L 11 SF 90/20 AB

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 11 SF 90/20 AB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Besorgnis der Befangenheit bei Ehe zwischen Richtern von Entschädigungs- und Ausgangsverfahren

1. Ein Entschädigungsrichter ist nicht deshalb nach § 41 Nr. 6 oder Nr. 7 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen, weil sein Ehegatte an dem als überlang gerügten Gerichtsverfahren mitwirkte.
2. Die Besorgnis der Befangenheit i.S. des § 42 Abs. 2 ZPO ist dann gerechtfertigt, wenn der Ehegatte des
Entschädigungsrichters an dem Ausgangsverfahren mitwirkte und auf dessen Dauer maßgeblichen Einfluss hatte.
Das Ablehnungsgesuch gegen den Richter am Landessozialgericht Wagner ist begründet.

Gründe:

I. Die Klägerin begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer mehrerer erstinstanzlich vor dem Sozialgericht Dresden (SG) und zweitinstanzlich vor dem Sächsischen Landessozialgericht (LSG) geführten Verfahren. In einem dieser Ausgangsverfahren wirkte die Richterin am LSG Wagner als Vorsitzende an der instanzbeendenden Entscheidung (Beschluss vom 19.12.2016 – L 7 AS 1575/12 NZB) mit. Ihr Ehemann, Richter am LSG Wagner, ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des erkennenden Senats zur Mitwirkung an dem vorliegenden Entschädigungsverfahren L 11 SF 144/19 EK berufen. Nachdem der Senat die Beteiligten hierzu angehört hatte, hat die Klägerin den Richter am LSG Wagner wegen der Besorgnis der Befangenheit aufgrund des Näheverhältnisses zu seiner Ehegattin abgelehnt.

II.

Das Ablehnungsgesuch ist begründet.

Nach § 60 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 42 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Richters wegen der Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Nicht erforderlich ist, dass der Richter tatsächlich befangen oder voreingenommen ist. Entscheidend ist allein, ob aus der Sicht des Ablehnenden genügend objektive Umstände vorliegen, um an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 27.06.2019 – B 5 R 1/19 B – juris Rn. 11; Beschluss vom 29.03.2007 – juris Rn. 13; Beschluss vom 01.03.1993 – 12 RK 45/92 – juris Rn. 4). Es genügt bereits der "böse Schein" einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 05.12.2019 – 1 BvL 7/18 – juris Rn. 15). Die Richterablehnung und die Entscheidung über sie enthalten deshalb auch keine Herabsetzung des Richters (Vollkommer in: Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 42 Rn. 8). Nach dem Sinngehalt des § 42 Abs. 2 ZPO ist im Zweifel einem Ablehnungsgesuch stattzugeben (BSG, Beschluss vom 18.03.2013 – B 14 AS 70/12 RBeckRS 2013, 68558 Rn. 4; Stackmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 42 Rn. 6).

Ob eine Ehe oder eine eheähnliche Gemeinschaft zwischen einem Richter, der an der vorinstanzlichen Entscheidung mitgewirkt hat, und einem Richter, der in der höheren Instanz für die Entscheidung (mit-)zuständig ist, zu einer begründeten Besorgnis der Befangenheit führt oder nicht, ist umstritten. Während der Bundesgerichtshof (BGH) in einem solchen Näheverhältnis keinen generellen Ablehnungsgrund zu erkennen vermag (BGH, Beschluss vom 20.10.2003 – II ZB 31/02 – juris Rn. 7 f.; Beschluss vom 17.03.2008 – II ZR 313/06 – juris; einschränkend BGH, Beschluss vom 27.02.2020 – III ZB 61/19 – juris Rn. 12 f.), hält das BSG in solchen Fällen die Besorgnis der Befangenheit für naheliegend (BSG, Beschluss vom 24.11.2005 – B 9a VG 6/05 B – juris Rn. 8; Beschluss vom 18.03.2013 – B 14 AS 70/19 R – BeckRS 2013, 68558 Rn. 6 ff.). Zwar ist dem BGH zuzugeben, dass der Ausschlussgrund des § 41 Nr. 6 ZPO den Ehegatten des Richters nicht erfasst und dass Ausschlussgründe einer erweiternden Auslegung nicht zugänglich sind (dazu BGH, Beschluss vom 18.01.2017 – XII ZB 602/15 – juris Rn. 12; Beschluss vom 24.07.2012 – II ZR 280/11 – juris Rn. 3; Urteil vom 05.12.1980 – V ZR 16/80 – juris Rn. 8; ebenso BSG, Urteil vom 19.06.1996 – 9 RV 15/94 – juris Rn. 13; Beschluss vom 23.09.1997 – 2 BU 31/97 – juris Rn. 5). Dies bedeutet aber nicht, dass ein eheliches Näheverhältnis generell keine Befangenheit zu begründen vermag. Ganz im Gegenteil: Sachverhalte, die den Ausschlussgründen ähnlich sind, können Befangenheitsgründe darstellen. Und je näher sie den Ausschlussgründen stehen, desto eher wird die Ablehnung berechtigt sein (Stackmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 42 Rn. 7; Feiber, NJW 2004, 650, 651). Die instanzübergreifende Richterehe kann daher sehr wohl die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen (Vollkommer in: Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 42 ZPO, Rn. 13a; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 60 Rn. 8a).

