L 4 AS 174/18 ZVW

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 8 AS 2788/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 174/18 ZVW
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 12. Dezember 2013 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist die Rücknahme und Erstattung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit von Januar 2005 bis April 2010.

Die am ... 1948 in ... (Russland) geborene und zuletzt dort wohnhafte Klägerin und Berufungsbeklagte (im Weiteren: Klägerin) siedelte im April 2004 in die Bundesrepublik Deutschland über. Sie bezog zunächst Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und ab Juni 2004 Eingliederungsleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) für einen Sprachkurs.

Am 12. Februar 2004 (vor der Ausreise) hatte die Klägerin im Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland u.a. zu ihren Einkünften angegeben, sie beziehe eine Rente von 1.200 Rubel und habe ihre Eigentumswohnung für 500.000 Rubel verkauft. Im Sozialhilfeantrag vom 1. Juni 2004 gab sie gegenüber der Beigeladenen – durch Streichung der Antwortmöglichkeiten – an, kein Einkommen zu erzielen und kein Vermögen zu haben. Auf die Frage "Wovon wurde bisher der Lebensunterhalt bestritten?" gab sie an "Rente", verneinte das Bestehen von Rentenansprüchen und erklärte, in den letzten 10 Jahren keine Vermögenswerte veräußert zu haben. Zu den Arbeitsverhältnissen im letzten Jahr vor Antragstellung gab sie an, bis April 2004 in einem Supermarkt in St. P. gearbeitet zu haben. Die Beigeladene bewilligte Sozialhilfeleistungen ohne Anrechnung von Einkommen. Nach der Bewilligung von Eingliederungsleistungen durch die Agentur für Arbeit Dessau stellte die Beigeladene mit Bescheid vom 9. August 2004 die BSHG-Leistungen ab 1. August 2004 ein.

Am 23. November 2004 beantragte die Klägerin SGB II-Leistungen beim Beklagten und Berufungskläger (im Weiteren: Beklagter). Das Antragsformular enthielt unter "VI. Einkommensverhältnisse " (Seite 3) folgenden Hinweis:

"Als Einkommen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen.

Haben Sie und/oder die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Einnahmen aus

Nichtselbständiger oder selbständiger Arbeit, Vermietung oder Verpachtung, Land- und Forstwirtschaft,

Kindergeld, Entgeltersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Übergangsgeld, Krankengeld,

Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen, ( )

sonstige laufende oder einmaligen Einnahmen gleich welcher Art?"

Danach fügte die Klägerin handschriftlich den Bezug von "Eingliederungshilfe" ein.

Mit Erstbescheid vom 26. November 2004 bewilligte der Beklagte der Klägerin für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 2005 SGB II-Leistungen von anfänglich 585,80 EUR monatlich. In den Fortzahlungsanträgen u.a. vom 12. Mai und 4. November 2005, 2. Mai und 7. November 2006 erklärte die Klägerin jeweils, es hätten sich keine Änderungen in ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen ergeben. Im Weiteren stellte sie Weiterbewilligungsanträge, ohne auf Änderungen der bisherigen Verhältnisse oder ein Einkommen hinzuweisen. Der Beklagte bewilligte bestandskräftig folgende Leistungen:

Januar 2005: 574,00 EUR (Regelleistung 319,97 EUR / KdUH 254,03 EUR)

Febr. bis Mai 2005, mtl.: 596,79 EUR (331 / 265,79)

Juni 2005 bis Juni 2006: 586,13 EUR (331 /255,13)

Juli 2006: 600,13 EUR (345 / 255,13)

August 2006 553,32 EUR (345 / 252,13)

Sept. bis Dez. 2006: 597,13 EUR (345 / 252,95)

Januar bis März 2007: 598,16 EUR (345 / 253,16)

April bis Juni 2007: 648,02 EUR (345 / 303,02)

Juli 2007 bis April 2008: 650,02 EUR (347 / 303,02)

Mai 2008: 470,98 EUR (347 / 123,98)

Juni 2008: 639,10 EUR (347 / 292,10)

Juli 2008: 627,20 EUR (351 / 276,20)

Aug. 2008 bis März 2009: 644,57 EUR (351 / 293,57)

April und Mai 2009: 434,44 EUR (351 / 83,44)

Juni 2009: 644,57 EUR (351 / 293,57)

Juli bis Nov. 2009: 652,57 EUR (359 / 293,57)

Dez. 2009 bis Mai 2010: 652,41 EUR (359 / 293,41)

Mit Schreiben vom 14. Januar 2010 fragte der Beklagte die Klägerin nach dem Bezug einer russischen Altersrente und forderte sie zur Vorlage von Belegen auf. Im Februar 2010 bestätigte die Klägerin den Bezug einer russischen Altersrente und legte in Kopie die ersten beiden Seiten ihres Rentenbuchs vor.

Mit Anhörungsschreiben vom 12. April 2010 wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, sie habe seit Januar 2005 zu Unrecht SGB II-Leistungen bezogen, da § 7 Abs. 4 SGB II einem Leistungsanspruch entgegen stehe. Sie habe den Bezug der russischen Altersrente nicht angegeben und dadurch zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht. Er beabsichtige, die Leistungsbewilligungen gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zurückzunehmen. Die Leistungen in einer Gesamthöhe von 48.179,87 EUR seien gemäß § 50 SGB X zu erstatten. Die Erstattung setze sich wie folgt zusammen:

(Tabelle nicht darstellbar)

Mit Bescheid vom 13. April 2010 nahm der Beklagte die Leistungsbewilligung ab dem 1. Mai 2010 zurück: Wegen des Bezugs der russischen Altersrente für Frauen liege ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II vor. Mit Schreiben vom 17. Juni 2010 machte er gegenüber der Beigeladenen zudem einen Erstattungsanspruch gemäß den §§ 103 und 104 SGB X geltend.

Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 28. Juni 2010 nahm der Beklagte die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 vollständig zurück und forderte eine Erstattung von 48.179,87 EUR. Die Klägerin habe SGB II-Leistungen bezogen, obwohl die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II nicht vorgelegen hätten. Sie habe in ihrem Erstantrag keine Angaben zum Einkommen aus der russischen Altersrente gemacht. Diese zumindest grob fahrlässige Falschangabe sei ursächlich für die rechtsfehlerhafte Bewilligung gewesen. Erst auf Aufforderung habe sie den Rentenbezug eingeräumt. Neben den Leistungen für den Regelbedarf und die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) müsse sie auch die für sie gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge erstatten.

