S 38 KA 111/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
38
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 111/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
I. Treten im laufenden Verfahren vor dem Sozialgericht neue Gesundheitsstörungen auf, sind diese für die Beurteilung, ob ein Befreiungsgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 lit. a BDO-KVB vorliegt, mit zu berücksichtigen. Denn es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage („Verbescheidungsklage“) nach § 54 SGG, für die maßgeblicher Zeitpunkt der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor der Tatsacheninstanz ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Komment. zum SGG, Rn 34a zu § 54).

II. Die Tätigkeit im ärztlichen Bereitschaftsdienst, verbunden mit unerwarteter Inanspruchnahme durch in der Regel unbekannte Patienten setzt insbesondere eine hohe Stressstabilität des Behandlers voraus, die in diesem Umfang im normalen Praxisalltag, vor allem bei einer Bestellpraxis, nicht erforderlich ist.

III. Bei § 14 Abs. 2 BDO-KVB, wonach ein schwerwiegender Grund nach § 14 Abs. 1 S. 2 lit. a) bzw. b) dann nicht vorliegt, wenn die Klägerin die Praxistätigkeit unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe fortführt, handelt es sich um eine widerlegbare Vermutung, dass ein Vertragsarzt bei unverminderter Praxistätigkeit auch ohne weiteres in der Lage ist, den Ärztlichen Bereitschaftsdienst zu leisten. Maßgeblich sind die konkreten Umstände des Einzelfalles, was im Rahmen einer Einzelfallentscheidung zu würdigen ist.

IV. Indiz für die überdurchschnittliche bzw. unverminderte Praxistätigkeit ist grundsätzlich die jeweilige Fallzahl. Bei der Fachgruppe der psychotherapeutisch tätigen Ärzte, bei denen die Fallzahl im Vergleich zu anderen Fachgruppen sehr niedrig ist, bildet die Fallzahl die Praxistätigkeit nur unzureichend ab und kann somit nicht den alleinigen Maßstab darstellen. Vielmehr müssen andere Parameter zumindest zusätzlich herangezogen werden, so vor allem die Honorareinkünfte.
I. Der Bescheid der Beklagten vom 12.09.2018 in Form des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2019 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag auf Befreiung vom Bereitschaftsdienst erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte und die Klägerin tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Gegenstand der zum Sozialgericht München eingelegten Klage ist die Befreiung der Klägerin vom ärztlichen Bereitschaftsdienst, die sie am 10.07.2018 unter Bezugnahme auf einen Erstantrag vom 19.09.2017 beantragt hatte. Sie machte u.a. eine Innenohrschwerhörigkeit beidseits mit erheblichem Abfall der Hörfähigkeit bis hin zum Hörverlust geltend. Dem Antrag wurde eine ärztliche Bescheinigung von Dr. Sch. beigefügt.

Des Weiteren wurde ein Bescheid des Versorgungsamtes vom 20.03.2018 übersandt. Darin wurde eine Behinderung mit einem GdB von 30 (Schwerhörigkeit beidseits) anerkannt. Der Antrag auf Befreiung vom Bereitschaftsdienst - die Klägerin ist psychotherapeutisch tätige Ärztin - wurde abgelehnt. Der Widerspruch dagegen war erfolglos. Die Beklagte führte aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Befreiung von der Teilnahme am Bereitschaftsdienst. Unklar sei die Abgrenzung der Praxistätigkeit einerseits und der Tätigkeit im Rahmen des Bereitschaftsdienstes andererseits. Es liege kein schwerwiegender Grund im Sinne von § 14 Abs. 1 S. 1 BDO-KVB (Bereitschaftsdienstordnung) vor. Aufgabe des Arztes sei es, im Rahmen des Bereitschaftsdienstes Patienten bis zur nächstmöglichen ambulanten oder stationären Versorgung zweckmäßig und ausreichend zu versorgen. Der Arzt müsse in der Lage sein, den typischen Notfallsituationen des ärztlichen Alltags in der Regel wenigstens mit Sofortmaßnahmen bis zum Einsetzen der normalen ärztlichen Versorgung gerecht zu werden. Dadurch sei der Behandlungsumfang deutlich reduziert. Im Übrigen sei festzustellen, dass die Fallzahlen in den Quartalen 3/17, 4/17, 1/18 und 2/18 überdurchschnittlich seien. Nach § 14 Abs. 2 BDO-KVB sei eine Befreiung vom Bereitschaftsdienst grundsätzlich ausgeschlossen, wenn sich die Erkrankung nicht auf die Praxistätigkeit auswirke. Im Übrigen habe die Klägerin lediglich 26 Dienststunden zu leisten und eine Dienstabgabe bzw. Dienstvertretung sei möglich. Die Voraussetzungen für eine Teilbefreiung beispielsweise vom Fahrdienst würden nicht vorliegen.

