L 8 V 527/01

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 V 187/99
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 V 527/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 11/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Lette, der Dienst in der deutschen Wehrmacht geleistet hat und dabei von der Roten Armee gefangen genommen worden ist, anschließend als Soldat in der Roten Armee gedient hat und nach dem Krieg in einem russischen Filtrationslager inhaftiert war und dort einen Gesundheitsschaden erlitten hat, stand dabei nicht unter dem Schutz des BVG.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 30. November aufgehoben.Die Klage wird abgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger wegen der gesundheitlichen Folgen eines 1946 erlittenen Stromunfalles in einem sowjetischen Filtrationslager Anspruch auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) hat.

Der am 01.09.1926 geborene, in Lettland lebende Kläger stellte einen dementsprechenden Antrag beim Versorgungsamt Ravensburg (VA) mit Schreiben vom 01.11.1990. Darin führte er aus, am 19.05.1942 sei er nach Deutschland zu Zwangsarbeiten geschickt worden. Am 09.01.1945 sei er in das 15. Lettische Bataillon der SS-Division einberufen worden. In der Nacht vom 04. auf den 05.04.1945 sei er von Russen gefangengenommen worden. Am 09.04.1945 sei er schon als Lette in die Sowjetarmee einberufen worden. Am 16.09.1945 sei er ohne Anklageschrift, Gericht und Untersuchung als ein deutscher Kriegsgefangener ins Lager der NKVD Nr. 258 geworfen worden. Hier habe er sich durch einen Stromunfall am 10.04.1946 schwerste Verletzungen zugezogen. Erst nach sieben Tagen habe die Krankenschwester erreicht, dass der Lagerverwalter ihn ins Krankenhaus geschickt habe. Dort habe ihm der linke Arm amputiert werden müssen.

Ergänzend teilte der Kläger am 22.12.1992 mit, am Unfalltag sei er beauftragt gewesen, eine Grube unter der Hochspannungsleitung zu graben. Plötzlich sei er bewusstlos geworden. Als er das Bewusstsein wiedererlangt habe, habe er sich in der Baracke auf einer Pritsche mit unerträglichen Schmerzen an beiden Armen befunden. Erst nach böswilliger Verzögerung, die sieben Tage angedauert habe, habe der Lagerführer erlaubt, ihn ins Krankenhaus zu bringen, um die Erste Hilfe zu leisten. Im ... Stadtkrankenhaus sei er vom 17.04. bis 18.07.1946 behandelt worden.

Aus der Bescheinigung des Archivs des Verteidigungsministeriums der UdSSR vom 30.01.1958 ergibt sich, dass der Kläger am 09.04.1945 zur Roten Armee als Rotarmist des 205. Schützenregiments des 2. Bataillons einberufen worden ist. Der Kläger habe Dienst geleistet in Deutschland von 1942 bis 1945 und sei am 16.09.1945 in das Speziallager der NKVD Nr. 258 eingeliefert worden.

Dieser Sachverhalt ist auch in der Bescheinigung des Lettischen Ministeriums für die soziale Fürsorge, Riga, vom 02.12.1956 bestätigt worden. Ergänzend ist ausgeführt, die Beschädigung, die der Kläger während des Aufenthaltes im Sonderlager/Speziallager erlitten habe, habe er nicht während der Tätigkeit auf vertraglicher Grundlage erlitten, weshalb ihm aus diesem Anlass keine Invalidenrente gewährt werden könne.

Aus der Archivbescheinigung des Lettischen Historischen Staatsarchivs vom 31.05.1993 ergibt sich, dass der Kläger wegen der Brandwunden des Stromunfalles in der Zeit vom 17.04. bis 27.05.1946 in der Klinik der Stadt J. am linken Arm behandelt und dass dort der linke Arm aufgrund einer Blutvergiftung amputiert worden sei.

Am 18.03.1993 gab das Lettische Historische Staatsarchiv die Auskunft, der Kläger habe vom 09.04.1945 bis zum August 1945 Dienst als Soldat der Roten Armee der 326. Division des Schützenregiments Nr. 1097 geleistet.