Nichts anderes kann für den hier vorliegenden Fall gelten, dass ein Richter für die Entscheidung über eine Entschädigungsklage wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens (mit-)zuständig ist, an dem sein Ehegatte mitgewirkt hat. In einem solchen Fall greift der speziell für Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) geschaffene Ausschlussgrund des § 41 Nr. 7 ZPO ebenso wenig wie derjenige des § 41 Nr. 6 ZPO, weil beide Ausschlussgründe den Ehegatten des Richters nicht erfassen. Dennoch hat das eheliche Näheverhältnis bei der Beurteilung der Befangenheit nicht deshalb außer Betracht zu bleiben, weil dies auf dem Umweg über § 42 ZPO zu einer unzulässigen Erweiterung des Anwendungsbereiches des § 41 ZPO führen würde. Allein entscheidend ist vielmehr, ob aus der Sicht einer objektiv und vernünftig denkenden Partei im Entschädigungsverfahren Zweifel an der Unvoreingenommenheit eines Richters nachvollziehbar sind, dessen Ehegatte an dem als überlang gerügten Gerichtsverfahren mitgewirkt hat.

Die Besorgnis der Befangenheit ist jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn – wie hier – der Ehegatte des Richters einen maßgeblichen Einfluss auf die Dauer des Ausgangsverfahrens haben konnte. Denn dann kann eine objektiv und vernünftig denkende Partei zu der Vorstellung gelangen, der Richter stehe der Entschädigungsklage nicht unvoreingenommen gegenüber, weil er über die (Un-)Angemessenheit der Verfahrensführung (vgl. § 198 Abs. 1 GVG) der ihm am nächsten stehenden Person zu befinden hat. Dies zumal im Obsiegensfall unter bestimmten Umständen gegen seinen Ehegatten ein Regress durch den Justizfiskus denkbar ist. Hier war die Ehefrau des abgelehnten Richters im Ausgangsverfahren zwar nicht selbst Berichterstatterin. Sie wirkte aber an dem dessen zweite Instanz beendenden Beschluss als Vorsitzende mit. Aus der allein entscheidenden Sicht der Partei konnte die Ehefrau des Richters daher maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des Ausgangsverfahrens haben, wobei unerheblich ist, dass sie nur als stellvertretende Senatsvorsitzende tätig geworden ist. Die erhebliche Verantwortung seiner Ehefrau für das Ausgangsverfahren vermag den Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu begründen. Denn aus Sicht einer verständigen Partei kann der maßgebliche Einfluss seiner Ehefrau auf die Dauer des Ausgangsverfahrens die Bedeutung des ehelichen Näheverhältnisses in Gestalt einer – zumindest unbewussten – Solidarisierungsneigung des Richters verstärken. Da es den Befangenheitsvorschriften darum geht, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität zu vermeiden (BVerfG, Beschluss vom 05.12.2019 – 1 BvL 7/18 – juris Rn. 15), ist hier dem Ablehnungsgesuch stattzugeben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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