Dagegen ließ die Klägerin Klage zum Sozialgericht München einlegen. Es wurde geltend gemacht, die Klägerin sei hinsichtlich des Einsilbenverstehens und Zahlenverstehens an beiden Ohren erheblich eingeschränkt. Dies habe zur Folge, dass die Erstellung notwendiger richtiger Diagnosen und eine Erstbehandlung von Notfallpatienten nicht möglich sei. Auch im normalen Praxisalltag könne die Klägerin keine Gruppentherapien anbieten oder an Weiterbildungen in größeren Gruppen teilnehmen. Sie habe sich auf Einzelgesprächstherapien beschränkt. Auch das Richtungshören sei deutlich reduziert. Dies habe zur Folge, dass die Klägerin ihre Praxistätigkeit auch einschränken musste. Sie besitze auch keine ausreichende Nachtfahrtauglichkeit.

In ihrer Erwiderung machte die Beklagte geltend, der behauptete Hörverlust werde bestritten. Es könnten auch hörbeeinträchtigte Ärzte Patienten abhören und mit einem Stethoskop arbeiten. Denn mit speziellen Geräten (Spezialstethoskope) könne die bei der Klägerin bestehende Hörbeeinträchtigung ausgeglichen werden. Die Klägerin habe bisher auch nicht vorgetragen, dass sie ein entsprechendes Gerät in Einsatz habe und es hierbei Probleme gebe. Soweit geltend gemacht werde, es bestehe eine Nachtfahruntauglichkeit, so werde darf aufmerksam gemacht, dass ein Fahrdienst bestehe, sodass ein Steuern des Fahrzeugs durch die Klägerin nicht erforderlich sei. Der Beklagten erschließe es sich auch nicht, wie die Klägerin das alltägliche Patientenaufkommen bei der behaupteten Einschränkung bewältigen könne, zumal die psychotherapeutische Tätigkeit auf ausführlichen Gesprächen mit den Patienten basiere. Die Tätigkeit in einer Bereitschaftspraxis unterscheide sich auch nicht wesentlich von der Situation in ihrer eigenen Praxis. Die Behandlung finde in einem Behandlungszimmer als Einzelgespräch statt. Es sei daher möglich, sich auf einen einzelnen Patienten zu konzentrieren. Eine zusätzliche Geräuschkulisse sei in diesem Fall nicht zu erwarten. Bei eventuell auftretenden Verständigungsschwierigkeiten könne die anwesende Praxishelferin, im Fahrdienst der Fahrer behilflich sein. Im Übrigen würden der Klägerin lediglich drei Dienste im Jahr (25,5 Stunden/Jahr) abverlangt. Die Klägerin habe auch in der Vergangenheit von der Wunschdienstplanung Gebrauch gemacht und ihre Dienste jeweils abgegeben. Außerdem werde darauf hingewiesen, dass sich die Klägerin seit 2014 gegen die Bereitschaftsdienste zur Wehr gesetzt habe und in dem Zusammenhang eine Befreiung wegen mangelnder somatischer Kenntnisse beantragt habe.

