S 20 R 462/17

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 462/17
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 01.07.2016 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2017 in Gestalt des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 29.11.2018 wird abgeändert und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.03.2016 im gesetzlichen Umfang zu gewähren. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 1961 geborene Kläger beantragte am 18.02.2016 bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte mit Bescheid vom 01.07.2016 nach Einholung eines Gutachtens auf internistischem Fachgebiet den Antrag des Klägers ab. Dagegen legte der Kläger am 07.07.2016 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.02.2017 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei ihm noch ein Leistungsvermögen für leichte Arbeiten mit Einschränkungen für mindestens 6 Stunden täglich vorliege.

Hiergegen hat der Kläger am 20.03.2017 Klage erhoben. Er führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfähigkeit schon seit Antragstellung dauerhaft nicht mehr gegeben sei.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Bescheid der Beklagten vom 01.07.2016 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2017 in Gestalt des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 29.11.2018 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung, im gesetzlichen Umfang ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.

Das Gericht hat Befundberichte von Dr. K. und Dipl.- med. B. beigezogen. Ferner wurde ein internistisches Gutachten bei Dr. F. eingeholt.

Nach dem Gutachten von Dr. F. vom 26.09.2017 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:

1. Globale, überwiegend rechtsbetonte Herzschwäche, implantierter Defibrillator 2. Extreme Übergewichtigkeit mit Bluthochdruck, Diabetes mellitus und weiteren Stoff-wechselstörungen und Leberentzündung 3. Stark ausgeprägte venöse Insuffizienz der Beine mit Hauternährungsstörungen 4. Behandelte Schilddrüsenunterfunktion

Das Gutachten kommt zu dem Schluss, der Kläger sei nicht mehr in der Lage, wettbewerbsfähig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingesetzt zu werden. Er könne Arbeiten nur noch weniger als 3 Stunden täglich im Sitzen (keine Tätigkeiten im Stehen), ohne Absturzgefahr auf Leitern und Gerüsten, ohne Akkord- und Schichtarbeiten, ohne besondere nervliche Belastung und ohne besonderen Zeitdruck verrichten.

Dieses Leistungsvermögen bestehe ab dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung. Die weitere Prognose sei insgesamt ungünstig.

Dem Gericht liegt ferner die ergänzende Stellungnahme von Dr. F. vom 13.03.2018 vor, in der die bisherige Leistungseinschätzung nochmals bestätigt wurde.

Von der Beklagten wurde mit Schriftsatz vom 30.07.2018 ein Vergleichsangebot für eine befristete Erwerbsminderung, ausgehend von einem Leistungsfall zum Zeitpunkt der Begutachtung von Dr. F., vorgelegt, das von Klägerseite jedoch nicht angenommen wurde. In der mündlichen Verhandlung am 29.11.2018 gewährte die Beklagte dem Kläger in Form eines angenommenen Teilanerkenntnisses eine Rente wegen voller Erwerbsminderung be-fristet vom 01.09.2017 bis zum 31.08.2020.

Dem Gericht liegt ferner die ergänzende Stellungnahme von Dr. F. vom 15.01.2019 vor.

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 16.12.2019 und 17.12.2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Beklagtenakten verwiesen, die Gegenstand der Beratung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Aufgrund des schriftlichen Einverständnisses der Beteiligten konnte die Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die Klage ist begründet, denn die angegriffenen Bescheide verletzen den Kläger in seinen Rechten.

Der Kläger hat einen Anspruch auf eine (unbefristete) Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung.

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 S 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Der Kläger leidet unter Erkrankungen auf internistischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Der Kläger ist auch erwerbsgemindert, da er seit dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung nur noch regelmäßig täglich weniger als 3 Stunden Arbeiten mit den weite-ren vom Gutachter genannten Funktionseinschränkungen verrichten kann.

Auf die im Gutachten von Dr. F. angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen. Die Kammer hat keine Zweifel, dass der Sachverständige die medizinischen Befunde zutreffend erhoben und aus ihnen die richtigen sozialmedizinischen Schlussfolgerungen gezogen hat. Die von den Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerun-gen entsprechen auch den allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben.

Die Rente war ab Zeitpunkt der Antragstellung und unbefristet zu gewähren.

Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden gemäß § 102 Abs.2 S.5 SGB VI unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Die Frage, ob die Behebung unwahrscheinlich ist, ist zum Zeitpunkt der Bewilligung prognostisch zu beurteilen und unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der umfassenden gerichtlichen Nachprüfung (Schmidt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 102 SGB VI, Rn. 7).

"Unwahrscheinlich" i. S. dieser Norm ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine - rentenrechtlich relevante - Besserungsaussicht sprechen müssen, also dann anzunehmen, wenn aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Ver-laufs nach medizinischen Erkenntnissen - auch unter Berücksichtigung noch vorhandener therapeutischer Möglichkeiten - eine Besserung nicht anzunehmen ist, durch welche sich eine rentenrechtlich relevante Steigerung der Leistungsfähigkeit des Versicherten ergeben würde. Erheblich ist allein, dass alle therapeutischen Möglichkeiten in Betracht gezogen werden müssen, um ein qualitatives oder quantitatives Leistungshindernis zu beheben. (So BSG, Urteil vom 29. März 2006 – B 13 RJ 31/05 R –, BSGE 96, 147-153, SozR 4-2600 § 102 Nr 2, Rn. 21). Entgegen einer teilweise verkürzten Rezeption dieser BSG-Entscheidung bedeutet dies gerade nicht, dass jegliche therapeutische Behandlungsmöglichkeit eine dauerhafte Rentengewährung ausschließt, vielmehr ist auf der Grundlage aller indizierten Behandlungsmöglichkeiten eine fundierte Prognoseeinschätzung zu treffen. Auch wenn keine begründete Aussicht bzw. nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass es bei einer Fortführung, Intensivierung oder Umstellung der Therapie zu einer Besserung mit relevanten Auswirkungen auf das Leistungsvermögen für den Arbeitsmarkt kommt, kann eine Therapieintensivierung auch bei hochgradig chronifizierten Störungen sinnvoll oder medizinisch indiziert sein, z.B. zur Verbes-serung der Lebensqualität, Verhinderung von weiteren Verschlechterungen oder latenter oder akuter Suizidgefahr. (SG Nordhausen, Urteil vom 29. November 2018 – S 20 R 1954/17 –, Rn. 50 - 52, juris)