Die Klägerin legte gegen den Rücknahme- und Erstattungsbescheid am 15. Juli 2010 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. September 2010 zurückwies. Er führte aus: Der Klägerin seien für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. April 2010 SGB II-Leistungen bewilligt worden, obwohl sie in diesem Zeitraum eine russische Altersrente bezogen habe. Dies schließe einen Leistungsbezug nach dem SGB II aus, da nach § 7 Abs. 4 SGB III Personen, die eine Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlichrechtlicher Art beziehen, keine Leistungen nach dem SGB II erhielten. Die Leistungsbewilligung sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Die Rücknahme beruhe auf § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Die Klägerin könne auf den Bestand der Bewilligung nicht vertrauen, da sie zumindest grob fahrlässig die Altersrente nicht als Einkommen angegeben habe, obwohl in den Antragsformularen nach Einkommen gefragt worden sei. Bei der Antragstellung und in den Merkblättern zum SGB II werde darauf hingewiesen, dass alle Einnahmen anzugeben seien. Die Leistungen seien gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. Die Forderung setze sich aus Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes von 39.845,07 EUR und den nach § 335 SGB III ebenfalls zu erstattenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen von 8.334,80 EUR zusammen.

Am 16. September 2010 hat die Klägerin beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) Klage erhoben und vorgetragen: Sie habe zu keinem Zeitpunkt grob fahrlässig oder gar vorsätzlich gehandelt. Sie beherrsche die deutsche Sprache nicht. Da sie nur die russische Sprache und kyrillische Buchstaben beherrsche, sei sie beim Ausfüllen von Formularen stets auf fremde Hilfe zur Übersetzung und zum Schreiben angewiesen. Beim Ausfüllen des Antragsformulars im November 2004 sei sie trotz Hilfe nicht in der Lage gewesen, die Fragen richtig zu beantworten. Sie habe nicht verstanden, dass sie die Rente habe angeben müssen. Bei der Einreise habe sie die deutschen Behörden über ihre Einkünfte einschließlich der russischen Altersrente informiert. Bereits in ihrer Erklärung beim Konsulat vom 12. Februar 2004 habe sie den Bezug der russischen Rente von 1.200 Rubel angegeben. Dies müsse dem Beklagten bekannt sein. Außerdem habe sie auch den Verkauf ihrer Wohnung mitgeteilt. Sie kenne die Zuständigkeiten der deutschen Einwanderungs- und Sozialbehörden nicht. Vorsorglich fechte sie die fehlerhaften Erklärungen an. Sie habe in jedem Fall einen Sozialleistungsanspruch, da sie ihren Lebensunterhalt nicht allein aus der geringen Altersrente bestreiten könne.

Der Beklagte hat erwidert: Die Erklärung vom 12. Februar 2004 sei ihm nicht bekannt. Sprach- und Verständigungsprobleme würden die Klägerin nicht von der Verpflichtung entbinden, die Formulare mit der erforderlichen Sorgfalt auszufüllen und wahrheitsgemäße und vollständige Angaben zu machen. Bei Unklarheiten hätte sie nachfragen müssen. Ein Verschulden Dritter, deren Hilfe sie sich bedient habe, sei ihr zuzurechnen.

Im Erörterungstermin am 30. September 2013 hat die Klägerin u.a. angegeben: Beim ersten SGB II-Antrag habe sie sich Hilfe beim Ausfüllen der Formulare von Mitarbeitern der Privatschule in Dessau-Mitte geholt. Die Direktorin, eine Lehrerin und die Sozialarbeiterin hätten ihr geholfen, aber nicht jede Frage übersetzt. Die Hinweise unter VI. im Antragsformular seien ihr nicht erläutert worden. Ihr sei nur gesagt worden, sie solle dort das Wort "Eingliederungshilfe" eintragen. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass sie alle Einnahmen hätte angeben müssen. Bei den jeweiligen Anträgen auf Weiterbewilligung habe sie zumeist aus den vorangegangenen Formularen abgeschrieben. Auf den Inhalt der Formulare habe sie nicht geachtet. Die russische Altersrente sei von Anfang an auf ihr Konto überwiesen worden, das sie in St. P. immer noch habe. Sie hebe das Geld ab und verbrauche es, wenn sie dort zu Besuch sei. Sie sei ausgebildete Mathematiklehrerin, habe aber als Ingenieurin und zuletzt als Verkäuferin gearbeitet. Beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland habe sie die Erklärung vom 12. Februar 2004 abgegeben, in der alle Angaben zu ihren Einkünften enthalten seien. Sie habe dort die Erklärung mit anderen Dokumenten in einem verschlossenen Umschlag erhalten mit der Anweisung, diesen den deutschen Sozialbehörden zu übergeben, was sie auch gemacht habe. Bei russischen Behörden sei das Stellen von Anträgen ebenfalls formalisiert. Manchmal müsse man Angaben mehrfach machen. Dies sei nicht so einfach. In den ersten Jahren in Deutschland habe sie beim Ausfüllen der Formulare immer Hilfe gebraucht, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen sei. Die Amtssprache sei für sie unverständlich.

Das SG hat mit Urteil vom 12. Dezember 2013 den Bescheid des Beklagten vom 28. Juni 2010 und den Widerspruchsbescheid vom 2. September 2010 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Die streitige Leistungsbewilligung sei zwar objektiv rechtswidrig gewesen, weil die Klägerin gemäß § 7 Abs. 4 SGB III wegen des Bezugs einer Altersrente von SGB II-Leistungen ausgeschlossen sei. Eine Rücknahme sei jedoch nicht möglich, weil sich die Klägerin gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X auf Vertrauensschutz berufen könne. Sie habe gegenüber dem Deutschen Generalkonsulat den Bezug der Altersrente angegeben und sei nach Übergabe des Umschlags nach ihrer Einreise davon ausgegangen, dass die beteiligten Sozialbehörden alle notwendigen Angaben über sie hätten. Sie habe auf die Rechtmäßigkeit der Bewilligung von SGB II-Leistungen vertraut. Grobe Fahrlässigkeit sei ihr in Bezug auf die Nichtangabe der russischen Altersrente bei der Antragstellung auf SGB II-Leistungen nicht vorzuwerfen. Nach dem subjektiven Sorgfaltsmaßstab sei zu berücksichtigen, dass sie kurz nach ihrer Einreise der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig gewesen sei. Sie habe sich sogar Hilfe beim Ausfüllen der Formulare gesucht. Dabei habe es sich um Personen gehandelt, die aus ihrer Sicht sachkundig gewesen seien. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie das Antragsformular "blind" ausgefüllt und unterschrieben habe.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 9. Januar 2014 zugestellte Urteil am 15. Januar 2014 Berufung eingelegt und macht geltend, das Verhalten der Klägerin sei als grob fahrlässig zu bewerten. Nach ihrem Bildungsstand hätte sie sich mit den konkreten Inhalten der Antragsformulare auseinandersetzen müssen. Sie habe nicht davon ausgehen dürfen, dass ihre Angaben vollständig und korrekt gewesen seien. Bei Zweifeln hätte sie nachfragen müssen.

Der Senat hat am 12. Januar 2017 den Sozialhilfeträger beigeladen und die Sozialhilfeakte der Klägerin beigezogen. Nach Akteneinsicht hat der Beklagte vorgetragen: Die Klägerin habe auch gegenüber der Beigeladenen den Rentenbezug nicht angegeben. Ihm gegenüber habe sie zudem den Erlös aus dem Verkauf der Wohnung nicht als Vermögen erklärt.