Die Prozessbevollmächtigte Klägerin machte geltend, es werde bestritten, dass es ein spezielles Stethoskop gebe, welches die Schwerhörigkeit ausgleichen könne. Die Klägerin habe in den letzten zehn Jahren keine Notfallsituationen in der Praxis gehabt. Auch der Fachgruppendurchschnitt sei nicht relevant. Der aktuelle Gesundheitszustand der Klägerin habe sich verschlechtert. Dazu gekommen seien insbesondere Schmerzen in den Beinen, ungeklärte Gangstörungen und Kraftlosigkeit der Beine. Soweit die Beklagte der Auffassung sei, die Situation im Bereitschaftsdienst sei mit der im Praxisalltag vergleichbar, treffe dies nicht zu. Im Bereitschaftsdienst sei es unwahrscheinlich, dass die Klägerin in eine 1:1 Situation mit einem Patienten zusammentreffe, da in der Regel Angehörige, Mitarbeiter von Einrichtungen und Mitbewohner anwesend seien. Außerdem gebe es keine Wahrscheinlichkeit, dass auch in den Folgejahren entsprechend Bereitschaftsdienste durch die Klägerin abgegeben werden könnten. Dies sei nicht einzuschätzen.

Die Beklagte wies nochmals auf die uneingeschränkte Praxistätigkeit hin, die auch im Quartal 1/19 mit insgesamt 106 Behandlungsfällen vorliege. Die Beklagte habe bis zum 29.12.2017 davon abgesehen, die Klägerin einzuteilen, um dieser zu ermöglichen, die Kenntnisse im Bereitschaftsdienst zu vertiefen.

In einem nachfolgenden Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin wies diese darauf hin, dass in der Uniklinik Ulm eine hereditäre motorische Axonopathie diagnostiziert worden sei. Es sei dann eine neurologische Rehamaßnahme ab dem 12.09.2019 durchgeführt worden.

Im Termin der mündlichen Verhandlung wurde der Änderungsbescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 06.07.2020 vorgelegt. Daraus ergibt sich ein Gesamt-GdB von 60 und die Zuerkennung des Merkzeichens G. Als Behinderungen wurden gegenüber dem vorausgehenden Bescheid der Versorgungsverwaltung zusätzlich aufgenommen: Nervenleiden (Einzel-GdB: 40) und Sehminderung beidseits (Einzel-GdB 10). Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin machte geltend, die Klägerin leide nun nicht mehr nur an einer Einschränkung des Hörvermögens, sondern auch an einer Polyneuropathie. Außerdem sei auch eine Optikusatrophie festgestellt worden. Die Klägerin leide an erheblichen Gangschwierigkeiten seit August 2018 und seit Oktober 2018 auch unter Schmerzen in beiden Beinen.

Die Beklagte wies darauf hin, im Quartal 3/19 habe die Klägerin überhaupt keine Fälle abgerechnet, im Quartal 4/19 82 Fälle und im Quartal 1/20 85 Fälle. Auch dies stelle keine wesentliche Änderung dar. Der Fallwert sei nicht bekannt. Zur Dienstverpflichtung und Dienstplaneinteilung teilte die Beklagte mit, es gebe keine aktuelle Einteilung der Klägerin.

Die Prozessbevollmächtigte Klägerin stellte den Antrag aus dem Schriftsatz vom 21.03.2019.

Die Vertreterin der Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 16.07.2020 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zum Sozialgericht eingelegte Klage - es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG - ist zulässig und erweist sich zum Teil als begründet.

Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, die den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung überantwortet ist, umfasst auch die vertragsärztliche Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (§§73 Abs. 2, 75 S. 1 S. 1 und 2 SGB V). Auf dieser Rechtsgrundlage wurde die Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (BDO-KVB) erlassen, die hier in der Fassung vom 23.11.2012, in Kraft getreten am 20.04.2013 zur Anwendung kommt. In deren § 2 sind diejenigen Ärzte, medizinische Versorgungszentren ... aufgeführt, die zur Teilnahme an dem ärztlichen Bereitschaftsdienst verpflichtet sind. Nachdem die Klägerin als Vertragsärztin zugelassen ist, besteht für sie eine entsprechende Verpflichtung (§ 2 Abs. 1 Ziff. 1).