Mit Bescheid vom 02.01.1995 lehnte das VA den Antrag des Klägers auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem BVG ab, da der erlittene Unfall kein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand im Sinne des BVG sei und der Kläger somit nicht unter den anspruchsberechtigten Personenkreis des BVG falle. Die Lagerhaft in der Zeit vom 16.09.1945 bis 21.06.1946 könne nicht als Kriegsgefangenschaft gemäß § 1 Abs. 2b BVG gewertet werden, da der Kläger nach seinem Dienst im Rahmen der deutschen Wehrmacht bzw. vor seiner Inhaftierung und Überstellung in das Lager Soldat der Sowjetarmee gewesen sei.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und machte u.a. geltend, er sei nicht freiwillig nach Deutschland zu Zwangsarbeiten gegangen, sondern er sei gezwungen worden, in der Wehrmacht Dienst zu leisten. Wie sich aus der Antwort des Sozialministeriums vom 11.12.1959 ergebe, habe er sich Anfang 1945 bei der deutschen Wehrmacht befunden und sei danach in die Sowjetarmee einberufen worden und gleich als Strafe für diese Wehrmachtszeit in ein besonderes Lager überführt worden. Hieraus werde klar, dass er sich in der Sowjetarmee nur für eine kurze Zeit befunden habe. Im Speziallager sei er eingesetzt worden, um die Strafe für den Wehrmachtsdienst abzubüßen und gerade in dieser Zeit sei er durch den Stromunfall verkrüppelt worden. Wenn er nicht zur deutschen Wehrmacht einberufen worden wäre, hätten die Russen auch keinen Grund gehabt, ihn in das Speziallager zu werfen und er hätte den Stromunfall nicht erlitten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.1995 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, zwar sei davon auszugehen, dass der Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur deutschen Wehrmacht vom 16.09.1945 bis 21.06.1946 in Gewahrsam genommen worden sei, dieser Zeitraum sei jedoch nicht versorgungsrechtlich geschützt, da der versorgungsrechtlich relevante Vorgang des militärischen Dienstes bzw. der Kriegsgefangenschaft mit dem Eintritt des Klägers in die russische Armee am 09.04.1945 geendet habe. Der Kläger habe vom 09.04.1945 bis zu seiner Inhaftierung am 16.09.1945 Dienst in der Sowjetarmee geleistet. Hinsichtlich der anschließenden Zeit vom 16.09.1945 bis 21.06.1946 könne auch nicht von einer Kriegsgefangenschaft im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. b BVG ausgegangen werden, da eine förmliche Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft bei Übertritt in die Sowjetarmee zu unterstellen sei. Der erlittene Unfall am 10.04.1946 stelle somit keinen versorgungsrechtlichen Tatbestand im Sinne des BVG dar.

Dagegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG, S 13 V 1623/95) und verfolgte sein Begehren weiter. Zur Begründung wies er darauf hin, dass er Dienst in der Roten Armee nicht freiwillig, sondern zwangsweise geleistet habe. Wegen seines Dienstes in der deutschen Armee sowie der anschließenden und darauf beruhenden Lagerhaft erhalte er weder eine Rente noch eine Entschädigung vom russischen oder vom lettischen Staat. Nach kurzer Dienstleistung in der Roten Armee sei er interniert worden wegen der Dienstleistung bei der deutschen Armee. Dies zeige deutlich, dass von Seiten der Roten Armee bzw. der Sowjetunion nicht davon ausgegangen worden sei, dass er mit Antritt seines Dienstes bei der Sowjetarmee aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden sei, sondern es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Kriegsgefangenschaft weiterhin angedauert habe und er nun, nachdem er für die Rote Armee nicht mehr habe nützlich sein können, entsprechend seinem Status als Kriegsgefangener ins Filtrationslager abgeschoben worden sei. Insofern unterbreche die Dienstleistung in der Sowjetarmee für drei Monate nicht den versorgungsrechtlich relevanten Zeitraum der Kriegsgefangenschaft, in dessen Verlauf er sich die erhebliche Verletzung zugezogen habe.