Die Klägerin hat dazu angegeben: In der Sozialhilfeakte befinde sich eine Erklärung über ihre Rente in russischer Sprache. Ihr sei die schwierige Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der Beigeladenen und dem Beklagten nicht bekannt. Ein Verstoß gegen Sorgfaltspflichten könne ihr nicht vorgeworfen werden, da sie gegenüber der Beigeladenen den Bezug der Rente angegeben habe.

In der mündlichen Verhandlung des Senats am 31. Januar 2017 hat die Klägerin u.a. angegeben, sie habe den SGB II-Antrag vom 23. November 2004 eigenhändig in den Räumen des Beklagten ausgefüllt. Sie habe keine konkrete Erinnerung an die Erstantragstellung beim Beklagten, wisse aber noch genau, dass eine Begleitperson zur Unterstützung und zum Übersetzen dabei gewesen sei. Sie wisse aber nicht mehr, wer das gewesen sei.

Mit Urteil vom 31. Januar 2017 hat der Senat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, die Rücknahmeentscheidung des Beklagten sei rechtmäßig. Aufgrund des Bezugs einer Altersrente sei die Klägerin gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X stehe der Rücknahme nicht entgegen, da die Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vorlägen. Die Bewilligungsbescheide beruhten auf Angaben, die die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe. Obwohl sie ausdrücklich nach Renten bzw. sonstigen Einkünften gefragt worden sei, habe sie im Leistungsantrag keine Angaben zu den laufenden Renteneinnahmen gemacht. Die geltend gemachten und bestehenden Sprachprobleme ließen den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht entfallen. Ausländische Antragssteller müssten sich, auch wenn sie der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig seien, über den Inhalt amtlicher Schriftstücke mit Hilfe eines Dolmetschers zuverlässige Kenntnis verschaffen. Es sei der Klägerin als Ausländerin als Sorgfaltspflichtverstoß anzulasten, dass sie in Kenntnis der Verständigungsprobleme nicht alles Erforderliche unternommen habe, um diese auszuräumen. Sie habe sich zwar der Hilfe von ihr sachkundig erscheinenden Personen bedient. Indes habe sie sich nicht die Fragen im Antragsformular im Einzelnen erläutern lassen und die Formulare nach Anweisung mehr oder minder blind ausgefüllt. Zudem habe sie beim Beklagten weder nachgefragt noch darauf hingewiesen, dass die Angaben möglicherweise nicht vollständig oder vollständig richtig waren. Sie müsse daher die erhaltenen SGB II-Leistungen und die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge erstatten. Dem stehe auch nicht § 107 Abs. 1 SGB X entgegen, weil kein Erstattungsanspruch zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern bestehe. Denn nach § 105 Abs. 3 SGB X entstehe ein Erstattungsanspruch gemäß § 105 Abs. 1 SGB X gegenüber dem Träger der Sozialhilfe erst ab dem Zeitpunkt seiner Kenntnis von der eigenen Leistungspflicht.

Gegen das ihr am 29. März 2017 zugestellte Urteil hat die Klägerin bereits am 23. Februar 2017 die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Mit Urteil vom 7. Dezember 2017 hat das BSG das Urteil des Senats vom 31. Januar 2017 (Az.: B 14 AS 5/17 R, juris) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen. Das BSG hat ausgeführt, es könne nicht beurteilen, ob die Klägerin eine der deutschen Altersrente im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II vergleichbare russische Altersrente bezogen habe und sie deshalb von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Es seien konkrete Feststellungen zur Art der bezogenen Rente und zu deren rechtlichen Einordnung in das russische Rentensystem sowie eine rechtsvergleichende Qualifizierung dieser Rente mit einer deutschen Altersrente erforderlich.

Zu dem vom Senat beigezogenen Rechtsguten zu Fragen des russischen Rentenrechts vom Institut für Ostrecht München vom 26. Juni 2014 (für das LSG Nordrhein-Westfalen zum Verfahren L 20 SO 254/12) hat der Beklagte ausgeführt: Aus dem Gutachten ergebe sich, dass die von der Klägerin bezogene russische Altersrente als Arbeitsaltersrente die typischen Merkmale einer deutschen Altersrente aufweise. Der Rentenanspruch entstehe aufgrund der Zahlung von Versicherungsbeiträgen während der Erwerbstätigkeit an das System der staatlichen Rentenversicherung. Gesetzlich geregelt sei sowohl das Rentenalter als auch eine Anwartschaftszeit. Frauen könnten eine Altersarbeitsrente mit 55 Jahren erhalten, wenn sie mindestens fünf Jahre versichert beschäftigt gewesen seien. Die Altersarbeitsrente diene der Sicherstellung des Lebensunterhalts. Sie setze sich aus einem festen Grundbetrag und einem Versicherungsanteil zusammen. Sie unterliege einer dynamischen Anpassung/Erhöhung. Der Koeffizient für die Indexierung werde durch Verordnung der Russischen Föderation festgelegt. Dies entspreche dem Verfahren im deutschen Rentensystem. Aus dem vorgelegten Rentenausweis aus dem Jahr 2003 sei ersichtlich, dass die Klägerin die Altersarbeitsrente nach Vollendung des 55. Lebensjahrs in Anspruch genommen habe.

Die Beigeladene hat im November 2020 ausgeführt, bei der Bewertung der russischen Altersrente sei zu beachten, dass tatsächlich ein Großteil der Rentner einer Erwerbstätigkeit nachgehe, weil die bezogenen Renten in vielen Fällen nicht auskömmlich seien. Trotz staatlicher Festlegung einer (geringen) Mindestrente habe die Russische Föderation die Sicherung des Existenzminimums nicht garantieren können. Dies werde auch dadurch verdeutlicht, dass Erwerbseinkommen nicht auf die Rente angerechnet werde. Bei einem Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres sei daher die Erwerbsbiographie noch nicht abgeschlossen.

Auf Anforderung des Senats hat die Klägerin weitere Unterlagen vorgelegt:

Aus der ersten Seite des Rentenbuchs in Kopie ergibt sich, dass ihr ab dem 22. Januar 2003 auf Lebenszeit eine Rente wegen Alters nach dem Gesetz über die staatliche Rentenversorgung in der Russischen Föderation von 1.052 Rubel und 37 Kopeken bewilligt wurde.

