S 11 BL 18/18

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 11 BL 18/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.04.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2018 verurteilt, dem Kläger ab 18.10.2018 Taubblindengeld zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Der Beklagte erstattet dem Kläger 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Taubblindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).

Der 1979 geborene Kläger stellte am 26.02.2018 einen Antrag auf Gewährung von Taubblindengeld.

Mit Bescheid vom 16.02.2018 war dem Kläger auf seinen Antrag ab 01.01.2018 Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz gewährt worden.

Der Beklagte holte einen Befundbericht des HNO-Arztes Dr. C. ein, der mitteilte, beim Kläger läge ein Usher-Syndrom vor. Seit Geburt bestünde eine Schwerhörigkeit beidseits. Der Kläger sei beidseits mit Hörgeräten versorgt bei hochgradiger sensorineuraler Hypakusis. Nach einer Stellungnahme des ärztlichen Dienstes lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 06.04.2018 den Antrag auf Gewährung von Taubblindengeld ab und führte aus, nach den Unterlagen läge kein Hörverlust von mindestens 80 v.H. vor. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und führte aus, sein Gehör habe sich deutlich verschlechtert. Er legte dazu einen Befund des HNO-Arztes Dr. D. vom 23.04.2018 vor. Nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.06.2018 zurück und führte aus, entsprechend der maßgeblichen Sprachaudiogramme ergebe sich für das rechte Ohr ein Hörverlust von 70%, für das linke Ohr ein Hörverlust von 60%, sodass die Voraussetzungen für die Gewährung von Taubblindengeld weiterhin nicht erfüllt seien.

Der Kläger ließ hiergegen am 09.07.2018 Klage zum Sozialgericht München erheben. Das Gericht hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Augenarztes Dr. F. sowie des HNO-Arztes Dr. D ...

Das Gericht zog die Schwerbehindertenakte bei, aus der hervorgeht, dass mit Bescheid vom 02.03.2018 ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen G, B, Bl, H und RF festgestellt worden waren, bei Einzel-GdB von 100 wegen Blindheit und Einzel-GdB von 30 für Schwerhörigkeit. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme war angemerkt worden, dass die Hörminderung möglicherweise stärker ausgeprägt sei. Dem Kläger gegenüber war deshalb angeregt worden, einen Antrag auf Gewährung von Taubblindengeld zu stellen (vgl. Bescheid vom 16.2.2018).

Das Gericht ließ den Kläger durch Dr. E. am 18.10.2018 HNO-ärztlich untersuchen. Der Sachverständige führt in seinem Gutachten vom 18.01.2019 aus, der Kläger leide an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit beidseits. Das Tonaudiogramm vom 23.04.2018 von Dr. D. korreliere deutlich mit dem gutachterlich erhobenen Tonaudiogramm. Beim Kläger läge ein Hörverlust für 50% der Zahlwörter von 55 dB beidseits vor. Das einfache Gesamtwortverstehen für Einsilber betrage rechts 85 und links 135. Hieraus ergebe sich nach der Tabelle zur Ermittlung des prozentualen Hörverlustes nach Boenninghaus und Röser von 1973 ein prozentualer Hörverlust von 80% für das rechte und linke Ohr.

Der Beklagte führt in seiner Stellungnahme vom 20.03.2019 aus, maßgeblich für die Beurteilung des Hörvermögens sei das Sprachaudiogramm, das am 23.04.2018 noch einen Hörverlust von beidseits 70% zeigte. Zwar korreliere das Tonaudiogramm vom 23.04.2018 sehr deutlich mit dem gutachterlich erhobenen Tonaudiogramm. Es bestünde jedoch eine erhebliche Differenz zum maßgeblichen Sprachaudiogramm. Eine hochgradige Schwerhörigkeit könne daher nicht festgestellt werden. Der Sachverständige Dr. E. führt in seiner ergänzenden Stellungnahme hierzu am 04.07.2019 aus, das Sprachaudiogramm vom 23.04.2018 sei nicht vollständig durchgeführt worden. Es würden die Werte bei 60 und 100 dB fehlen. Es läge daher nur ein korrekt durchgeführtes Sprachaudiogramm, nämlich das vom 18.10.2018, vor. Im Übrigen sei eine Verschlechterung des Hörvermögens innerhalb eines halben Jahres durchaus möglich. In einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme teilt der Beklagte mit, auch wenn das Sprachaudiogramm nicht de lege artis durchgeführt worden sei, so erlaube es dennoch eine korrekte Beurteilung des Hörvermögens. Es sei zweifelsfrei ein Hörverlust von nicht mehr als 70% belegt. In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 24.09.2019 teilt der Sachverständige Dr. E. mit, dass auch nur ein oder zwei nicht verstandene Worte zu einer Verschlechterung des prozentualen Hörverlustes von 70% auf 80% führen können und im Übrigen auch eine altersbedingte Verschlechterung sich im prozentualen Hörverlust bemerkbar mache. Mit einer Stellungnahme des HNO-Arztes Dr. G. vom 17.11.2019 teilt der Beklagte mit, im Sprachaudiogramm des Sachverständigen Dr. E. sei links der Abstand zwischen der Kurve der Verstehensquote der Zahlworte und der Verstehensquote der einsilbigen Worte sehr gering. Im Normalfall sei hier ein größerer Abstand zu fordern. Da die Verstehensquote der einsilbigen Worte mit der Voruntersuchung überstimme, spreche mehr dafür, dass die Verstehensquote der Zahlworte im Sprachaudiogramm vom 18.10.2018 zu schlecht angegeben würde. Insgesamt spreche mehr dafür, dass die Werte des Sprachaudiogramms vom 23.04.2018 zutreffen würden, sodass nur ein prozentualer Hörverlust von 70% vorliege und somit keine Taubheit im Sinne des Bayerischen Blindengeldgesetzes.