Mit Beschluss vom 02.02.1998 ordnete das SG mit dem Einverständnis der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens an.

Im Januar 1999 rief der Kläger den Rechtsstreit wieder an, nachdem inzwischen höchstrichterlich entschieden worden sei, dass ehemalige Angehörige der Lettischen Waffen-SS-Divisionen versorgungsberechtigt seien.

Zu den Fragen, ob der Dienst des Klägers in der russischen Armee möglicherweise freiwilliger Natur gewesen sei und in welchem Umfang vor Kriegsende eine Eingliederung russischer Staatsbürger, die aus dem Ausland gekommen seien, in die Rote Armee bzw. eine sofortige Einweisung in die Kriegsgefangenenlager erfolgt sei, holte das SG das militärhistorische Gutachten des Dr. G ... , vom 25.08.1999 ein. Darin gelangte dieser zu dem Ergebnis, die Sowjetunion, die noch gegen Ende des Krieges einen hohen Bedarf an Soldaten gehabt habe, habe an grenznahen Filtrationspunkten ehemals in Deutschland internierte Zivilisten und Ostarbeiter, die als Zwangsarbeiter im deutschen Einflussbereich tätig gewesen seien, gesammelt. Nach einer am grenznahen Filtrationspunkt erfolgten kurzen Überprüfung seien die Männer im wehrpflichtigen Alter sofort zu den Reserveeinheiten der Fronten/Militärbezirke überstellt worden. Wer so überprüft worden sei, sei zunächst nicht in ein Sonderlager gekommen. Eine Freiwilligkeit für den Dienst in der Roten Armee könne in diesen Fällen deshalb nicht angenommen werden, weil die Überprüfung nicht von einer militärischen Seite, sondern von einer politischen Stelle vorgenommen worden sei. Das habe aber nicht bedeutet, dass damit die Vergangenheit des Klägers als Soldat in dem SS-Grenadier-Ersatz-Bataillon vergessen gewesen sei. Kriegsgefangene und Zivilisten, die in bestimmten deutschen Einheiten gedient hätten, seien insgesamt in die Sonderlager des NKVD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR) eingewiesen worden, wo sie z.B. eine Haft als Vaterlandsverräter hätten abbüßen müssen. Die Einweisung des Klägers in das Filtrationslager bei Riga nach Ende des Krieges sei also konsequent gewesen. In Deutschland gebe es keine zahlenmäßige Auflistung, in welchem Umfang die Eingliederung in die russische Armee zum Ende des Krieges hin geschehen sei. Sicher sei, dass Gefangene mit russischer Staatsbürgerschaft, sofern sie noch wehrpflichtig gewesen seien, sofort zur Truppe gekommen seien. Da sich die kämpfenden Truppen der Roten Armee nicht mit der Problematik der von ihr gefangenen Gegner hätten befassen können, seien diese in das rückwärtige Gebiet gebracht worden. Ziehe man die Entfernung von Deutschland bis zur Grenze der UdSSR und auch die sicher eingeschränkten Verkehrsmöglichkeiten in Betracht, so seien die fünf Tage von der Gefangennahme des Klägers bis zur Überprüfung am grenznahen Filtrationspunkt erklärlich. Eine freiwillige Meldung zur Truppe sei auszuschließen, da die Front, bei der sich der Kläger hätte freiwillig melden können, am 09.04.1945 zwischen Oder und Elbe gelegen habe.

Hierzu wandte der Beklagte ein, er bleibe bei seiner bisherigen Beurteilung, wonach der Dienst des Klägers in der russischen Armee freiwilliger Natur gewesen sei, denn es könne nicht nachvollzogen werden, dass die Sowjetunion feindliche Soldaten, noch dazu SS-Angehörige, für ihre Armee zwangsrekrutiert habe. Anders sei dies möglicherweise bei Zivilisten gewesen. Der Kläger sei aber im Zeitpunkt des Übertritts in die Rote Armee nicht Zivilist, sondern deutscher Soldat gewesen.