Mehrere Bescheinigungen der Verwaltung des Rentenfonds der Russischen Föderation in der Stadt St. Petersburg weisen die Rentenhöhen im Zeitraum von 2004 bis Januar 2018 aus – u.a. mit folgenden Zahlbeträgen (alle Umrechnungen mit https://www1.oanda.com/lang/de/currency/converter/):

Datum Zahlbetrag in Rubel Umrechnung in Euro

November 2003: 1.052 Rubel (Rente der Kl.) 30,85 EUR

(Durchschnittsrente RF: 1.642 ? 47,76 EUR)

2004: 1.406 37,83 EUR

(DurchschnittsR RF 1.836 ? 49,40 EUR)

2005 1.810 53,61 EUR

2006 2.001 58,77 EUR

2007 2.115 73,21 EUR

2008 3.184 91,69 EUR

2009 4.318 100,16 EUR

2010 5.161 119,52 EUR

November 2011 5.615 133,35 EUR

2012 6.213 154,34 EUR

2013 6.842 156,68 EUR

2014 7.410 126,67 EUR

2015 8.283 119,26 EUR

2016 8.614 121,90 EUR

2017 9.096 131,98 EUR

(DurchschnittsR RF12.000 ? 174,21 EUR)

Januar 2018 9.433 136,58 EUR

Im Sparbuch der Klägerin bei der "S.bank." sind für den Zeitraum von Juli bis Dezember 2011 monatliche Gutschriften des damaligen Rentenbetrags sowie Abhebungen im Juli, September und Oktober 2011 verzeichnet.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 12. Dezember 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des SG für richtig.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen ergänzend Bezug genommen. Diese sind – ebenso wie die mitgeteilten Dokumente über die Renten in der Russischen Föderation – Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet.

Streitgegenständlich ist in dem nach der Entscheidung des BSG wiedereröffneten Berufungsverfahren weiterhin der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 28. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. September 2010. Die Bescheide sind rechtmäßig, denn der Beklagte hat zu Recht die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 aufgehoben (1.) und die erbrachten Leistungen und Versicherungsbeiträge zurückgefordert (2.).

Rechtgrundlage für die Rücknahme der Bewilligungen ist § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der bis zum 30. März 2011 geltenden Fassung in Verbindung mit den §§ 330 Abs. 2 SGB III, 45 SGB X. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III und § 45 Abs. 1, 2 Satz 3 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, soweit er von Anfang an rechtwidrig begünstigend ist. Voraussetzung ist weiter, dass der Begünstigte sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen kann. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid ist formell rechtmäßig. Die Klägerin ist vor Erlass des angegriffenen Bescheids mit Schreiben vom 12. April 2010 gemäß § 24 Abs. 1 SGB X zum Sachverhalt – Bezug einer russischen Altersrente – und dem Vorwurf, den Rentenbezug zumindest grob fahrlässig bei den Antragstellungen nicht angegeben zu haben, angehört worden. Der Beklagte hatte darauf hingewiesen, dass sie gemäß § 7 Abs. 4 SGB II keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen habe, und er beabsichtige, die Leistungsbewilligung für den streitbefangenen Zeitraum aufzuheben und die erbrachten Leistungen in Höhe von insgesamt 48.179,87 EUR zurückzufordern.

Der angegriffene Rücknahme- und Erstattungsbescheid ist auch materiell rechtmäßig. Er ist hinreichend bestimmt im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X, denn aus dem Verfügungssatz und der Begründung konnte die Klägerin klar und eindeutig erkennen, dass und für welchen Zeitraum die Leistungsbewilligung aufgehoben wurde. Da der Beklagte die Leistungsbewilligung für die genannten Bewilligungszeiträume vollständig aufgehoben hat, bedurfte es keiner Bezifferung der auf die einzelnen Monate entfallenden Aufhebungsbeträge, weil die Klägerin – ggf. unter Heranziehung der Bewilligungsbescheide des Beklagten – einfach ermitteln konnte, wie hoch die monatlichen Aufhebungsbeträge sind. Der Widerspruchsbescheid vom 2. September 2010 enthält zudem eine Aufstellung der bewilligten Leistungen.

Hier ist durch den Ausgangsbescheid vom 28. Juni 2010 und den Widerspruchsbescheid vom 2. September 2010 auch die Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten. Der Beklagte hatte erst im Februar 2010 nach Vorlage des Rentenbuchs Klägerin hinreichend sichere Kenntnis vom laufenden Rentenbezug.

Die Rücknahmeentscheidung ist auch im Übrigen rechtmäßig. Alle Bewilligungsbescheide für den streitbefangenen Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 waren von Anfang an rechtwidrig. Denn die Klägerin war im Rücknahmezeitraum bereits dem Grunde nach von SGB II-Leistungen ausgeschlossen.

Gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II erhalten Personen, die eine Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlichrechtlicher Art beziehen, keine SGB II-Leistungen. Hiervon erfasst wird auch der Bezug einer ausländischen Altersrente vor Erreichen der Altersgrenze nach §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 7a SGB II. Bei einer ausländischen Rente handelt es sich unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischem Zusammenhang und dem Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II um eine Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ausschließende Leistung, wenn sie die gleichen typischen Merkmale aufweist wie die ausdrücklich benannte deutsche Altersrente. Dies ist der Fall, wenn die ausländische Rentenleistung durch einen öffentlichen Träger gewährt wird, sie an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze anknüpft und nach ihrer Gesamtkonzeption einen den Lebensunterhalt sicherstellenden Lohnersatz darstellt (BSG, Urteile vom 7. Dezember 2017, Az.: B 14 AS 5/17 R, juris RN 15 – in diesem Verfahren – und B 14 AS 7/17 R, juris RN 15; Urteil vom 16. Mai 2012, Az.: B 4 AS 105/11 R, juris). Dies ist die Voraussetzung für die typisierende Annahme, dass Bezieher von Altersrenten schon vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und nicht mehr in Arbeit eingegliedert werden müssen.

Die von dem russischen Rentenfonds der Klägerin bewilligte Altersarbeitsrente erfüllt diese Voraussetzungen. Sie ist von der Funktion und der Struktur her mit der deutschen Altersrente vergleichbar (siehe auch BSG, Urteil vom 30. Juni 2016, Az.: B 8 SO 3/15 R, juris RN 23 ff.). Nach den vom Senat durchgeführten Ermittlungen wird sie wird durch einen öffentlichen Träger, dem Rentenfonds der Russischen Föderation, verwaltet und gewährt, knüpft an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze an und soll nach der Vorstellung des russischen Gesetzgebers anstelle des Arbeitslohns den Lebensunterhalt im Alter sichern.

Zur Alterssicherung im Herkunftsland der Klägerin ist unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung von Folgendem auszugehen: In der Sowjetunion war die Rentenversicherung nach dem Staatsrentengesetz von 1956 in den Staatshaushalt eingebettet und unterlag einer zentralen Verwaltung. Voraussetzung für den Anspruch auf Altersrente waren bestimmte Beschäftigungs- und Wartezeiten sowie das Erreichen des Renteneintrittalters, das im Regelfall für Männer bei Vollendung des 60. Lebensjahres und für Frauen des 55. Lebensjahres lag. Hiervon gab es jedoch zahlreiche Ausnahmen. Die sowjetische Staatsmacht wollte wegen der wenig differenzierten Lohnstruktur mit der Möglichkeit eines (um fünf bis zehn Jahre) früheren Renteneintritts Arbeitsanreize für diese Bevölkerungsgruppen schaffen. Der frühere Renteneintritt war zwar besonderen Berufsgruppen vorbehalten, galt aber wegen der weit gespannten Regelungen tatsächlich für fast ein Drittel aller Rentenbezieher.

