L 1 VE 26/17

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 3 VE 9/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 26/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 46/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind die Schädigungsfolgen einer Gewalttat sowie die Höhe des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) streitig.

Der 1977 in X. geborene Kläger kam im Alter von 7 Jahren nach Deutschland. Seine bereits zuvor nach Deutschland geflüchteten Eltern hatten sich kurz zuvor getrennt. Er lebte zunächst bei seiner Mutter und zog im Alter von 17 ½ Jahren in eine betreute Wohngruppe. Im Alter von 22 Jahren beendete er die Realschule auf der Abendschule. Danach arbeitete er als Nachtwächter, machte Zivildienst und war anschließend unter anderem in einem Callcenter, als Servicekraft, im Lager, in einer Reinigung, im Messebau sowie im Versand tätig.

Am 3. November 2007 wurde der Kläger Opfer einer Gewalttat. Er wurde mit der Faust auf das linke Ohr und in der Folge auf die rechte Seite des Gesichts geschlagen. Er fiel zu Boden und wurde von dem Schädiger kräftig getreten. Hierbei erlitt er eine ausgedehnte Orbitabodendefektfraktur rechts und eine Fraktur der vorderen Kieferhöhlenwand paranasal rechts. In der Zeit vom 3. bis 7. November 2007 wurde er stationär behandelt.

Am 17. Dezember 2007 stellte der Kläger einen Antrag auf Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Unter dem 13. Mai 2008 verwies er darauf, dass er eine Orbitabodenfraktur rechts sowie eine unverschobene Maxillafraktur rechts erlitten habe und seine Zahnbrücke beschädigt worden sei.

Der Beklagte holte Befundberichte bei den behandelnden Zahnärzten sowie eine Begutachtung durch den Zahnarzt C. vom 19. November 2009 ein. Die Krankenkasse des Klägers teilte auf Anfrage mit, dass der Kläger keine neue Brücke beantragt habe.

Zu der von dem Beklagten angeforderten neurologisch,psychiatrischen Begutachtung des Klägers durch Dres. D. und E. kam es nicht, weil der Kläger mangels Zugang der Einbestellung nicht zur Begutachtung erschien.

Mit Bescheid vom 14. März 2012 anerkannte der Beklagte, dass der Kläger durch die Gewalttat am 3. November 2007 eine gesundheitliche Schädigung gemäß § 1 OEG erlitten hat. Die erlittenen Gesundheitsstörungen in Form von "Orbitabodenfraktur rechts, unverschobene Maxillafraktur rechts, Augenbrauen,Platzwunde rechts" seien zwischenzeitlich folgenlos abgeheilt. Eine Beschädigung einer Zahnbrücke sei nicht nachgewiesen. Weitere Folgen der schädigenden Einwirkung lägen nicht vor.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Eine Begutachtung sei nötig.