Die Kammer erachtet auf der Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen vorliegend die Besserungsmöglichkeit als unwahrscheinlich. Der Gutachter hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15. Januar 2019 ausgeführt, dass zwar die Möglichkeit einer Besserung bestehe, dass diese jedoch sehr gering sei und es vielmehr eher wahrscheinlich sei, dass es aufgrund der hochgradigen Risikokonstellation zu weiteren Komplikationen komme. Soweit die Beklagte in ihrem letzten Schriftsatz vom 21. Februar 2019 dagegen unter Berücksichtigung möglicher ambulanter psychotherapeutischer (Mit-) Behandlung eine Gewichtsreduzierung und in der Folge eine Besserung für nicht unwahrscheinlich erachtet, trifft sie keine konkrete Aussage zum Grad der Besserungswahrscheinlichkeit, sondern geht offenbar - wie es sich aus den weiteren Ausführungen in der Stellungnahme ergibt- davon aus, dass Unwahrscheinlichkeit in diesem Sinne schon dann gegeben sei, wenn die Möglichkeit einer Besserung nicht auszuschließen sei. Es ist somit keine Argumentation erkennbar, ob oder warum die Beklagte hinsichtlich der medizinischen Tatbestände und Erfolgsaussichten von der Einschätzung des Gutachters abweicht. Sie nimmt vielmehr eine andere rechtliche Bewertung vor. Die Tatsache, dass nicht alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, schließt die Gewährung einer Dauerrente jedoch - wie oben ausgeführt- nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, dass aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Verlaufs nach medizinischen Erkenntnissen - auch unter Berücksichtigung noch vorhandener therapeutischer Möglichkeiten - eine Besserung nicht anzunehmen ist, durch welche sich eine rentenrechtlich relevante Steigerung der Leistungsfähigkeit des Versicherten ergeben würde. (so auch SG Hannover, Urteil vom 04. September 2018 – S 6 R 125/17 –, juris).

Der Begriff der Unwahrscheinlichkeit i.S. § 102 Abs.2 S.5 SGB VI ist durch die Rechtsprechung bisher nicht durch die Angabe konkreter Prozentsätze, bezogen auf die Besserungsmöglichkeit, konkretisiert und quantifiziert worden. Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung unterscheidet die Rechtsprechung für die Feststellung von anspruchsbegründenden Tat-sachen und ursächlichen Zusammenhängen die verschiedenen Wahrscheinlichkeitsgrade, die sich nach ihrer Überzeugungskraft in folgende Reihenfolge ordnen lassen: 1. (absolute) Gewissheit, 2. an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, 3. (so genannte hinreichende) Wahrscheinlichkeit, 4. Glaubhaftmachung und 5. (bloße) Möglichkeit. Dabei reicht die bloße Möglichkeit nicht aus, um einen Anspruch zu begründen. (Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 22. Januar 2009 – L 1 U 1089/06 –, Rn. 25 - 26, juris). Nicht entschieden zu werden braucht, ob in Anlehnung an diese Betrachtungsweise eine Besserung als unwahrscheinlich anzusehen ist, wenn keine hinreichende Wahrscheinlichkeit in dem Sinne, dass mehr gegen als für eine Besserung spricht, oder ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad von z.B. 30 % zu-grunde zu legen ist. (Zum Begriff der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 22. Januar 2009 – L 1 U 1089/06 –, Rn.28, juris). Ohnehin wird man häufig z.B. keinen konkreten Wahrscheinlichkeitsprozentsatz benennen können, sei es wegen fehlender empirischer Erhebungen bzw. fehlender epidemiologischer Studien in der wissenschaftlichen Literatur oder - wie hier- wegen einer besonderen (Risiko-)Konstellation im Einzelfall. Dann ist es legitim und ausreichend, auf eine qualitative Einschätzung des Gutachters auf der Grundlage seines Erfahrungswissens zurückzugreifen. Eine in diesem Sinn, wie hier vom Gutachter festgestellte, sehr geringe Aussicht einer Besserung stellt dabei wie eine bloße Möglichkeit keinen Grad der Wahrscheinlichkeit dar, der die Rechtsfolge einer lediglich befristeten Rentengewährung rechtfertigen kann. Für einen anderen bzw. noch strengeren Maßstab, z.B. dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Besserung ausgeschlossen sein muss, besteht auch deshalb kein Bedürfnis, da gemäß § 48 SGB X i.V.m. § 100 Abs.3 SGB VI die Möglichkeit der Aufhebung auch unbefristet gewährter Er-werbsminderungsrenten bei nachgewiesener Besserung (z.B. nach einer Maßnahme der medizinischen Rehabilitation) vorhanden ist.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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