Sonderregelungen für einen früheren Rentenbeginn gab es für Beschäftigte mit hohen Anforderungen an die Leistungskraft oder für Beschäftigungen unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen wie die Arbeit unter Tage, bei der Berufsfeuerwehr mit Zuständigkeit für Notfälle und Naturkatastrophen, die einen Renteneintritt mit 50 Jahren von Männern und mit 45 Jahren von Frauen ermöglichten. Zur Arbeit unter besonders schwierigen Umständen gehörten auch (alle) Beschäftigungen in Regionen nördlich des Polarkreises, die einen um bis zu zehn Jahre früheren Renteneintritt ermöglichten. Ein Renteneintrittsalter von 55 Jahren bei Männern und 50 Jahren bei Frauen war vorgesehen nach einer Beschäftigung in der Textilindustrie, im Eisenbahnwesen und im Bergbau, bei geologischen und geophysikalischen Erkundungen und Expeditionen, in der holzverarbeitenden Industrie, im Hafendienst mit Ladetätigkeiten, bei der Wartung von Passagierflugzeugen sowie im Strafvollzugsdienst. Zudem durften Frauen, die mehr als fünf Kinder geboren hatten, mit 50 Lebensjahren in Rente gehen.

Die Rentenbeiträge hatte den Charakter von Steuern und wurde von den Unternehmen für die gesamte Belegschaft entrichtet. Es gab in der Sowjetunion keine individuellen Rentenbeitragskonten. Die Rentenhöhe wurde grundsätzlich nach einem bestimmten Prozentsatz des Durchschnittsverdienstes des Erwerbstätigen im letzten Jahr berechnet. Einfluss hatten aber auch die Art der früher ausgeübten Tätigkeit und die Höhe der Entlohnung. 1990 wurde eine sowjetische Rentenreform durchgeführt, die in das Rentengesetz der Russischen Föderation vom 20. November 1990 übernommen wurde. Auf der Grundlage der Regelungen des sowjetischen Rentengesetzes wurden mehrere der früher parallelen Rentensysteme (für Arbeitnehmer, Kolchosmitgliedern und z.T. die Dienstaltersrenten) zusammengeführt und eine sog. Sozialrente für die Versorgung derjenigen Bürger, die keinen Anspruch auf Arbeitsrente hatten, eingeführt. Die Voraussetzungen für den Renteneintritt und insbesondere das Eintrittsalter änderten sich nicht. Es wurde aber die Rentenberechnung durch Veränderung der Berechnungsgrundlagen modifiziert. Feste Prozentsätze des Durchschnittsverdienstes wurden als Renten, Mindest- und Höchstrenten sowie eine regelmäßige Rentenanpassung neu geregelt. In den Folgejahren gab es weitere Änderungen – wie die individuelle Erfassung von Beitragszahlungen und Versicherungszeiten (1996) sowie die Umgestaltung der Finanzierung in ein dreistufiges Rentensystem: Die erste Stufe sollte eine staatliche Grundrente oder einen Basisbetrag (als Mindestsicherung) darstellen. Die zweite Stufe bildete die sog. Versichertenrente, die diejenigen Rentenanteile umfasste, die sich aus dem Umfang der geleisteten Rentenversicherungszeiten und -beiträge ergaben. Als dritte Stufe war eine Akkumulationsrente bzw. ein Ansparanteil vorgesehen in Form einer zusätzlichen Rentenversicherung durch den Arbeitgeber (Unternehmen) oder individuelle Ansparleistungen des Erwerbstätigen bei dem staatlichen oder privaten Rentenfonds.

Weitere wesentliche Veränderungen des Rentensystems seit dem Jahr 2002 – wie u.a. eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters – gelten nur für Personen, die nach 1966 geboren worden sind. Für ältere Beschäftigte sind die Bezugsbedingungen gleichgeblieben: Voraussetzung für den Bezug einer Arbeitsaltersrente war stets eine Beschäftigung (mit Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen durch den Arbeitgeber) von mindestens fünf Jahren, das Absolvieren der Wartezeit und das Erreichen des jeweiligen Rentenalters.

Die Altersarbeitsrente dient auch weiterhin als Lohnersatz der Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts im Alter. Dem steht nicht entgegen, dass die russischen Rentenzahlbeträge nach deutschen Maßstäben vergleichsweise niedrig waren und immer noch sind. Dies gilt auch für die Rente der Klägerin, die sich 2003 auf umgerechnet 31 EUR und 2010 auf 120 EUR belief. Hier ist jedoch zu beachten, dass ihre Rente um ca. 25% geringer war als die russische Durchschnittsrente. Diese wiederum lag in den Jahren von 1998 bis 2004 nur wenig (um etwa 10%) über dem Existenzminimum der Rentner. Dies rührt daher, dass die Löhne in Russland traditionell gering sind. Seit Anfang der 90er Jahre liegt die durchschnittliche Rente bei ca. 30% (zw. 25 und 40%) des Durchschnittslohns. Traditionell – die Rentenversicherung wurde in Russland erst 1929 eingeführt – sowie wegen des niedrigen Rentenniveaus und des Arbeitskräftemangels kam es häufig vor, dass Rentenbezieher einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Im Regelfall wird Erwerbseinkommen auf die Rente nicht angerechnet, soweit es sich nicht um "Spitzeneinkommen" handelt. Die Tageszeitung "Die Welt" bezifferte 2015 den Anteil der Erwerbstätigen unter den Rentnern auf ein Drittel. Die Fortsetzung von Erwerbstätigkeit nach Erreichen des Renteneintrittsalters war folglich nicht ungewöhnlich, aber auch nicht der Regelfall. Angesichts dieser Verhältnisse im russischen Rentensystem kann nach Auffassung des Senats nicht davon gesprochen werden, dass im Regelfall das Erwerbsleben mit Renteneintritt noch nicht abgeschlossen war. Die Sichtweise der Beigeladenen trifft daher nicht zu.

Aus den von der Klägerin zu ihrem Rentenbezug vorgelegten Unterlagen, insbesondere den Eintragungen im Rentenbuch, ist klar zu folgern, dass es sich bei der bezogenen Rente um eine Altersarbeitsrente handelt. Es gibt keinen Anhalt für den Bezug einer anderen Rentenform wie z.B. einer Invaliden-, Hinterbliebenen- oder Dienstrente. Weiterhin ergibt sich kein Hinweis darauf, dass es sich um eine Teilrente handeln könnte. Aus den Rentenbescheinigungen für die Jahre von 2004 bis 2018 sind regelmäßige Rentenerhöhungen – aber keine Sprünge in den Zahlbeträgen – ersichtlich. Bei der von der Klägerin ab ihrem Renteneintrittsalter von 55 Jahren bezogenen Altersarbeitsrente handelt es sich um die Regelaltersrente für Erwerbstätige, die nach ihrer Konzeption den Lebensunterhalt im Alter sicherstellen sollte.