Prof. Dr. M, Riga, teilte dem SG am 28.02.2000 mit, gemeinsam mit Herrn C, einem Historiker, habe er den früheren Augenzeugen, den 83-jährigen J. C., der ab Januar 1946 ebenfalls - wie der Kläger - in der Ziegelei in Kalnciems gearbeitet habe, besucht. C. habe ausgesagt, dass es 1945/1946 keine ehemaligen lettischen Legionäre gegeben habe, die als Zwangsarbeiter in der Ziegelei K. gearbeitet hätten. Dementsprechend gebe es für ihn nur die plausible Schlussfolgerung, dass der Kläger nach seiner Entlassung aus dem Filtrationslager K. in der Ziegelei K. freiwillig gearbeitet habe. Dementsprechend sei sein Arbeitsunfall als normaler Betriebsunfall zu werten, weshalb der Kläger seine Rentenansprüche vor allem in Moskau und nicht in Deutschland geltend machen sollte.

Anschließend holte das SG das medizinische Sachverständigengutachten des Dr. S. vom 18.03.2000 ein. Darin gelangte Dr. T.- Internist, Betriebsmedizin, Sozialmedizin - unter Berücksichtigung des auf chirurgisch-orthopädischem Gebiet von Dr. G. am 25.02.2000 erstellten Zusatzgutachtens nach stationärer Untersuchung des Klägers vom 08. bis 10.02.2000 zu dem Ergebnis, beim Kläger lägen folgende gesundheitliche Beeinträchtigungen vor: Zustand nach Stromunfall am 10.04.1946 mit nachfolgender Amputation des linken Oberarmes wegen Infektes der Brandwunden, größere Verbrennungsnarbe am rechten distalen Unterarm, mäßiggradige Handgelenksarthrose, deutliche Funktionseinschränkung im rechten Handgelenk. 2. Rotatorenmanschettendegeneration beider Schultergelenke mit Funktionseinschränkung links stärker als rechts. Unter der Voraussetzung, dass der Stromunfall vom 10.04.1946 als versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand angesehen werde, seien die Schädigungsfolgen wie folgt zu bezeichnen: "Zustand nach Oberarmamputation links (MdE 70%), Narbenbildung im Bereich des rechten distalen Unterarms nach Brandverletzung, Handgelenksarthrose rechts mit deutlicher Funktionseinschränkung im rechten Handgelenk und geringgradiger in den Fingergelenken (MdE 20%)"; insgesamt ergebe sich eine Gesamt-MdE auf chirurgisch-orthopädischem Fachgebiet von 80%. Eine besondere berufliche Betroffenheit des Klägers aufgrund der Schädigungsfolgen sei anzunehmen. Eine manuelle Tätigkeit sei nach Oberarmamputation links und Gebrauchsbeeinträchtigung der rechten Hand und geminderter Belastbarkeit des rechten Handgelenks nicht gegeben. Es wäre z.B. lediglich noch eine Tätigkeit als Pförtner oder Wachmann möglich gewesen.

Mit Urteil vom 30.11.2000 hob das SG die Entscheidung des Beklagten auf und verurteilte ihn, dem Kläger für die Zeit ab November 1990 Versorgung im Rahmen der Auslandsversorgung nach einer MdE um 80 v.H. wegen der Schädigungsfolgen "a) Zustand nach Oberarmamputation links in Schaftmitte mit Fisteleiterung, b) Narbenbildung am rechten Unterarm, c) Funktionseinschränkung im rechten Handgelenk bei Handgelenksarthrose" zu gewähren. Zur Begründung ist in den Entscheidungsgründen des Urteils ausgeführt, entsprechend dem militärhistorischen Gutachten von Dr. G. sei eine freiwillige Meldung des Klägers zur Roten Armee ausgeschlossen.