Der Beklagte veranlasste daraufhin eine nervenärztliche Begutachtung. Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. stellte unter dem 17. Oktober 2012 nach ambulanter Untersuchung des Klägers zusammenfassend fest, dass die aufgrund der Bewusstseinsstörung anzunehmende Hirnschädigung ersten Grades im Sinne einer Commotio cerebri rasch abgeklungen und Kopfschmerzen sowie Schwindel schnell rückläufig gewesen seien. Es bestünden Sensibilitätsstörungen im Versorgungsbereich des Nervus infraorbitalis rechts mit Hypästhesie, Hypalgesie und schmerzhaften Missempfindung im Sinne einer Dysästhesie. Die Sensibilitätsstörungen würden auch den Bereich der Zähne und des Zahnfleisches am rechten Oberkiefer umfassen. Es sei von einer Schädigung des Nervus infraorbitalis rechts mit Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich, den oralen Bereich einschließend, auszugehen. Hierfür sei ein GdS von 20 zu rechtfertigen. Ferner liege eine 4 cm reizlose Narbe am oberen Jochbeinrand vor, die an ihrem distalen Ende leicht wulstig verdickt sei. Die rechte Lidspalte erscheine im Seitenvergleich etwas verschmälert. Im Wangenbereich sei eine diskrete Schwellung sichtbar. Der Kläger fühle sich durch seine Narbe im sozialen Kontakt verunsichert. Es sei von einer einfachen Gesichtsentstellung durch eine leicht störende Narbe im Bereich der rechten Wangenregion auszugehen, die einen GdS von 20 rechtfertige. Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) liege nicht vor, da das B, und das C, Kriterium nicht ausreichend erfüllt seien. Insgesamt sei der Eindruck entstanden, dass die im Vordergrund der seelischen Symptomatik stehende depressive Störung mit Alkoholabusus Folge der schwierigen sozialen Situation mit Wohnungsverlust und damit schädigungsunabhängig sei. Lediglich ein ängstliches Vermeidungsverhalten könne auf das Tatgeschehen bezogen werden. Diese Symptome seien aber innerhalb des ersten halben Jahres abgeklungen. Die schädigungsunabhängige mittelgradige depressive Episode rechtfertige einen Grad der Behinderung (GdB) von 30. Zu den Zahnschmerzen habe der Kläger berichtet, dass er eine Brücke bekommen habe und diese dann entfernt worden sei wegen des Verdachts auf eine Entzündung. Auch ein Weisheitszahn sei gezogen worden. Das Tragen einer Schiene habe nicht zu einer Schmerzlinderung geführt. Der Kläger habe schließlich eine prothetische Versorgung erhalten. Aus zahnärztlicher Sicht sei ein GdS von 0 festgestellt worden.

Mit Abhilfebescheid vom 11. April 2013 anerkannte der Beklagte daraufhin als Schädigungsfolgen ab dem 3. November 2007 "Schädigung des Nervus infraorbitalis (Unteraugennerv) rechts mit Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich, den oralen Bereich einschließend. Leicht störende Narbe im Bereich der rechten Wangenregion". Dies bedinge einen Gesamt,GdS von 30. Die geltend gemachten seelischen Störungen seien Folge der schwierigen sozialen Situation nach dem Tatgeschehen und damit schädigungsunabhängig. Ein Zahnschaden bzw. eine Beschädigung einer Zahnbrücke sei nicht nachgewiesen. Eine entsprechende Behandlung zeitnah nach der Gewalttat sei nicht nachweisbar und ein kausaler Zusammenhang somit nicht belegt. Eine Höherbewertung des GdS gemäß § 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) komme nicht in Betracht, da ein besonderes berufliches Betroffensein nicht nachgewiesen sei. Ein Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 BVG) könne nicht gewährt werden, weil ein entsprechender Einkommensverlust nicht vorliege.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Seine seelischen Störungen seien unzutreffend als schädigungsunabhängig bewertet worden. Zudem seien Schäden im Zahnbereich aufgetreten. Auf die beschädigte Zahnbrücke habe er bereits unter dem 7. Mai 2008 hingewiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. März 2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die beiden anerkannten Schädigungsfolgen seien mit einem Gesamt,GdS von 30 zutreffend bewertet worden. Ein Zahnschaden sei nicht nachgewiesen. Die beklagten Schmerzen im Kiefergelenksbereich ließen sich durch die anerkannte Nervenschädigung im Gesicht erklären. Eine PTBS liege ausweislich des Gutachtens von Dr. F. vom 17. Oktober 2012 nicht vor. Die festgestellten depressiven Störungen seien vorrangig in Verbindung mit einer jahrelangen schwierigen sozialen Situation des Klägers zu sehen, die teilweise bereits vor der Schädigung am 3. November 2007 ihren Anfang genommen habe. Die Schädigung könne für die bestehenden seelischen Störungen nicht als allein kausal angesehen werden. Auch sei ihr hierfür keine zumindest gleichwertige Mitursache beizumessen.

