L 11 VG 7/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 113 VG 175/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 VG 7/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bedient sich ein Beteiligter der Deutschen Post AG, so darf er regelmäßig darauf vertrauen, dass diese die von ihr für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten einhält. Bei normalen Postlaufzeiten darf nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich mit einem Eingang am folgenden Werktag nach der Aufgabe zur Post gerechnet werden.
2. Nach § 2 Nr. 3 PUDLV müssen die Unternehmen, die Universaldienstleistungen im Briefverkehr anbieten, sicherstellen, dass sie an Werktagen aufgegebene Inlandssendungen im gesamten Bundesgebiet im Jahresdurchschnitt mindestens zu 80 Prozent am ersten und zu 95 Prozent bis zum zweiten auf die Einlieferung folgenden Werktag ausliefern. Wer seine Postsendung an einem Sonntag aufgibt, kann sich auf diesen Regelung nicht verlassen.
3. Ob auch im Fall eines Einschreibens grundsätzlich mit einem Eingang am folgenden Werktag nach der Aufgabe zur Post gerechnet werden darf, kann hier dahinstehen.
4. Berichte über einen unzuverlässigen Brieftransport während oder aufgrund der Corona-Pandemie gab es offenbar nicht. Beteiligte konnten demnach auf normale Postbeförderungszeiten auch in Zeiten von Corona vertrauen.
5. Um eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist aus gesundheitlichen Gründen begründen zu können, muss eine Erkrankung so schwer sein, dass der Beteiligte selbst nicht handeln kann und auch zur Beauftragung eines Dritten nicht in der Lage ist.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. Februar 2020 wird als unzulässig verworfen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 90.

Am 11. September 2015 wurde der 1972 geborene Kläger Opfer eines tätlichen Angriffs, bei dem ein Täter Kleinpflastersteine auf die hintere, rechte Seitenscheibe und die Heckscheibe des PKW des Klägers warf; die Heckscheibe wurde dabei zerstört. Der Täter und ein Komplize schlugen und traten auf den Kläger ein, der dadurch körperlich und seelisch verletzt wurde. Der Täter wurde durch Urteil des Amtsgerichts vom 17. November 2016 wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Sachbeschädigung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Kläger beantragte Leistungen nach dem OEG bei dem Beklagten. Nach Einholung eines psychiatrischen Kausalitätsgutachtens stellte der Beklagte mit Bescheid vom 9. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2017 fest, dass infolge eines schädigenden Ereignisses im Sinne des OEG vorübergehend eine psychoreaktive Störung im Sinne einer Anpassungsstörung bestanden habe, die indes folgenlos verheilt sei, so dass kein GdS festzustellen sei und für die vorübergehenden Gesundheitsstörungen nur ein Anspruch auf Heilbehandlung bestanden habe.

Hiergegen hat der Kläger am 17. November 2017 Klage erhoben.

Der Kläger hat zahlreiche medizinische Unterlagen zu den Gerichtsakten gereicht, unter anderem ein Gutachten, das der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C im Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin S R erstattet hat, in dem es um den Anspruch des Klägers auf eine Erwerbsminderungsrente gegangen ist. Dr. C hat auf seinem Fachgebiet als Diagnose eine paranoid-querulatorische Entwicklung schon im Sinne einer beginnenden Psychose festgestellt; auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei der Kläger nicht einsatzfähig.

Das Sozialgericht hat bei der Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. H ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten vom 22. September 2019 - nebst psychologischem Zusatzgutachten - eingeholt, das diese nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 9. September 2019 erstellt hat und in dem sie zu der Einschätzung gelangt ist, ein krankheitswertiges seelisches Zustandsbild liege nicht vor; in Anbetracht der Aktenlage seien mehrfach aufgetretene depressive Krankheitsepisoden im Sinne einer rezidivierenden depressiven Störung bei dem Kläger bekannt. Zum Begutachtungszeitpunkt sei das Symptombild remittiert.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 11. Februar 2020 abgewiesen und sich zur Begründung auf das Gutachten von Dr. H gestützt.

Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 15. Februar 2020 zugestellt worden. Am 15. März 2020, einem Sonntag, hat der Kläger bei der Deutschen Post AG die an das Sozialgericht Berlin gerichtete Berufungsschrift als Einschreiben aufgegeben. Die Berufungsschrift ist am 17. März 2020 bei dem Landesverwaltungsamt ausgeliefert worden und – wohl nach Weiterleitung - bei dem Sozialgericht Berlin am 19. März 2020 eingegangen.