§ 14 BDO-KVB enthält einen Befreiungstatbestand. Danach k a n n ein Vertragsarzt ... aus schwerwiegenden Gründen ganz, teilweise oder vorübergehend und zusätzlich auch befristet (§ 14 Abs. 6) vom ärztlichen Bereitschaftsdienst befreit werden. Schwerwiegende Gründe liegen insbesondere in folgenden Fällen vor:

a. Der Arzt ist wegen nachgewiesener Erkrankung oder körperlicher Behinderung zur Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht in der Lage ...

In § 14 Abs. 2 ist bestimmt, dass ein schwerwiegender Grund nach Abs. 1 durch Vorlage geeigneter Unterlagen nachzuweisen ist. Des Weiteren sieht § 14 Abs. 2 vor, dass ein schwerwiegender Grund für eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst nach Absatz 1 S. 2 lit. a) oder b) in der Regel nicht vorliegt, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen gemäß Abs. 1 S. 2 a. und b. erfüllt, jedoch unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe vertragsärztlich tätig ist ...

Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (auch Befreiung vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst ganz, teilweise, vorübergehend, zeitlich befristet), wie sich der Formulierung "kann" in § 14 Abs. 1 BDO-KVB entnehmen lässt. Aber auch aus der Regelung des § 14 Abs. 2 BDO-KVB (Formulierung "grundsätzlich"), ist ein Ermessen abzuleiten. Ferner ist in Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu differenzieren zwischen der völligen Befreiung, der teilweisen oder vorübergehenden und zeitlich befristeten. Liegt ein schwerwiegender Grund für die Befreiung vor, ist zu prüfen, ob statt einer völligen Befreiung andere eingeschränkte Befreiungsmöglichkeiten wie zum Beispiel eine teilweise Befreiung in Betracht zu ziehen sind.

Die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid ausgeführt, es liege kein schwerwiegender Grund im Sinne von § 14 Abs. 1 S. 1 BDO-KVB vor. Von der Beklagten beurteilt wurde die geltend gemachte Gesundheitsstörung (Innenohrschwerhörigkeit beidseits), die mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 20.03.2018 als Behinderung anerkannt und mit einem GdB von 30 bewertet wurde. Es kann dahinstehen, ob diese Behinderung als Befreiungsgrund ausreicht. Im Rahmen des Verfahrens vor dem Sozialgericht München wurde klägerseits zusätzlich geltend gemacht, es gebe weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen. So leide die Klägerin nicht nur an einer Einschränkung des Hörvermögens, sondern auch an einer Polyneuropathie, verbunden mit erheblichen Gangschwierigkeiten seit August 2018 und seit Oktober 2018 auch unter Schmerzen in beiden Beinen. Außerdem sei eine Optikusatrophie festgestellt worden. Dieser Vortrag wird bestätigt durch den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Änderungsbescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 06.07.2020. Dort sind als zusätzliche Behinderungen ein Nervenleiden, bewertet mit einem Einzel-GdB von 40 und eine Sehminderung beidseits, bewertet mit einem Einzel-GdB von 10 aufgenommen worden, insgesamt bewertet mit einem Gesamt-GdB von 60. Somit ist eine wesentliche Änderung eingetreten, indem weitere nachgewiesene Behinderungen hinzukamen, die dazu führen können, dass die Klägerin zur Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht mehr in der Lage ist. Diese neuen Tatsachen sind für die Beurteilung, ob ein Befreiungsgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 lit. a BDO-KVB vorliegt, zu berücksichtigen. Denn es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ("Verbescheidungsklage") nach § 54 SGG, für die maßgeblicher Zeitpunkt der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor der Tatsacheninstanz ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Komment. zum SGG, Rn 34a zu § 54). Dies wird die Beklagte im Rahmen einer neuen Ermessensentscheidung nach § 14 Abs. 1 BDO-KVB zu würdigen haben. Es mag sein, dass allein die Schwerhörigkeit beidseits als Befreiungsgrund nicht ausreicht und durch Verwendung von Hilfsmitteln (z.B. Spezialsthetoskop), was zweifelhaft erscheint, ausgeglichen werden kann. Art und Schwere der aktuellen Behinderungen in ihrer Gesamtheit, insbesondere was die Schwerhörigkeit beidseits, bewertet mit einem Einzel-GdB von 30 und das Nervenleiden, bewertet mit einem Einzel-GdB von 40 betrifft, sprechen dafür, dass die Klägerin nicht in der Lage ist, "den typischen Notfallsituationen des ärztlichen Alltags wenigstens mit Sofortmaßnahmen bis zum Einsetzen der normalen ärztlichen Versorgung gerecht zu werden". Eine Vergleichbarkeit der Praxistätigkeit der Klägerin mit der Tätigkeit im ärztlichen Bereitschaftsdienst, wie die Beklagte behauptet, ist nach Auffassung des Gerichts nicht ersichtlich. Die Tätigkeit im ärztlichen Bereitschaftsdienst, verbunden mit unerwarteter Inanspruchnahme durch in der Regel unbekannte Patienten setzt insbesondere eine hohe Stressstabilität des Behandlers voraus, die in diesem Umfang im normalen Praxisalltag, vor allem bei einer Bestellpraxis, nicht erforderlich ist. Diese Stressstabilität wird die Klägerin aufgrund ihrer aktuellen Gesundheitsstörungen, darunter einem Nervenleiden nicht aufweisen können. Dies gilt erst Recht im Zusammenhang mit den "Corona"-bedingten Hygienemaßnahmen, die für jemand, der wie die Klägerin an erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen leidet, zusätzliche Belastungen darstellen.