Am 10. März 2014 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er hat beantragt, unter Abänderung der betreffenden Bescheide den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Versorgungsrente in gesetzlichem Umfang zu bewilligen

Das Sozialgericht hat nach Einholung weiterer Befundberichte gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein neurologisch,psychiatrisches Gutachten von Dr. G. eingeholt. Dieser hat nach ambulanter Untersuchung des Klägers unter dem 27. April 2016 festgestellt, dass der Kläger an einer depressiven Reaktion leide. Der Eintritt der depressiven Symptomatik sei durch das schädigende Ereignis mitverursacht worden, wobei diesem eine überragende Bedeutung zukomme. Vor der Tat habe bereits eine erhöhte Kränkbarkeit vorgelegen. Die im Anschluss aufgetretenen schädigungsunabhängigen Faktoren wie z.B. die Schwierigkeiten, erneut eine Tätigkeit zu finden, sowie die drohende Obdachlosigkeit, hätten zum Aufrechterhalten der depressiven Symptomatik geführt. Bei dem Kläger seien die Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, Selbstbehauptungsfähigkeit, Kontaktfähigkeit zu Dritten, Gruppenfähigkeit, Fähigkeit zu außerberuflichen Aktivitäten leichtgradig eingeschränkt. Dies begründe einen Einzel,GdS von 20 sowie unter Einbeziehung der anderen anerkannten Schädigungsfolgen einen Gesamt,GdS von 40.

Hierauf hat der Beklagte die nach Aktenlage erstellte Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. H. vom 12. Juli 2016 vorgelegt. Diese hat auf die Vorschädigung des Klägers aufgrund der psychosozialen Verhältnisse und Erlebnisse in X. sowie der Jugend hingewiesen. Diese hätten zu einer erhöhten Kränkbarkeit geführt. Das schädigende Ereignis habe keine überragende Bedeutung für die Entstehung der depressiven Symptomatik gehabt. Erst im Herbst 2009 sei es zur depressiven Dekompensation gekommen, worauf der Kläger psychotherapeutische Hilfe aufgesucht habe. Eine Änderung der Bezeichnung der Schädigungsfolgen sei nicht erforderlich.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. August 2016 hat Dr. G. ausgeführt, dass sich die zeitliche Abgrenzung des Verlaufs der Symptomatik retrospektiv schwierig gestalte. Die Angaben des Klägers seien vage und die Unterlagen nicht aussagekräftig, da der den Kläger zuerst behandelnde Neurologe und Psychiater seine Berufstätigkeit mittlerweile aufgegeben habe. Der Nachfolger habe den Kläger erstmals im Oktober 2010 behandelt. Über die Motivation, erst verspätet eine Psychotherapie zu beginnen, könne nur spekuliert werden. Eventuell sei eine Auseinandersetzung mit dem Ereignis als zu bedrohlich erlebt worden. Das Fortbestehen der depressiven Symptomatik sei zum Teil auch durch die Folgen der Tat bedingt. Der Kläger habe eindringlich darauf hingewiesen, dass er durch die als entstellend erlebten Folgen der Tat täglich an die Tat erinnert werde und hierunter in besonderem Maße leide. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Tat für die auch jetzt noch anhaltend depressive Symptomatik im Sinne einer psychoreaktiven Anpassungsstörung mitverantwortlich sei.

In ihrer Stellungnahme vom 4. Oktober 2016 hat Dr. H. angeführt, dass der Umgang des Klägers mit der Narbe im Rahmen seiner narzisstischen Persönlichkeitsanteile zu sehen sei und damit schädigungsunabhängig. Entgegen der Auffassung von Dr. G. könne eine psychoreaktive Anpassungsstörung nicht Ursache der anhaltenden depressiven Symptomatik sein, da Anpassungsstörungen per definitionem einen maximalen Zeitraum von zwei Jahren einnehmen würden.