Der Senat stützt diese Feststellung auf die im Gemeinsamen Literatursystem der Deutschen Rentenversicherung hinterlegten Unterlagen zu Rentenleistungen in der Sowjetunion und der Russischen Föderation (www.rvrecht.deutscherentenversicherung.de), das im Verfahren L 20 SO 254/12 für das Landesozialgericht Nordrhein-Westfalen erstattete Gutachten des Instituts für Ostrecht zu Fragen des russischen Rentenrechts vom 26. Juni 2014 sowie auf Ausführungen in der Literatur, wie die von Vogts/Shteynberg (Russische Rentengesetze und Ansprüche in Deutschland, Die Rentenversicherung 2010, S. 41ff.), Feiguine (Rentenreform in Russland: heutiger Stand und Entwicklungsperspektiven im internationalen Vergleich, Working Paper Series: Finance & Accounting, No. 167, Mai 2006), Lodahl (Altersrenten in Russland: Mehr Versorgung als Versicherung, DIW Berlin 99-46-2, 1999, www.diw.de/sixcms/detail.php?id =285843), Taxis (System der Altersvorsorge in Deutschland und Russland, März 2016, Bachelorarbeit bei der Hochschule Anhalt FH) sowie einen Artikel aus der Welt vom 29. Juni 2015 (Wie andere Länder ihr Rentenproblem bekämpfen, www.welt.de/wirtschaft/article 143211552).

Daher besteht im Fall der Klägerin ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 SGB II. Die von ihr bezogene Altersarbeitsrente weist die gleichen typischen Merkmale wie eine deutsche Altersrente auf. Die Klägerin hatte daher von Anfang an keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Die Bewilligungsbescheide beruhen auf Angaben der Klägerin, die sie zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X).

Eine unrichtige oder unvollständige Angabe kann auch durch Verschweigen bestimmter Umstände erfolgen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine gesetzliche Mitteilungspflicht im Sinne von § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil (SGB I) hinsichtlich der Einkommenserzielung besteht und nicht (vollständig) erfüllt wird. Auch eine unvollständige Angabe führt zu einem Verschweigen, wenn sie den fälschlichen Eindruck erweckt, alle entscheidungserheblichen Angaben zum Sachverhalt vollständig gemacht zu haben (vgl. Schütze in: von Wulffen, SGB X, 9. Auflage 2020, § 45 RN 56).

Die Klägerin hat ihre laufenden Renteneinnahmen im Erstantrag und auch in den Folgeanträgen gegenüber dem Beklagten nicht angegeben, obwohl ausdrücklich nach Renten bzw. sonstigen Einkünften gefragt wurde. Sie hat die Richtigkeit ihrer Angaben in den Formularen stets durch ihre Unterschrift bestätigt. Das Verschweigen des Bezugs der Altersarbeitsrente war eine unrichtige Angabe gegenüber dem Beklagten, die ursächlich für die Leistungsbewilligung war.

Der Senat ist – auch nach Befragen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung – und nach Auswertung des Verwaltungsvorgangs einschließlich der Einlassungen der Klägerin im Verfahren zu der Überzeugung gelangt, dass sie hinsichtlich der unterlassenen Angabe des Rentenbezugs als Einnahme grob fahrlässig gehandelt hat.

Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der gesetzlichen Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt im ganz besonders schweren Maße verletzt hat. Dies verlangt, dass schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und daher nicht beachtet wird, was ggf. jedem einleuchten muss. Entscheidend ist das individuelle Vermögen, die Fehlerhaftigkeit der gemachten Angaben erkennen zu können. Maßgeblich ist daher, ob die Klägerin bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre in der Lage gewesen wäre, zu erkennen, dass sie ihr Renteneinkommen bei Antragstellung hätte angeben müssen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 76/08 R, juris RN 20).

Die von der Klägerin eingewandten Sprachprobleme, die auch bei der letzten mündlichen Verhandlung des Senats noch bestanden haben, entkräften den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht. Gemäß § 19 Abs. 1 SGB X ist die Amtssprache deutsch. Daher sind deutsche Behörden nicht verpflichtet, amtliche Formulare in der Heimatsprache eines Antragstellers zur Verfügung zu stellen. Zwar darf die Behörde fremdsprachige Merkblätter o.ä. herausgeben, einen Rechtsanspruch hierauf haben ausländische Antragsteller jedoch nicht (vgl. Roller in: von Wulffen/Schütze, a.a.O., § 19 RN 6). Ebenso besteht kein Anspruch darauf, dass die Behörde zu Anhörungen und Vorsprachen einen Dolmetscher hinzuzieht. Ausländische Antragsteller müssen sich, wenn sie der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sind, über den Inhalt amtlicher Schriftstücke – zu denen auch die Antragsformulare für SGB II-Leistungen gehören – mit Hilfe eines Dolmetschers Klarheit verschaffen. Insoweit ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass einem Ausländer ein Sorgfaltspflichtverstoß anzulasten ist, wenn er in Kenntnis von Verständigungsproblemen nicht alles Erforderliche unternimmt, um diese auszuräumen. Es obliegt ihm, alles Zumutbare zu unternehmen, um sich die notwendige zuverlässige Kenntnis von Inhalt amtlicher Schriftstücke zu verschaffen. Zuverlässige Kenntnis vom Inhalt erhält jedoch nur, wer sich amtliche Schriftstücke vollständig übersetzen lässt. Dies bedeutet für mehrseitige Antragsformulare, dass bei Hinzuziehung eines Dritten als Dolmetschers alle Einzelfragen des Formulars zu übersetzen sind. Grob fahrlässig handelt derjenige, der auf Anweisung eines Dritten ein Antragsformular ausfüllt und quasi "blind" unterschreibt, ohne im Einzelnen zu wissen, welche Angaben gefordert sind (vgl. Schütze, a.a.O., § 45 RN 61).

Dies trifft vorliegend zu. Die Klägerin hat eingeräumt, sich hinsichtlich der erforderlichen Angaben auf die Einschätzung (bzw. rechtliche Würdigung oder das Wissen) der herangezogenen Hilfsperson verlassen zu haben (eine russische Rente müsse nicht angegeben werden), ohne sich selbst durch eine wortgetreue Übersetzung der einzelnen Fragen und Antwortmöglichkeiten zum Punkt VI. Einkommen ein Bild davon zu verschaffen, was die Behörde eigentlich wissen will. Denn bei einer Übersetzung der Frage nach Renteneinkommen hätten sich jedenfalls zumindest Zweifel dahingehend aufdrängen müssen, ob nur deutsche oder auch ausländische Renten gemeint waren. Im Zusammenhang mit den Fragen nach den übrigen Einkommensarten (Arbeitsentgelt, Vermietung oder Verpachtung, Zinsen, Kapitalerträge, Unterhaltszahlungen oder sonstige laufende oder einmalige Einnahmen gleich welcher Art) liegt die Erkenntnis nahe, dass es um die Angabe von jeder Form von finanziellen Zuflüssen ging. Da die Klägerin nach ihren Angaben sich die im Antrag unter VI. aufgeführten Angaben von ihrer Hilfsperson nicht hat übersetzten lassen, hat sie Angaben gemacht, ohne sich die erforderliche Kenntnis zu verschaffen. Damit hat sie grob fahrlässig gehandelt.

