde selbst ersichtlich keinen weiteren Informationsbedarf gesehen hat und von der Kenntnis aller notwendigen Tatsachen ausgegangen ist (vgl. zur Maßgeblichkeit einer hinreichend sicheren Tatsachengrundlage für den Fristbeginn und der insoweit maßgeblichen Einschätzung der Behörde: Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 45 SGB X Rn. 111 f.).

Es ist jedoch, wie bereits ausgeführt, nicht ersichtlich, dass innerhalb einer danach (spätestens) am 19. November 2012 beginnenden und somit am 18. November 2013 endenden Jahresfrist eine wirksame Bekanntgabe oder Zustellung des Bescheides erfolgt oder Heilung eingetreten wäre. Der Kläger war während des gesamten Zeitraums nicht verfahrenshandlungsfähig; ihm selbst konnte der Bescheid damit nicht wirksam bekanntgegeben werden, seine tatsächliche Kenntnis konnte nicht zu einer Heilung führen. Die zufällige Kenntnisnahme etwa im Rahmen von Akteneinsicht genügt zur Heilung, wie gesehen, ebenfalls nicht. Selbst wenn man dies aber anders sehen wollte, wäre diese nicht rechtzeitig gewesen: Während des Jahreszeitraums hatten sich zwar die Rechtsanwälte G. und Kollegen für den Kläger zur Akte gemeldet. Abgesehen davon, dass der Kläger diese nicht wirksam rechtsgeschäftlich bevollmächtigen konnte, ist aber auch nicht nachvollziehbar, ob und wann diese Kenntnis von dem streitigen Bescheid genommen haben, nachdem sie im hiesigen Verfahren keine Akteneinsicht genommen haben. Eine Heilung der unwirksamen Bekanntgabe kann daher, wenn überhaupt, (frühestens) durch die Akteneinsichtnahme des zum besonderen Vertreter bestellten Rechtsanwalts E. am 9. März 2017 (vgl. GA Bl. 262) angenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt aber war die Jahresfrist seit langem abgelaufen. Die diesbezüglichen Einwände des Beklagten im Schriftsatz vom 28. Oktober 2019 greifen nicht durch, da es, wie bereits ausgeführt, nicht darauf ankommt, wann er von der partiellen Verfahrenshandlungs- beziehungsweise Prozessunfähigkeit des Klägers Kenntnis erlangt hat und ob er sich darauf einstellen konnte.

Eine Hemmung oder Unterbrechung der sich aus § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ergebenden Ausschlussfrist wegen der Verfahrenshandlungsunfähigkeit kommt nicht in Betracht (vgl. nur BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 – 9 RV 14/96 –, BSGE 80, 283 = juris, Rn. 21).

cc) Nachdem ein Erstattungsverlangen auf der Grundlage von § 50 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II zwingend die Aufhebung der – andernfalls als Rechtsgrund fortbestehenden – Leistungsbewilligung voraussetzt, kann auf Grund der Rechtswidrigkeit des Aufhebungs- auch der Erstattungsbescheid hinsichtlich der unmittelbar an den Kläger gewährten Leistungen keinen Bestand haben. Gleiches gilt für die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge nach § 335 SGB III in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 5 SGB II.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es besteht angesichts des vollständigen Unterliegens des Beklagten kein Anlass, diesen nicht auch zur vollständigen Übernahme der dem Kläger im Berufungsverfahren entstandenen notwendigen Kosten zu verpflichten.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der in § 160 Abs. 2 SGG abschließend aufgeführten Revisionszulassungsgründe vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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