Das Sozialgericht hat ein weiteres psychiatrisch,nervenärztliches Gutachten gemäß § 106 SGG eingeholt, welches Dr. J. unter dem 28. April 2017 nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstellt hat. Dieser hat bei dem Kläger eine Dysthymia diagnostiziert. Aus den Schilderungen des Klägers und dem aktenkundigen Sachverhalt ergebe sich der Eindruck, dass ab dem Jahr 2008 durchgängig ein depressiv gefärbtes Störungsbild vorgelegen habe, welches aber zumindest gegenwärtig nicht die Kriterien für eine depressive Episode erfülle. Insbesondere der aktuell erhobene psychopathologische Befund (subdepressiver Affekt, leichte Antriebsminderung, affektive Schwingungsfähigkeit leicht beeinträchtigt) lege in Verbindung mit der Alltagsbeschreibung nahe, dass eher von einer Dysthymia auszugehen sei. Dabei könne nicht ausgeschlossen werden, dass 2008/2009 vorübergehend die Kriterien für eine depressive Episode vorgelegen hätten. Es sei zudem davon auszugehen, dass sich auf dem Boden der langjährig bestehenden psychosozialen Probleme in den zurückliegenden Jahren bei dem Kläger eine zunehmende Selbstwertproblematik entwickelt habe, die zu einer allgemeinen Verunsicherung einhergehend mit eher diffusen Ängsten geführt habe. Das schädigende Ereignis sei für den Kläger sicherlich belastend gewesen. Andererseits habe ein extremes Trauma von katastrophalem Ausmaß, wie es für die PTBS gefordert werde, wenn überhaupt nur grenzwertig vorgelegen. Auch seien typische Symptome einer PTBS nicht berichtet worden, so dass von einer solchen nicht ausgegangen werden könne. Eine Anpassungsstörung könne ebenfalls nicht diagnostiziert werden, da diese per definitionem max. 2 Jahre andauere. Zu einer depressiven Dekompensation sei es erst im Herbst 2009 gekommen. Ferner sei von Bedeutung, dass völlig unabhängig von dem schädigenden Ereignis der Kläger Anfang des Jahres 2008 seine Wohnung verloren habe. Die Obdachlosigkeit sei vor dem Hintergrund der biografischen Entwicklung des Klägers sicherlich ein mindestens genauso großes Trauma gewesen wie das Ereignis am 3. November 2007. Die Obdachlosigkeit habe für den Kläger , vor dem Hintergrund sozialer Isoliertheit und auch ansonsten unsteter Lebensverhältnisse , einen größeren Einschnitt bedeutet. Darüber hinaus sei es auch möglich, dass der zumindest vorübergehend bestehende Alkoholmissbrauch die Entwicklung der depressiven Symptomatik im Jahr 2009 zusätzlich befördert habe. Im Rahmen der Begutachtung des Klägers habe sich der Eindruck entwickelt, dass der Kläger im Sinne einer Fehlattribuierung den Vorfall im November 2007 für seine missliche Lebenslage verantwortlich mache, während er anderweitige Umstände ausblende. So sei eine selbstkritische Reflexion über seine Lebenslage nicht ersichtlich. Daher sei davon auszugehen, dass die Schädigung durch das Ereignis am 3. November 2007 nur eine nachrangige Bedeutung im Hinblick auf die dann in den weiteren Jahren sich entwickelnde depressive Störung habe. Als Teilursache sei sicherlich die schädigungsunabhängige Obdachlosigkeit ab Beginn des Jahres 2008 im Sinne eines Nachschadens von wesentlicher Bedeutung gewesen.

Mit Gerichtsbescheid vom 4. Oktober 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Beweiserhebung habe ergeben, dass ein GdS von 30 zutreffend sei. In Übereinstimmung mit der Sachverständigen Dr. F. habe auch Dr. J. auf nervenärztlichen Fachgebiet keinen höheren GdS feststellen können. Das Gutachten von Dr. G. überzeuge hingegen nicht. Er habe die im Jahre 2008 auftretende Obdachlosigkeit als Mitursache der depressiven Störung schädigungsunabhängig im Sinne eines Nachschadens als Symptom der Aufrechterhaltung der depressiven Symptomatik bewertet, wenn auch als schädigungsunabhängigen Faktor. Demgegenüber würden die Ausführungen von Dr. J. mehr überzeugen, dass die Obdachlosigkeit vor dem Hintergrund der biografischen Entwicklung des Klägers ein mindestens genauso großes Trauma gewesen sei, wie das Ereignis am 3. November 2007 oder sogar einen größeren Einschnitt für den Kläger bedeutet habe vor dem Hintergrund sozialer Isoliertheit und auch ansonsten unstetiger Lebensverhältnisse. Es sei davon auszugehen, dass die Obdachlosigkeit als schädigungsunabhängige Ursache einen Nachschaden von wesentlicher Bedeutung darstelle und sich der Kläger bereits in den Jahren 2007 bis 2009 in einer schwierigen Lebenslage und schwierigen Lebensumständen befunden habe. Entsprechende habe das schädigende Ereignis vom 3. November 2007 nur eine nachrangige Bedeutung im Hinblick auf die depressive Störung, die sich in den weiteren Jahren entwickelt habe. Bei GdS,Werten von zweimal 20 sei unter Berücksichtigung der Vorgaben zur Bildung des Gesamt,GdS zutreffend ein GdS von 30 festgestellt worden.