Aufgrund ihrer vorangegangenen Kontakte zum deutschen Konsulat und der Beigeladenen im Rahmen des vorhergehenden Sozialhilfebezugs musste ihr die hohe Bedeutung von Einkünften beim Bezug von Sozialleistungen bekannt sein. Insoweit ist die Nichtangabe der russischen Altersarbeitsrente gegenüber dem Beklagten im ersten Antrag und den Folgeanträgen bereits als leichtfertig zu bewerten. Die Klägerin war zur Überzeugung des Senats nach ihren intellektuellen Fähigkeiten als ausgebildete Mathematiklehrerin, berufstätige Ingenieurin und Verkäuferin auch in der Lage zu erkennen, dass die russische Altersrente neben der Eingliederungshilfe wegen der eindeutigen Frage nach Renten oder sonstigen Einkünften hätte angegeben werden müssen. Auch nach dem persönlichen Eindruck, den die Klägerin in der letzten mündlichen Verhandlung auf den Senat gemacht hat, bestehen keine Hinweise auf eine geistige Überforderung bei dem ordnungsgemäßen Ausfüllen des Leistungsantrags.

Zudem hat sie vor ihrer Unterschriftsleistung gegenüber den Mitarbeitern des Beklagten weder auf eigene Verständnis- oder Verständigungsprobleme noch auf eine eigene Unsicherheit beim Ausfüllen des Formulars hingewiesen und auch keine Nachfragen gestellt. Dadurch hat sie den Eindruck hinreichender sprachlicher und fachlicher Kompetenz vermittelt. Denn eine Behörde kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass der Antragsteller die im Formular gemachten Angaben, die mittels Unterschrift bestätigt worden sind, tatsächlich auch verstanden hat (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 31. Januar 2007, Az.: L 12 AL 124/06; Hessisches LSG, Urteil vom 21. Oktober 2011, Az.: L 7 AL 191/11, jeweils zitiert nach juris). Der Umstand, dass sich der Klägerin entsprechende Nachfragen zum gemeinten Renteneinkommen nicht aufgedrängt haben, und sie dementsprechend auch bei ihrer Vorsprache beim Beklagten auch nicht nachgefragt hat, macht die Nichtangabe des laufenden Renteneinkommens grob fahrlässig (vgl. zu den Sorgfaltspflichten ausländischer Antragsteller: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 6. Dezember 2000, Az.: L 5 AL 4372/00, RN 41; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Mai 2009, Az.: L 3 AL 3823/06, RN 35; BSG, Urteil vom 27. April 1997, Az.: 11 Rar 89/96, jeweils zitiert nach juris). Insoweit hat sich die Klägerin nicht ausreichend darum bemüht, die an sie gerichteten Fragen vollständig zu erfassen und zu beantworten. Mit der unzureichenden bzw. falschen Beantwortung hat sie zumindest billigend in Kauf genommen, dass wesentliche Einzel- bzw. Detailinformationen nicht vollständig oder zutreffend erklärt wurden. Es erweist sich mithin als grob fahrlässig, dass die Klägerin nach ihren Angaben auch ohne genaue Übersetzung der einzelnen Fragen darauf vertraute, die hinzugezogene Hilfsperson werde die Fragen zutreffend beantworten. Es schützt sie nicht, dass sie selbst keine genaue Kenntnis von der Bedeutung einzelner Fragen oder den von ihr im Detail gemachten Angaben hatte (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. September 2010, Az.: L 12 AS 233/06, juris RN 65 f.).

Die Klägerin kann sich daher nicht auf Vertrauensschutz berufen. Der Beklagte hatte gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III kein Ermessen auszuüben. Er war zur Rücknahme der Leistungsbewilligungen verpflichtet und hat zutreffend seine Bewilligungsentscheidungen vollständig aufgehoben.

Die Klägerin ist nach § 50 Abs. 1 SGB X verpflichtet, die im streitigen Zeitraum erhaltenen SGB II-Leistungen zu erstatten. Der Beklagte hat den Rückforderungsbetrag für die gesamten genannten Zeiträume auf insgesamt 39.845,07 EUR beziffert. Die Erstattungsforderung ist insoweit auch zutreffend berechnet worden; der Beklagte hat alle maßgeblichen Bescheide zutreffend in seine Berechnungen einbezogen. Rechenfehler sind von der Klägerin nicht geltend gemacht worden und für den Senat auch nicht ersichtlich.

Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 iVm § 335 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und Abs. 5 SGB III ist die Klägerin aufgrund der rückwirkenden Leistungsaufhebung auch zur Erstattung der vom Beklagten für sie erbrachten Beiträgen für die Kranken- und Pflegeversicherung verpflichtet. Nach der Aufstellung im angegriffenen Bescheid handelte es sich um einen Gesamtbetrag von 8.334,80 EUR. Mithin ergibt sich eine Erstattungsforderung von insgesamt 48.179,87 EUR.

Der Rücknahme und Erstattung der Leistungen (und Beiträge) steht auch nicht die Regelung des § 107 Abs. 1 SGB X entgegen. Danach gilt im Verhältnis zwischen dem erstattungsberechtigten Leistungsträger (Beklagter) und dem Sozialleistungsberechtigten ein bestehender Erstattungsanspruch als erfüllt, soweit zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern ein Erstattungsanspruch besteht. Greift ein Erstattungsanspruch nach den §§ 102ff. SGB X, wird kraft Gesetzes fingiert, dass durch die Leistung des vorleistenden Trägers (des Beklagten) die Verpflichtung des "an sich" leistungspflichtigen Trägers (der Beigeladenen) erfüllt ist. Diese Erfüllungsfiktion verleiht dem Sozialleistungsempfänger einen Rechtsgrund, die Leistung zu behalten. Der erstattungsberechtigte Leistungsträger ist dann gehalten, seinen Erstattungsanspruch gegenüber dem erstattungspflichtigen Leistungsträger durchzusetzen. Er hat kein Wahlrecht, die Erstattung entweder vom anderen Leistungsträger oder vom Leistungsempfänger zu verlangen (BSG, Urteil vom 26. September 1991, Az.: 4/1 RA 33/90, juris). Andererseits kann der Sozialleistungsberechtigte nicht mehr gegen den eigentlich leistungsverpflichteten Träger vorgehen. Damit werden Doppelleistungen verhindert (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2011, Az.: B 11 AL 15/10 R, juris RN 16). Soweit einer der gesetzlich geregelten Erstattungstatbestände eingreift, ist durch die Regelungen des § 107 Abs. 1 SGB X eine Rückabwicklung im Leistungsverhältnis (zwischen dem Leistungsträger und dem Leistungsempfänger) ausgeschlossen. Maßgeblich für den Eintritt der gesetzlichen Fiktion ist das Bestehen eines Erstattungsanspruchs nach rein objektiver Betrachtung. Es kommt nicht darauf an, ob ein Erstattungsanspruch geltend gemacht oder erfüllt worden ist. In Höhe eines bestehenden Erstattungsanspruchs ist der Leistungsanspruch des Leistungsberechtigten bereits befriedigt und die Geltendmachung eines Rückforderungsanspruchs durch den unzuständigen Leistungsträger ausgeschlossen.