Die Sach- und Rechtslage wurde mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 04.12.2019 ausführlich erörtert.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06.04.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2018 zu verurteilen, ihm Taubblindengeld seit Antragstellung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Beigezogen waren die Blindengeldakte sowie die Schwerbehindertenakte.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akten und der Klageakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Sozialgericht München ist sachlich und örtlich zuständig. Die form- (§ 90 SGG) und fristgerecht (§ 87 SGG) erhobene Klage ist zulässig.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Taubblindengeld.

Mit Bescheid vom 16.02.2018 war der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Blindengeld anerkannt worden.

Taubblind i.S. des Art 1 BayBlindG ist ein blinder Mensch mit vollständigem Hörverlust oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit. Eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit liegt bei einem Hörverlust von mindestens 80 v.H. (Artikel 1 Abs. 3 BayBlindG) vor.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und nach Einvernahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass beim Kläger eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 80 v.H. vorliegt und damit ein Anspruch auf Gewährung von Taubblindengeld besteht.

Der Sachverständige, Privatdozent Dr. E., der den Kläger am 18.10.2018 untersucht hat, führt in seinem Gutachten vom 18.01.2018 aus, dass entsprechend der Tabelle zur Ermittlung des prozentualen Hörverlustes nach Boenninghaus und Röser von 1973 ein prozentualer Hörverlust von 80% für das rechte und das linke Ohr und damit eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegt. Hierzu ist festzustellen, dass das Gutachten Dr. E. das einzige Gutachten ist, das de lege artis erstellt wurde. Wie auch der Beklagte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 08.08.2019 feststellt, wurde das Sprachaudiogramm vom 23.04.2018 durch den behandelnden Arzt Dr. D. nicht de lege artis durchgeführt, da die Werte bei 60 dB und 100 dB nicht gemessen wurden. Bezüglich des bei Dr. E. erhobenen Tonaudiogramms korrelieren die Ergebnisse sehr deutlich mit dem Tonaudiogramm von Dr. D. vom 23.04.2018. Der durchschnittliche Hörverlust aus den Werten 250 Hertz, 500 Hertz und 1 Kilohertz aus dem Tonaudiogramm rechts ergibt 61 dB und links 56 dB. Das Ergebnis korreliert deutlich mit dem Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm von 55 dB. Eine Aggravation sieht der Sachverständige als sehr unwahrscheinlich an, da es außergewöhnlich schwierig ist, wiederholt den Hörverlust im Tonaudiogramm mit einem Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm zu korrelieren. Das einfache Gesamtwortverstehen für Einsilber beträgt rechts 85 und links 130. Aus der Tabelle Boenninghaus und Röser von 1973 ergibt sich damit ein prozentualer Hörverlust von 80% für das rechte und das linke Ohr.

