S 49 AS 3784/18

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
49
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 49 AS 3784/18
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
1.Der Bescheid des Beklagten vom 20. Oktober 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2018 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 24. Oktober 2018 wird aufgehoben. 2. Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um den Ersatz von durch den Kläger und seiner Ehefrau bezogenen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Zweiten Buch (SGB II) wegen des Vorwurfs sozialwidrigen Verhaltens.

Der Kläger war im Januar 2017 als selbstständiger Taxifahrer tätig. Am 8. Januar 2017 führte der Kläger ein Taxi, obwohl er infolge des Konsums von Betäubungsmitteln fahruntüchtig war. Der Führerschein des Klägers wurde sichergestellt. Eine Blutprobe gab Hinweise auf den Konsum von Kokain und Opiaten. Mit Beschluss vom 16. Januar 2017 (Blatt 39 der Verwaltungsakte des Beklagten) wurde die Fahrerlaubnis des Klägers vorläufig entzogen. Ebenfalls wurde im Januar 2017 ein Verfahren zum Widerruf der Genehmigung zum Betrieb eines Taxiunternehmens eingeleitet.

Im Februar 2017 stellte der Kläger einen Antrag bei dem Beklagten auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Dem Kläger und seiner Ehefrau gewährte der Beklagte ab Februar 2017 Leistungen nach dem SGB II.

Mit Strafbefehl vom 18. April 2017 wurde die Fahrerlaubnis des Klägers entzogen, der Führerschein eingezogen und der Kläger zu einer Geldstrafe verurteilt und ihm die Verfahrenskosten auferlegt.

Mit Bescheid vom 20. Oktober 2017 stellte der Beklagte fest, dass der Kläger zum Ersatz der ihm und der mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen gewährten Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gewährten Leistungen verpflichtet sei, da er die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zumindest grob fahrlässig herbeigeführt habe, indem er unter Einfluss von Betäubungsmitteln Taxi gefahren sei und dadurch die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe. Er habe dabei erkennen können, dass dadurch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Klägers und der mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen erbracht werden müssten.

Der Kläger hat gegen den Bescheid vom 20. Oktober 2017 Widerspruch erhoben. In der Widerspruchsbegründung bemängelt er, dass seine seelische, psychische und gesundheitliche Verfassung sowie seine persönlichen Probleme, die er im Zeitraum vor Antragstellung beim Beklagten gehabt habe, unberücksichtigt geblieben sein.

Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2018 zurück. Der Beklagte begründete den Widerspruchsbescheid damit, dass der Kläger sich objektiv sozialwidrig verhalten habe, indem er ein aus Sicht der Solidargemeinschaft der Steuerzahler zu missbilligendes Verhalten an den Tag gelegt habe, das den Lebenssachverhalt so verändert habe, dass eine Leistungspflicht nach dem SGB II eingetreten sei, in dem er sich im Straßenverkehr strafbar gemacht habe. Diese strafbare Handlung habe einen unmittelbaren Bezug zu seiner Tätigkeit als Taxifahrer gehabt. Der Kläger hätte als Taxifahrer damit rechnen müssen, nach dem Betäubungsmittelkonsum fahruntüchtig zu sein und deshalb den Führerschein zu verlieren und dadurch bedürftig zu werden.

Mit Bescheid vom 24. Oktober 2018 stellte der Beklagte erneut fest, dass der Kläger zum Ersatz der ihm und den mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen verpflichtet ist und stellte weiter fest, dass diese Ersatzpflicht die dem Kläger und seiner Ehefrau gewährten Leistungen für die Zeit vom 1. April 2017 bis zum 30. September 2017 betreffe und der Gesamtbetrag der Rückforderung 8449,56 EUR betrage.

Der Kläger hat mit Klageschrift vom 28. Oktober 2018 vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben. Er macht geltend, dass er unter erheblichen physischen, psychischen und seelischen Leiden zum Zeitpunkt der Fahrt unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln gelitten habe und hat im Verfahren ärztliche Bescheinigungen über seine gesundheitlichen Leiden im Jahr 2017 eingereicht.

Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 20. Oktober 2017, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2018 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 24. Oktober 2018 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist auf die Begründung im Widerspruchsbescheid.

Der Beklagte macht insbesondere geltend, dass er sich durch eine fachliche Weisung der Bundesagentur für Arbeit, die den Fall der Trunkenheitsfahrt eines Berufskraftfahrers als Beispiel für einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II aufführe, gebunden sehe.

In dem Rechtsstreit hat am einen 30. August 2020 ein Erörterungstermin vor dem Sozialgericht Hamburg stattgefunden. In dem Erörterungstermin ist der Kläger angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung des Klägers wird auf die Sitzungsniederschrift (Blatt 22 und 23 der gerichtlichen Akte) verwiesen. Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere hinsichtlich der Einzelheiten der gegen den Kläger ergriffenen fahrerlaubnisrechtlichen und strafrechtlichen Maßnahmen (Blatt 39 ff. der Verwaltungsakte des Beklagten), wird der Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten und der gerichtlichen Verfahrensakte in Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage hat in vollem Umfang Erfolg. Der Beklagte kann von dem Kläger nicht die Erstattung der ihm und seiner Ehefrau für den Zeitraum von April bis September 2017 gewährten Leistungen nach dem SGB II nicht verlangen. Denn es mangelt bereits an einem als sozialwidrig zu beurteilendem Verhalten des Klägers. Auf die von dem Kläger vorgebrachten gesundheitlichen Leiden kommt es daher nicht an.

I. Mit der Klage kann der Kläger den Bescheid vom 20. Oktober 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2018 auch gerade in Gestalt des Änderungsbescheides vom 24. Oktober 2018 angreifen und die Aufhebung des Bescheides begehren. Denn auch der Änderungsbescheid vom 24. Oktober 2018 ist gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand der Klage geworden. Denn dieser Bescheid ändert den Bescheid, mit dem die Ersatzpflicht des Klägers festgestellt wurde, indem die Ersatzpflicht erneut feststellt und der Umfang der Ersatzpflicht beziffert und zur Erstattung gefordert wird. Voraussetzung ist auch nicht, dass dieser Bescheid, was zweifelhaft ist, nach KIageerhebung erlassen worden ist. Voraussetzung für die Einbeziehung eines Bescheides nach § 96 SGG ist lediglich, dass er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist. Erst "nach" Klageerhebung, kann dieser Bescheid dann Gegenstand der Klage werden (siehe auch: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 96, Rn. 2 a.E.).

II. Gemäß § 34 SGB II ist ein Leistungsberechtigter, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet. Neben diesen Voraussetzungen ist (im Normtext ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal die Sozialwidrigkeit des Verhaltens, das zu der Gewährung von Leistungen führt. Dies hat der Gesetzgeber zum einen durch die Änderung der amtlichen Überschrift des § 34 SGB II zum 1. April 2011 durch Artikel 2 Nummer 31 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011 klargestellt (vgl. BR-Drs. 661/10, Seite 182; siehe auch BSG, Urteil vom 16. April 2013, B 4 AS 55/12 R). Zum anderen ergibt sich dies bereits aus dem quasideliktischen Charakter des Ersatzanspruches nach § 34 SGB II (hierzu insbesondere: BSG, Urteil vom 2. November 2012 – B 4 AS 39/12; BSG, Urteil vom 16. April 2013 - B 14 AS 55/12 R) sowie grundsätzlichen sozialrechtlichen Rechtsgedanken, nach denen sich die Haftung für Vermögensschäden im Sozialrecht nicht strenger darstellen kann als nach allgemeinen zivilrechtlichen Haftungsgrundsätzen (vgl. BSG, Urteil vom 28. November 2018, B 4 AS 43/17 R; Kellner in NZS 2020, 455, 457).