Auf das Problem einer möglichen Verfristung der Berufung ist der Kläger mit gerichtlichem Schreiben vom 20. April 2020 hingewiesen worden. Er hat dazu erklärt, er sei krank. Hierzu hat er ein ärztliches Attest seiner behandelnden Psychiaterin B vom 2. April 2020 zu den Gerichtsakten gereicht, die als Diagnose eine querulatorische Persönlichkeitsstörung mitgeteilt hat.

Mit Beschluss vom 5. August 2020 hat der Senat nach Anhörung der Beteiligten die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Berichterstatter übertragen.

Der Kläger beantragt schriftlich und sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. Februar 2020 und den Bescheid des Beklagten vom 9. August 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger wegen des Vorfalls am 11. September 2015 Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat weder selbst erschienen noch vertreten gewesen ist. Denn er ist mit der ihm ordnungsgemäß zugestellten Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Die Berufung ist gemäß § 158 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen. Denn sie ist nicht innerhalb der Monatsfrist der §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 151 Abs. 1 SGG eingelegt worden. Danach ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Gemäß §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 151 Abs. 2 Satz 1 SGG ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. Diese Frist ist vorliegend nicht gewahrt.

Die Ausfertigung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts vom 11. Februar 2020 ist dem Kläger mittels Zustellungsurkunde übermittelt worden, § 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 176, 177 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO). Ausweislich der darüber ausgestellten Zustellungsurkunde konnte dem Kläger die Ausfertigung des Gerichtsbescheides von dem mit der Zustellung betrauten Mitarbeiter nicht übergeben werden, da er nicht in seiner Wohnung angetroffen wurde. Die Zustellung ist vorliegend jedoch im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstückes in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten am 15. Februar 2020 wirksam bewirkt worden, vgl. § 180 Satz 1 und 2 ZPO. Die einmonatige Frist gemäß §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 151 Abs. 1 SGG zur Einlegung der Berufung gegen den mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung im Sinne des § 66 Abs. 1 SGG versehenen Gerichtsbescheid begann gemäß § 64 Abs. 1 SGG mit dem Tag nach der Zustellung, dem 16. Februar 2020, zu laufen und lief gemäß § 64 Abs. 3 SGG am Montag, dem 16. März 2020 ab. Die Berufungsschrift ist indes erst am 19. März 2020 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangen.

Dem Kläger ist keine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist gemäß § 67 SGG zu gewähren. Nach dieser Vorschrift ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten (Abs. 1). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Eine Fristversäumnis ist unverschuldet, wenn der Beteiligte die ihm nach seinen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt beachtet, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls nach allgemeiner Verkehrsanschauung zur gewissenhaften Prozessführung vernünftigerweise erforderlich ist (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 27. März 2017 - B 9 V 68/16 B – juris). Bedient sich ein Beteiligter der Deutschen Post AG, so darf er regelmäßig darauf vertrauen, dass diese die von ihr für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten einhält. Bei normalen Postlaufzeiten darf nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich mit einem Eingang am folgenden Werktag nach der Aufgabe zur Post gerechnet werden (vgl. BSG, Urteil vom 27. November 2018 - B 2 U 17/18 B – juris).

Ob dieser Rechtsprechung vor dem Hintergrund des Erlasses der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vom 15. Dezember 1999 (BGBl. I S. 2418) ohne weiteres zugestimmt werden kann, kann hier dahinstehen. Zwar können danach die Deutsche Post AG und andere Unternehmer, die Universaldienstleistungen im Briefverkehr anbieten, die Postlaufzeiten nicht mehr selbst frei festlegen. Sie sind ihnen vielmehr für den Normalfall verbindlich vorgegeben. Nach § 2 Nr. 3 PUDLV müssen die Unternehmen sicherstellen, dass sie an Werktagen aufgegebene Inlandssendungen im gesamten Bundesgebiet im Jahresdurchschnitt mindestens zu 80 Prozent am ersten und zu 95 Prozent bis zum zweiten auf die Einlieferung folgenden Werktag ausliefern. Mit Blick auf die recht "schwache" Quote von 80 Prozent mag man Zweifel daran haben, dass wirklich mit einem Eingang am folgenden Werktag nach der Aufgabe zur Post gerechnet werden kann (so aber Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23. Januar 2008 - XII ZB 155/07 – juris). Hier jedenfalls liegt der Fall schon deshalb anders, weil der Kläger ausweislich des auf dem Briefumschlag, in dem sich der Berufungsschriftsatz befunden hat, befindlichen Aufklebers den Brief am 15. März 2020 zur Post gegeben hat. Der 15. März 2020 war ein Sonntag, so dass der Brief nicht im Sinne des § 2 Nr. 3 PUDLV an einem Werktag aufgegeben worden ist.