Auch die Sozialmedizinerin Dr. H. stellte in ihrer Stellungnahme vom 20.03.2019 für den Beklagten fest, dass das Tonaudiogramm vom 23.04.2018 sehr deutlich mit dem gutachterlich erhobenen Tonaudiogramm korreliert. Das beim Kläger wohl vorliegende Usher-Syndrom 2 sei gekennzeichnet durch eine angeborene unterschiedlich ausgeprägte Schwerhörigkeit, die sich nicht verstärken würde. Hier sei davon auszugehen, dass beim Kläger eine seit Geburt unveränderte hochgradige Schwerhörigkeit vorliegt. Hierzu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass sein Hörvermögen schleichend, insbesondere in den letzten zwei bis drei Jahren, wesentlich schlechter geworden ist. Das berichtet der Kläger auch bei der Antragstellung bezüglich der Schwerbehinderung im Mai 2017. Im Rahmen des Antrages auf Schwerbehinderung wurde der Kläger im Übrigen im Bescheid vom 14.02.2018 vom Beklagten darauf aufmerksam gemacht, einen Antrag auf Gewährung von Taubblindengeld zu stellen, da sich bei der Begutachtung vom 24.01.2018 Hinweise auf eine hochgradige Hörminderung ergeben hätten. Es kann damit nicht davon ausgegangen werden, dass die Schwerhörigkeit im selben Maße seit Geburt vorliegt. Im Sprachaudiogramm vom 23.04.2018 ist das Einsilbenverständnis bei 60 und 100 dB nicht gemessen worden. Hinsichtlich des tonaudiografischen Ergebnisses bei dieser Untersuchung vom 23.04.2018 ist festzustellen, dass das tonaudiometrische Ergebnis mit dem erhobenen Tonaudiogramm durch Dr. E. sehr deutlich korreliert, was auch in der Stellungnahme des Beklagten vom 20.03.2019 festgestellt wird. Bei der Untersuchung durch Dr. E. wurde im Sprachaudiogramm ein Hörverlust von 80% festgestellt. Bei der Untersuchung Dr. E. beträgt das einfache Gesamtverstehen für Einsilber rechts 85 und links 135, sodass sich daraus ein prozentualer Hörverlust von 80% und damit eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits ergibt. Der Sachverständige führt aus, dass der durchschnittliche Hörverlust im Tonaudiogramm deutlich mit dem Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm korreliert und eine Aggravation sehr unwahrscheinlich ist. Des Weiteren ist für das Gericht nachvollziehbar, dass bei der Berechnung des prozentualen Hörverlustes im Sprachaudiogramm minimale Abweichungen zu einer deutlichen Änderung des prozentualen Hörverlustes von 5 bis 10 Prozent führen. Der Kläger hat hierzu auch mitgeteilt, dass im Sprachaudiogramm verwendete Wörter, wie "Maus", "Haus" von ihm immer schwerer zu verstehen sind. Der Sachverständige Dr. E. führt nachvollziehbar aus, dass auch eine geringe altersbedingte Verschlechterung sich prozentual im Hörverlust bemerkbar machen kann. Die Ausführungen des HNO-Arztes Dr. G. in seiner Stellungnahem vom 17.11.2019 nach Aktenlage für den Beklagten konnten das Gericht nicht überzeugen. Dr. G. führt aus, dass im Sprachaudiogramm vom 18.10.2018 (Dr. E.) der Abstand zwischen der Kurve der Verstehensquote der Zahlwörter und der Verstehensquote der einsilbigen Wörter sehr gering sei. Im Normalfall sei hier ein größerer Abstand zu fordern. Des Weiteren führt Dr. G. aus, ein so geringer Abstand beruhe in der Regel auf ungenauen Angaben, Konzentrationsstörungen oder Fehlmessungen. Da die Verstehensquote der einsilbigen Worte mit der Voruntersuchung übereinstimme, spreche mehr dafür, dass die Verstehensquote der Zahlwörter im Sprachaudiogramm vom 18.10.2018 zu schlecht angegeben wurde. Hierzu hatte jedoch der Sachverständige Dr. E. ausgeführt, dass bereits ein, zwei schlecht oder falsch verstandene Wörter zu einer Abweichung führen könne. Die Stellungnahme nach Aktenlage ist daher nicht geeignet, die gutachtlichen Feststellungen des Dr. E., der den Kläger untersucht hat und in seinem ausführlichen Gutachten und in den ergänzenden Stellungnahmen nachvollziehbar ausgeführt hat, dass beim Kläger eine Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vorliegt, zu widerlegen.

Eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit ist nach Auffassung des Gerichts erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung Dr. E. nachgewiesen. Daher war Taubblindengeld erst ab diesem Zeitpunkt zu gewähren.

Da beim Kläger ab dem 18.10.2018 eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von 80 % nachgewiesen ist, war der Klage insoweit stattzugeben und im Übrigen, soweit das Taubblindengeld für die Zeit ab Antragstellung gefordert wird, abzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG. Insoweit war zu berücksichtigen, dass die Klage zum Teil abgewiesen wurde.
Rechtskraft
Aus
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