Der Kläger hat gegen den ihm am 5. Oktober 2015 zugestellten Gerichtsbescheid am 30. Oktober 2015 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, dass seine psychischen Beschwerden nicht auf die
Obdachlosigkeit, sondern auf die Gewalttat zurückzuführen seien. Ferner hat er darauf hingewiesen, dass er im Rahmen der Gewalttat eine Beschädigung seiner Brücke im Oberkiefer rechts erlitten habe. Dies folge aus dem Befundbericht des Zahnarztes Dr. K. vom 2. Dezember 2008.

Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 4. Oktober 2017 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheids des Beklagten vom 14. März 2012, geändert durch Bescheid vom 11. April 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2014 den Beklagten zu verurteilen, weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger eine Versorgungsrente in gesetzlichem Umfang zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Die Sach, und Rechtslage ist mit den Beteiligten am 1. August 2018 vor der Berichterstatterin erörtert worden.

Wegen des weiteren Sach, und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, § 155 Abs. 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Berufung ist unbegründet

Zutreffend hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Beklagte hat rechtmäßig mit Bescheid vom 14. März 2012, geändert durch Bescheid vom 11. April 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2014 als Schädigungsfolgen der Gewalttat vom 3. November 2007 eine Schädigung des Nervus infraorbitalis (Unteraugennerv) rechts mit Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich, den oralen Bereich einschließend sowie leicht störende Narbe im Bereich der rechten Wangenregion festgestellt. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen noch auf einen höheren Gesamt,GdS.

Voraussetzung für die Feststellung von Schädigungsfolgen gemäß § 1 OEG ist, dass der Kläger an Gesundheitsstörungen leidet, die rechtlich wesentlich durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff verursacht worden sind.

Als Schädigungsfolgen sind dabei nur solche nachgewiesenen Gesundheitsstörungen anzuerkennen, die wenigstens mit Wahrscheinlichkeit durch das schädigende Ereignis verursacht worden sind. Wahrscheinlichkeit in dem genannten Sinn liegt vor, wenn nach geltender medizinischer Lehrmeinung mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, d.h. wenn die für den Zusammenhang sprechenden Umstände mindestens deutlich überwiegen. Ursache einer Gesundheitsstörung sind in dem hier erheblichen Sinn diejenigen Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben zu dem Eintritt bzw. der Verschlimmerung einer Gesundheitsstörung mehrere Bedingungen beigetragen, so sind nur diejenigen Ursache im Rechtssinn, die von ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Schadens wenigstens den anderen Bedingungen gleichwertig sind. Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist er allein Ursache im Rechtssinn (Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung, vgl.: Knickrehm in: Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, Stand: 2012, § 1 BVG, Rdnr. 28). Im Gegensatz zu der Theorie vom adäquaten Zusammenhang, wonach diejenige Bedingung Ursache im Rechtssinne ist, die den eingetretenen Erfolg voraussehen ließ, geben im Sozialen Entschädigungsrecht allgemeine Erfahrungen und gewisse Regelmäßigkeiten weniger den Ausschlag. Die Kausalitätsbeurteilung ist auf die besonderen Umstände des Einzelfalles sowie auf die Einzelpersönlichkeit abzustellen. Maßgebend ist die individuelle Belastung und Belastbarkeit (BSG, Urteil vom 29. Oktober 1980, 9 RV 23/80, juris). Dagegen müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen wie "schädigender Vorgang" einschließlich der Rechtswidrigkeit des Angriffs, "gesundheitliche Schädigung", "gesundheitliche bzw. wirtschaftliche Folgen" selbst erwiesen sein, wofür eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit genügen kann, die ernste, vernünftige Zweifel ausschließt.