Gegen das - dem Beklagten am 25.01.2001 - zugestellte Urteil hat der Beklagte am 05.02.2001 Berufung eingelegt. Zur Begründung wird geltend gemacht, entgegen der Auffassung des SG könne nicht davon ausgegangen werden, dass die vom Kläger im Filtrierungslager verbrachte Haft als geschützte Zeit der Kriegsgefangenschaft anzusehen sei. Hierzu werde auf die vom BSG aufgestellten Kriterien der Definition der Kriegsgefangenschaft im BSG-Urteil vom 19.09.2000 - B 9 V 6/00 R - verwiesen. Danach liege eine Kriegsgefangenschaft nur dann vor, wenn der Betreffende wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband gefangengenommen worden sei und von einer feindlichen (ausländischen) Macht festgehalten werde. Keine Kriegsgefangenschaft liege somit bei Gefangennahme durch die eigene kriegsführende Macht vor. Die Festnahme des Klägers während bzw. nach Ablauf des Militärdienstes in der Sowjetarmee mit anschließender Verurteilung und Lagerhaft stelle somit in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG keine Kriegsgefangenschaft im völkerrechtlichen Sinne dar. Zu berücksichtigen sei auch, dass zum Zeitpunkt der Gefangennahme des Klägers Lettland bereits sowjetisches Staatsgebiet gewesen sei und der Kläger mit Dekret der UdSSR vom 07.09.1940 die Staatsangehörigkeit dieses Staates, mithin die sowjetische Staatsangehörigkeit, erlangt habe. Aufgrund dessen könne nicht von einer Kriegsgefangenschaft ausgegangen werden. Eine Versorgung nach dem BVG könne aus diesen Gründen somit nicht erfolgen. Wenn eine rechtsstaatswidrige Strafhaft vorgelegen habe, so sei eine Entschädigung von den Nachfolgestaaten der UdSSR vorzunehmen, wie dies auch das BSG in seinem Urteil ausgeführt habe.

Der Beklagte stellt den Antrag,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 30. November 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, dass die vom Beklagten angeführte Entscheidung des BSG vom 19.09.2000 auf die vorliegende Fallkonstellation nicht anwendbar sei. In dem vom BSG entschiedenen Fall sei der Revisionskläger zum Zeitpunkt seiner Festnahme im Sommer 1945 seit etwa 1 Jahr Zivilist gewesen. Dazu habe das BSG ausgeführt, dass der Revisionskläger als solcher nicht wie ein Soldat gefangengenommen worden sei, sondern aufgrund eines Haftbefehles gesucht und festgenommen worden sei. Diese Ausführungen des BSG ließen sich jedoch nicht auf das vorliegende Verfahren übertragen. Denn er sei nach Beendigung des deutschen Wehrdienstes nicht Zivilist gewesen, sondern vielmehr von der Roten Armee gefangengenommen und in Kriegsgefangenschaft verbracht worden. Anschließend sei er auch nicht freiwillig in die Rote Armee eingetreten.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten, der Akten des SG Stuttgart und der Senatsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig und in der Sache auch begründet. Zu Unrecht hat das SG den Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des im Filtrationslager am 10.04.1946 erlittenen Stromunfalles Versorgung nach dem BVG zu gewähren. Entgegen der Auffassung des SG stellt der Aufenthalt des Klägers im Filtrationslager nicht einen versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand einer Kriegsgefangenschaft dar. Die im Filtrationslager verbrachte Haft kann nicht als geschützte Zeit der Kriegsgefangenschaft angesehen werden.

Nach § 1 Absatz 2 b BVG steht einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 (unter anderem durch eine militärische Verrichtung) gleich Schädigungen, die durch eine Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden sind.

Der versorgungsrechtliche Begriff der Kriegsgefangenschaft entspricht dem völkerrechtlichen (vgl. BSG-Rechtsprechung, u.a. BSGE 3, 268, 269 sowie BSG-Urteil vom 19.09.2000 - B 9 V 6/00 R - m.w.N.). Nach dem Genfer Abkommen über Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27.07.1929, ersetzt durch das 3. Genfer Abkommen vom 12.08.1949, ist Kriegsgefangener, wer wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband gefangengenommen worden ist und von einer feindlichen (ausländischen) Macht festgehalten wird. Die Kriegsgefangenschaft dient vornehmlich der Schwächung der feindlichen Kampfkraft. Ihre eigenen Staatsangehörigen braucht eine kriegsführende Macht nach Völkerrecht nicht als Kriegsgefangene zu behandeln. Sie ist berechtigt, innerstaatliches Recht, also auch die einschlägigen Strafvorschriften anzuwenden.