Offen bleiben kann daher, ob daneben der Kläger auch deshalb nicht mit einem Eingang des Briefes am Folgetag rechnen konnte, weil er ihn per Einschreiben versendet hat (für eine Behandlung des Einschreibens wie einen "normalen" Brief Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. Juli 2012 - L 19 AS 1725/11 NZB -; aA Oberlandesgericht Frankfurt, Beschluss vom 7. Dezember 2010 - 3 Ws 1142/10 – beide bei juris). Allerdings dürfte manches dafür sprechen, dass ein Einschreiben nicht anders zu behandeln ist als ein "normaler" Brief. Denn § 2 Nr. 3 PUDLV spricht nur allgemein von einer inländischen Briefsendung und um eine solche handelt es sich bei Briefen und Einschreiben gleichermaßen. Auch die Deutsche Post AG behauptet auf ihrer Internetseite, Einschreiben würden in der Regel am Tag nach der Einlieferung zugestellt. Dass sich diese Behauptung möglicherweise nicht ansatzweise mit der Realität deckt, dürfte einer Gleichbehandlung von Briefen und Einschreiben nicht entgegen stehen.

Nichts anderes folgt daraus, dass die Berufungsschrift – warum auch immer – bereits am 17. März 2020 beim Landesverwaltungsamt eingegangen ist. Zwar besteht auch für Behörden die Verpflichtung, leicht und einwandfrei als fehlgeleitete fristwahrende Rechtsbehelfsschreiben erkennbare Schriftstücke an die zuständige Stelle weiterzuleiten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 67 Rn. 4b). Dies wirkt sich hier aber schon deshalb nicht zugunsten des Klägers aus, weil auch ausgehend vom Eingang beim Landesverwaltungsamt die Berufung verfristet ist, wenn auch nur um einen Tag.

Auch aus der Corona-Pandemie kann der Kläger keine Wiedereinsetzungsgründe herleiten. Berichte über einen unzuverlässigen Brieftransport gab es offenbar nicht. Konnten und können Beteiligte demnach auf normale Postbeförderungszeiten auch in Zeiten von Corona vertrauen (vgl. Meßling in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 - Corona-Gesetzgebung - Gesundheit und Soziales, 1. Auflage 2020, § 20, Rn. 90), so wirkt sich dies vorliegend nicht zugunsten des Klägers aus, weil er – wie dargelegt - sich schon bei normalen Zustellverhältnissen bei einer Aufgabe seiner Berufungsschrift an einem Sonntag nicht darauf verlassen durfte, dass eine Zustellung am Folgetag erfolgen würde. Daher kommt es auch nicht darauf an, ob den Kläger nicht sogar eher eine erhöhte Sorgfaltspflicht getroffen haben könnte, er sich mit anderen Worten in Pandemiezeiten noch weniger darauf verlassen konnte, dass seine Berufungsschrift bei Aufgabe am Sonntag am Folgetag zugestellt würde (vgl. Zschieschack in: Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 1. Auflage 2020, § 13, Rn. 105).

Auch soweit der Kläger sinngemäß gesundheitliche Gründe angeführt hat, hat er Wiedereinsetzungsgründe nicht glaubhaft gemacht. Denn eine Erkrankung muss so schwer sein, dass der Beteiligte selbst nicht handeln kann und auch zur Beauftragung eines Dritten nicht in der Lage ist (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 67 Rn. 7c). Ein solcher Fall lässt sich den vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht ansatzweise entnehmen und zwar auch nicht dem Attest seiner behandelnden Psychiaterin vom 2. April 2020. Insbesondere ist nicht erkennbar, warum der Kläger das Einschreiben am Sonntag, nicht aber einen Tag früher aufgeben konnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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