Der GdS ist nach § 30 Abs. 1 BVG nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen, wobei seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen sind. Maßgebend ist, um wieviel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt ist. Dabei werden vorübergehende Gesundheitsstörungen allerdings nicht berücksichtigt. Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgrund der Ermächtigung in § 69 Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch , Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen , (SGB IX), § 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), § 30 Abs. 16 BVG nach § 2 Satz 1 Versorgungsmedizin,Verordnung vom 10. Dezember 2008 (VersMedV, BGBl. I S. 2412) in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdS festgelegt, die fortlaufend auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt werden (§ 2 Satz 2 VersMedV). Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" ersetzen die bis zum 31. Dezember 2008 anzuwendenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht und stellen eine verbindliche Rechtsquelle für die Feststellung einer Schädigungsfolge und des GdS dar (vgl. BSG, Urteil vom 30. September 2009, B 9 SB 4/08 R, juris). Die in den Anhaltspunkten enthaltenen Texte und Tabellen, nach denen sich die Bewertung des GdB bzw. GdS bisher richtete, sind in diese Anlage übernommen worden (vgl. die Begründung BR,Drucks. 767/08, S. 3 f.). Anders als die Anhaltspunkte 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte Fassung der Anhaltspunkte (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt werden müssen (BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VJ 1/10 R, juris).

Vorliegend ist der Kläger am 3. November 2007 unstreitig Opfer eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs geworden, der die vom Beklagten anerkannten Schädigungsfolgen verursacht hat.

Die als Schädigungsfolge vom Beklagten anerkannte Schädigung des Nervus infraorbitalis (Unteraugennerv) rechts mit Sensibilitätsstörungen im Gesichtsbereich, den oralen Bereich einschließend, ist mit einem GdS von 20 zutreffend bewertet worden. Insoweit wird auf das Gutachten von Dr. F. sowie die VersMedV (Teil B: 2.2) verwiesen.

Die als Schädigungsfolge vom Beklagten ebenfalls anerkannte leicht störende Narbe im Bereich der rechten Wangenregion ist ebenfalls nicht mit einem höheren GdS als 20 zu bewerten. Die Narbe stellt eine einfache Gesichtsentstellung dar. Eine solche begründet nach den VersMedV (Teil B: 2.1) einen GdS von 10, wenn sie "nur wenig störend" ist und "sonst" einen GdS von 20 bis 30. Eine hochgradige Entstellung des Gesichts ist dagegen mit einem GdS von 50 zu bewerten. Bei der Bewertung ist auf die Wirkung abzustellen, die die Entstellung auf andere Menschen hat. Die Einschätzung von Dr. F., es sei von einer einfachen Gesichtsentstellung durch eine leicht störende Narbe im Bereich der rechten Wangenregion auszugehen, hat sich bei der Inaugenscheinnahme in dem Erörterungstermin für das Gericht bestätigt. Die Narbe ist zwar durchaus deutlich sichtbar. Auch mag sie für den Kläger als mehr als "nur wenig störend" empfunden werden. Sie ist jedoch objektiv betrachtet nicht sehr störend. Eine Entstellung, die einen höheren GdS als 20 begründen könnte, liegt daher nicht vor.

Ein Gesamt,GdS von 30 ist insoweit angemessen und rechtlich nicht zu beanstanden.