Dem könnte § 14 Abs. 2 BDO-KVB entgegenstehen, wovon die Beklagte ausgeht. Diese Regelung besagt, dass ein schwerwiegender Grund nach § 14 Abs. 1 S. 2 lit. a) bzw. b) dann nicht vorliegt, wenn die Klägerin die Praxistätigkeit unvermindert oder über dem Durchschnitt der Fachgruppe fortführt. Es handelt sich um eine widerlegbare Vermutung, dass ein Vertragsarzt bei unverminderter Praxistätigkeit auch ohne weiteres in der Lage ist, den Ärztlichen Bereitschaftsdienst zu leisten. Mit der Formulierung in § 14 Abs. 2 BDO-KVB "in der Regel" hat der Satzungsgeber aber deutlich gemacht, dass trotz überdurchschnittlicher Praxistätigkeit bzw. unverminderter Praxistätigkeit eine Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst möglich ist. Maßgeblich sind die konkreten Umstände des Einzelfalles, was im Rahmen einer Einzelfallentscheidung zu würdigen ist.

Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die Praxistätigkeit der Klägerin sowohl über dem Durchschnitt liege, als auch unvermindert fortgeführt worden sei. So seien die Fallzahlen in den Quartalen 3/17 (Klägerin: 88 Fälle; Durchschnitt: 68 Fälle), 4/17 (Klägerin: 92 Fälle; Durchschnitt: 33 Fälle), 1/18 (Klägerin: 97 Fälle; Durchschnitt: 34 Fälle) und 2/18 (Klägerin: 106 Fälle; Durchschnitt: 34 Fälle) überdurchschnittlich gewesen. Im Quartal 3/19 habe die Klägerin überhaupt keine Fälle abgerechnet. Auch im Quartal 4/19 habe die Klägerin 82 Fälle und im Quartal 1/20 85 Fälle abgerechnet. Stellt man zur Beurteilung des Umfangs der Praxistätigkeit lediglich auf die Fallzahlen ab, trifft die Ansicht der Beklagten zu, dass die Klägerin überdurchschnittlich und unvermindert ist. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass die bei der Klägerin vorliegende gesundheitsbedingte Beeinträchtigung keine schwerwiegenden Auswirkungen auf die ärztliche Tätigkeit hat, sodass ihr grundsätzlich auch die Teilnahme am Bereitschaftsdienst zuzumuten wäre. Nachdem zusätzliche Behinderungen hinzugekommen sind, festgestellt durch den Änderungsbescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 06.07.2020, anerkannt mit einem Gesamt-GdB von 60 ab dem 04.02.2020, und der aktuelle Gesundheitszustand der Klägerin maßgeblich ist, wie oben ausgeführt, sind Fallzahlen der Jahre 2017 und zumindest 2018 nicht maßgeblich. Vielmehr sind neueste Fallzahlen heranzuziehen. Unbeschadet dessen ist aber entscheidend, dass im konkreten Fall ein Abstellen allein auf Fallzahlen keine ausreichende Aussagekraft darüber besitzt, ob die Praxistätigkeit überdurchschnittlich bzw. die Tätigkeit unvermindert fortgesetzt wird. Denn die Klägerin gehört als