§ 34 SGB II stellt danach eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift dar (BSG, Urteil vom 2. November 2012 – B 4 AS 39/12) und darf den Grundsatz der verschuldensfreien Gewährung des Existenzminimums nicht konterkarieren (BSG aaO). Zur Beurteilung eines Verhaltens als sozialwidrig oder nicht sozialwidrig sind daher auch die sich aus dem SGB II festgeschriebenen Wertmaßstäbe einzubeziehen (BSG aaO). Daraus ergibt sich etwa, dass ein Verhalten, das als durchschnittlicher Fall einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II gewertet werden kann, nicht als sozialwidrig anzusehen ist. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Verhalten, das zu einer Ersatzpflicht nach § 34 SGB II führt, nicht gleichfalls auch eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II darstellt. Über den gewöhnlichen Fall der Pflichtverletzung muss sich jedoch eine besondere Sozialwidrigkeit ergeben. Dementsprechend sieht das Bundessozialgericht auch in strafbaren Handlungen wie beispielsweise dem vorsätzlichen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (BSG, Urteil vom 16. April 2013 - B 14 AS 55/12 R) oder räuberischem Diebstahl in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung (BSG, Urteil vom 2. November 2012 – B 4 AS 39/12 R) kein sozialwidriges Verhalten, auch wenn das Verhalten in hohem Maße verwerflich ist und von der Rechtsordnung offensichtlich missbilligt wird. Erfasst wird nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, das heißt in "innerem Zusammenhang", zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit und Leistungserbringung (BSG aaO).

Gemessen an diesen Voraussetzungen fehlt es jedenfalls an einer Sozialwidrigkeit des Verhaltens des Klägers. Dem Kläger musste nicht einmal unmittelbar vor Augen stehen, dass der Konsum von Betäubungsmitteln zur Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II führen würde. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass er es auf die Entdeckung seiner Fahrt unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln angelegt hat. Vielmehr kann das Gericht davon ausgehen, dass der Kläger gerade damit rechnete, nicht "erwischt" zu werden.

Damit stellt sich das Verhalten des Klägers als Tatsachengrundlage einer hypothetischen Verhängung einer Sperrzeit nach § 159 Absatz 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches – Drittes Buch (SGB III) dar und kann damit grundsätzlich Grundlage einer Sanktion nach § 31 Absatz 1 Satz 1 SGB II iVm § 31 Absatz 2 Nummer 4 SGB II bilden. Dass dies für den (zuvor selbstständig tätigen) Kläger nicht möglich war, ändert nichts an den systematischen Wertungen des SGB II. Auch hinsichtlich der Annahme einer Pflichtverletzung nach § 31 SGB II wären Ermittlungen zu dem Bestehen einer Suchterkrankung oder Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit erforderlich gewesen.

Der in der Fachlichen Weisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 34 SGB II, 34.9, enthaltene Rechtsauffassung folgt das Gericht mithin nicht. Auch nach dem Inhalt der Fachlichen Weisung hätte der Beklagte aber in jedem Fall ermitteln müssen, ob dem Betäubungsmittelkonsum des Klägers eine Suchterkrankung oder Einschränkung der Steuerungsfähigkeit zugrunde gelegen hat.

Zudem hätte sich nach Auffassung des Gerichts jedenfalls aufgedrängt, zu prüfen, ob nicht gemäß § 34 Absatz 1 Satz 6 SGB II von der Geltendmachung eines Ersatzanspruches hätte abgesehen werden musste, weil sie eine besondere Härte für den Kläger bedeutet. Denn, wie sich aus der Akte des Beklagten ergibt, wurde gegen den Kläger infolge der Fahrt unter Betäubungsmitteleinfluss eine Geldstrafe in Höhe von 1.200 EUR verhängt und Verfahrenskosten von weiteren 523,72 EUR gegen den Kläger festgesetzt. Erleidet ein Leistungsberechtigter durch das vermeintlich sozialwidrige Verhalten bereits anderweitig erhebliche Nachteile, ist der Leistungsträger gehalten, eine besondere Härte zu prüfen.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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