Die bei dem Kläger auf psychischem Gebiet bestehenden Gesundheitsstörungen sind hingegen nach den oben aufgeführten Kriterien nicht als Schädigungsfolgen der angegebenen Gewalttat anzusehen und führen damit zu keiner Erhöhung des Gesamt, GdS. Dies folgt insbesondere aus den Gutachten von Dr. J. und Dr. F. Das Vorliegen einer PTBS bei dem Kläger wird von diesen , ebenso wie von Dr. G. , nachvollziehbar verneint. Ebenso liegt die von Dr. G. diagnostizierte Anpassungsstörung nicht vor, wie Dr. H. und Dr. J. überzeugend dargelegt haben. Aber auch die bei dem Kläger vorliegenden seelischen Gesundheitsbeschwerden sind nicht als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Dr. F. hat nachvollziehbar ausgeführt, dass sich nicht nachweisen lasse, dass für das berufliche Scheitern die gesundheitlichen Folgen des Tatgeschehens maßgeblich gewesen seien. Vielmehr sei der Kläger in einer schwierigen sozialen Situation gewesen, als er seine Wohnung verloren hat und eine Zeit lang obdachlos gewesen ist. Dies hat große Ängste vor einem sozialen Abstieg bei dem Kläger ausgelöst. In der Folge hat sich bei dem Kläger eine depressive Stimmungslage mit Antriebsminderung, Interessen, und Initiativverlust und Flucht in den Schlaf entwickelt. Im Rahmen dieser depressiven Störung hat etwa ein Jahr nach der Gewalttat der Alkoholabusus begonnen. Eine schädigungsbedingte depressive Episode hat damit nicht vorgelegen. Dr. J. hat in seinem Gutachten darauf hingewiesen, dass es erst im Herbst 2009 zu einer depressiven Dekompensation gekommen ist. Hierfür ist auch nach den Ausführungen dieses Sachverständigen die Obdachlosigkeit des Klägers im Jahr 2008 von größerer Bedeutung gewesen als die Gewalttat. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der biografischen Entwicklung des Klägers (Krieg im Ursprungsland, Trennung der Eltern kurz bevor er nach Deutschland kam, Streit mit der Mutter, Auszug in eine betreute Wohnung, Schule abgebrochen, keine Berufsausbildung, häufiger Wechsel des Arbeitgebers, keine längere Partnerschaft). Bei der Dysthymia, unter welcher der Kläger leide, handelt es sich , so der Sachverständige , um eine chronische depressive Verstimmung, die je nach Schweregrad und Dauer der einzelnen Episoden gegenwärtig nicht die Kriterien für eine leichte oder mittelgradige rezidivierende depressive Störung (ICD,10 F 33.0/F33.1) erfüllt. Das bei dem Kläger ab 2008 vorliegende depressiv gefärbte Störungsbild hat zu Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. J. nicht die Kriterien für eine depressive Episode erfüllt.

Die Bewertung von Dr. G. führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieser Sachverständige hat , worauf Dr. H. und Dr. J. zutreffend hingewiesen haben , insbesondere die schädigungsunabhängig eingetretene Obdachlosigkeit nicht ausreichend berücksichtigt. Ferner hat auch er auf eine gewisse Vorschädigung aufgrund der psychosozialen Verhältnisse und Erlebnisse in X. sowie der Jugend des Klägers, die zu einer erhöhten Kränkbarkeit geführt haben, hingewiesen. Insbesondere aber hat Dr. G. auch konstatiert, dass sich die zeitliche Abgrenzung des Verlaufs der Symptomatik retrospektiv als schwierig gestaltet, weil die Angaben des Klägers vage und die Unterlagen nicht aussagekräftig sind. Damit sind letztendlich auch nach seinen Ausführungen die psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht mit der nötigen Wahrscheinlichkeit auf die Gewalttat zurückzuführen. Soweit Dr. G. in seiner Stellungnahme vom 13. August 2016 auf die für den Kläger besondere Bedeutung der entstellenden Wirkung der Narbe verwiesen hat, so ist diese bereits mit der bereits anerkannten Schädigungsfolge "leicht störende Narbe im Bereich der rechten Wangenregion" und einem GdS von 20 ausreichend berücksichtigt.

Der vom Kläger geltend gemachte Schaden an der Zahnbrücke ist nicht Gegenstand des Verfahrens, da insoweit weder im Verfahren vor dem Sozialgericht noch im Berufungsverfahren ein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass ein Anspruch gemäß § 8b BVG aktuell nicht begründet erscheint, da der Kläger eine Beschädigung des Zahnersatzes bislang nicht nachgewiesen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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