psychotherapeutisch-tätige Ärztin einer Fachgruppe an, die im Vergleich zu anderen Fachgruppen sehr niedrige durchschnittliche Fallzahlen aufweist. Dies kann rasch zu Fehlinterpretationen führen. Hinzu kommt, was wesentlich ist, dass sich die Patienten in der Regel in einer länger dauernden, oft mehrmonatigen oder sogar jahrelangen psychotherapeutischen Behandlung befinden und die Behandlung bei der Klägerin in Einzeltherapie in Sitzungen stattfindet. Folglich kann trotz überdurchschnittlicher bzw. gleichbleibender Fallzahl die Anzahl der Arzt-Patientenkontakte in Sitzungen und damit der Umfang der ärztlichen Tätigkeit sehr gering sein. Hier bildet die Fallzahl die Praxistätigkeit nur unzureichend ab und kann nicht den alleinigen Maßstab darstellen. Vielmehr müssen andere Parameter zumindest zusätzlich herangezogen werden, so vor allem die Honorareinkünfte. Hierzu hat die Beklagte keinerlei Feststellungen getroffen. Insofern konnte sie das ihr zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausüben. Sofern die Angaben der Klägerin, dass sie erhebliche Honorareinbußen zu verzeichnen habe, bestätigen sollte, kann einer Befreiung von der Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst die Vorschrift des § 14 Abs. 2 BDO-KVB nicht entgegenstehen.

Im Hinblick auf die aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Klägerin, deren Art und Schwere erscheint auch eine lediglich teilweise Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht ausreichend.

Abschließend kann die Klägerin nach Auffassung des Gerichts nicht einfach darauf verwiesen werden, sie habe lediglich 26 Dienststunden im Jahr zu leisten und eine Dienstabgabe bzw. Dienstvertretung sei möglich. Hierzu ist zu bemerken, dass es selbstverständlich immer Mittel und Wege gibt, der Verpflichtung zur Teilnahme am Bereitschaftsdienst nachzukommen. Im Ergebnis würde dies darauf hinauslaufen, dass eine Befreiung vom Bereitschaftsdienst dann nie zu erteilen wäre, was nach Auffassung des Gerichts mit dem Befreiungstatbestand des § 14 BDO-KVB nicht zu vereinbaren ist.

Aus den genannten Gründen war der Klage zum Teil stattzugeben. Nachdem es sich um eine Ermessensentscheidung der Beklagten handelt, konnte nur im Sinne einer "Verbescheidung" tenoriert werden. Dem Klageantrag unter 2. im Schriftsatz vom 21.03.2019 ("Dem Antrag der Klägerin vom 10.07.2018 auf Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst gemäß § 14 der Bereitschaftsdienstordnung der KVB wird stattgegeben.") konnte deshalb nicht stattgegeben werden, weshalb im Übrigen die Klage abzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.
Rechtskraft
Aus
Saved