Nach diesen Kriterien lag ab 16.09.1945 keine Kriegsgefangenschaft vor. Eine solche kann bereits deshalb nicht angenommen werden, weil der Kläger damals nicht als Angehöriger eines militärischen Verbandes einer feindlichen, kriegführenden Macht im Lager inhaftiert worden ist, sondern außerhalb eines Krieges und auch nicht als deutscher Soldat, sondern als Soldat der Roten Armee bzw. als russischer Staatsangehöriger. Die Anordnung der Lagerhaft ab 16.09.1945 diente auch nicht - wie bei Kriegsgefangenen - einer Schwächung der feindlichen Kampfkraft, zumal der Krieg längst beendet war. Der Kläger ist also nicht durch eine mit Deutschland sich im Krieg befindliche Macht in das Filtrationslager verbracht worden, sondern es handelt sich hierbei um eine Maßnahme der Sowjetunion gegenüber ihrem eigenen Staatsangehörigen, der zuvor Dienst in der eigenen Armee geleistet hatte. Lettland ist - ebenso wie die anderen baltischen Staaten - im Sommer 1940 von der Sowjetunion annektiert worden und mit Dekret der UdSSR vom 07.09.1940 haben die Staatsangehörigen der litauischen, lettischen und estnischen Sowjetrepubliken - darunter der Kläger - die Staatsbürgerschaft der UdSSR erworben. Bei der Verbringung des Klägers am 16.09.1945 in das Filtrationslager durch die Rote Armee hat es sich somit um eine Maßnahme der Sowjetunion gegenüber einem sowjetischen Staatsangehörigen gehandelt. Dies kann nicht - entsprechend der o.a. Definition - als die Anordnung einer Kriegsgefangenschaft gewertet werden.

Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Kläger ursprünglich noch während des Krieges als Angehöriger der deutschen Wehrmacht bzw. eines dieser unterstellten Verbandes in russische Gefangenschaft geraten war. Es kann hierbei offen bleiben, ob es sich um Kriegsgefangenschaft im völkerrechtlichen Sinne gehandelt hat, nachdem er zwar als Angehöriger eines feindlichen Verbandes, andererseits aber als russischer Staatsangehöriger in russischen Gewahrsam geraten war. Jedenfalls endete diese Gefangenschaft mit der Übernahme in die Rote Armee am 09.04.1945, und zwar unabhängig davon, ob dies freiwillig oder unter Zwang geschehen ist. In diesem Moment war das Festgehaltenwerden durch eine feindliche Macht im Sinne der Definition der Kriegsgefangenschaft beendet und ein neues hoheitliches Dienstverhältnis des Klägers mit der eigenen Staatsmacht begründet worden. Auch wenn eine kausale Verknüpfung nicht geleugnet werden kann, ist dennoch der Tatbestand des § 1 Absatz 2 b BVG in diesem Moment nicht mehr erfüllt gewesen. Ein insoweit rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der vorangegangenen Gewahrsamszeit kann nicht bejaht werden. Die Zeit in der Roten Armee stellt keinen Überbrückungstatbestand dar.

Nach all dem hat sich der Kläger, als er am 10.04.1946 den Stromunfall erlitten hat, nicht im Dienst der Wehrmacht und nicht in Kriegsgefangenschaft befunden und war damit in diesem Zeitpunkt nicht versorgungsrechtlich geschützt.

Zutreffend hat daher der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid die Gewährung von Versorgung nach dem BVG gegenüber dem Kläger abgelehnt, weshalb das dem entgegenstehende Urteil des Sozialgerichts Stuttgart auf die Berufung des Beklagten hin aufzuheben und die Klage abzuweisen waren.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision beruht auf der grundsätzlichen Bedeutung der entschiedenen Rechtsfrage.
Rechtskraft
Aus
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