Erstattungsansprüche nach § 102 oder § 103 SGB X kommen vorliegend nicht in Betracht, da der Beklagte weder vorläufig Leistungen erbracht hat noch seine Leistungsverpflichtung nachträglich entfallen ist (§ 103 SGB X). Auch liegt kein Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers gemäß § 104 SGB X vor, weil der Beklagte von Anfang an sachlich unzuständig und damit nicht leistungsverpflichtet war. Der Senat kann im Folgenden offenlassen, ob die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs nach § 105 Abs. 1 SGB X gegeben sind – insbesondere auch, ob der Beklagte nur die Differenz zwischen den erbrachten ungekürzten SGB II-Leistungen und den nach Anrechnung der russischen Altersarbeitsrente als Einkommen zu zahlenden Leistungen zurückfordern könnte.

Denn einem etwaigen Erstattungsanspruch des Beklagten gegen den Beigeladenen steht jedenfalls § 105 Abs. 3 SGB X entgegen. Danach gilt § 105 Abs. 1 SGB X gegenüber den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe erst von dem Zeitpunkt an, zu dem ihnen bekannt ist, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorliegen. Einem Träger der Sozialhilfe ist im Sinne von § 105 Abs. 3 SGB X bekannt, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht vorliegen, wenn er weiß, dass deren tatsächliche Voraussetzungen, insbesondere die Hilfebedürftigkeit des Leistungsbeziehers, gegeben sind. Im hier maßgeblichen Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 hatte die Beigeladene keine Kenntnis vom Leistungsfall und/oder der Hilfebedürftigkeit der Klägerin bzw. ihrer Leistungsverpflichtung. Der Leistungsfall nach dem BSHG war für die Beigeladene spätestens seit August 2004 mit Einstellung der Leistungen abgeschlossen. Damit endete ihre Kenntnis. Erst mit Anmeldung des Erstattungsanspruchs durch den Beklagten mit Schreiben vom 17. Juni 2010 – dessen Zugang bei der Beigeladenen streitig ist – kann eine Kenntnis angenommen werden. Diese liegt aber außerhalb des hier streitigen Zeitraums.

Die Kenntnis des Beklagten von der Hilfebedürftigkeit der Klägerin für die Zeit ab dem 1. Januar 2005 ist der Beigeladenen nicht zuzurechnen. Die Kenntnis des Leistungsträgers, der die Leistung erbracht hat und Erstattung begehrt, kann nach der Auffassung des Senats einem Sozialhilfeträger weder über § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I noch nach § 18 Abs. 2 SGB XII zugerechnet werden (vgl. auch: LSG NRW, Urteile vom 9. Februar, 2012, Az.: L 9 AS 36/09, juris, und vom 22. November 2018; Az.: L 19 AS 2281/16, juris RN 53; Roos in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 105 RN 14; Kater in: Kasseler Kommentar, a.a.O., § 105 SGB X RN 28; Becker in: Hauck/ Noftz, SGB X, 11/17, § 105 SGB X RN 63; Prange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB X, 2. Aufl. 2017, § 105 SGB X; a.A. SG Augsburg, Urteil vom 17. November 2015, Az.: S 8 AS 983/15, juris; SG Altenburg, Urteil vom 20. Oktober 2016, Az.: S 30 AS 471/14; offengelassen: LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Februar 2016, Az.: L 9 AS 2914/15 B, juris).

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist die im Zusammenhang mit seiner Leistungserbringung erworbene Kenntnis des die Erstattung begehrenden Sozialleistungsträgers dem zum Ausgleich herangezogenen Sozialhilfeträger im Erstattungsrechtsverhältnis nicht nach § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I zuzurechnen, da § 105 Abs. 3 SGB X ausdrücklich die Kenntnis des Sozialhilfeträgers verlangt (BVerwG, Urteil vom 15 Juni 2000, Az.: 5 C 35/99, juris). Dazu hat es im Urteil vom 2. Juni 2005 (Az.: 5 C 30/04, juris) weiter ausgeführt, für den Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Voraussetzungen der Leistungspflicht im Sinne von § 105 Abs. 3 SGB X sei im Erstattungsrechtsverhältnis auf die Kenntnis des Trägers der Sozialhilfe abzustellen, gegen den der Erstattungsanspruch geltend gemacht werde. Ein im Leistungsverhältnis nach § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG (bzw. 16 Abs. 2 SGB I) für das Einsetzen von Sozialhilfe im Leistungsverhältnis hinreichendes Bekanntwerden bei einem nichtzuständigen Sozialhilfeträger ersetze im Erstattungsverhältnis nicht die nach § 105 Abs. 3 SGB X erforderliche eigene Kenntnis des auf Erstattung in Anspruch genommenen Sozialhilfeträgers. § 105 Abs. 3 SGB X begrenze die Anwendung der Abs. 1 und 2 im Verhältnis zu bestimmten Leistungsträgern und stelle darauf ab, ob diese wussten, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Nach dem Wortlaut sei daher für einen Erstattungsanspruch gegen einen Sozialhilfeträger die Kenntnis des unzuständigen Leistungsträgers vom Leistungsbedarf nicht ausreichend, es werde die (eigene) Kenntnis des auf Erstattung in Anspruch genommenen Sozialhilfeträgers verlangt. Stelle man hingegen letztlich auf die Kenntnis des die Erstattung begehrenden Leistungsträgers ab, liefe die gesetzliche Regelung mangels sinnvollen Anwendungsbereichs ins Leere (a.a.O., RN 11). Sinn und Zweck der Regelung in § 105 Abs. 3 SGB X sei eine Begrenzung von Erstattungsansprüchen gegen die genannten Sozialleistungsträger. Auch in Ansehung des § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG, der eingeführt worden sei, um die Regelung des § 16 Abs. 2 SGB I ausdrücklich in das Sozialhilferecht zu implementieren, ergebe sich kein Anhalt für eine andere Auslegung (a.a.O., RN 11). Der Gesetzgeber habe die Einführung von § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG, der für die Leistungsverhältnisse gelte, im Jahr 1996 nicht zum Anlass genommen, eine entsprechende Regelung für Erstattungsrechtsverhältnisse einzufügen oder § 105 Abs. 3 SGB X einzuschränken. Mithin sei für das Erstattungsrecht der allgemeine Schutzzweck des § 105 Abs. 3 SGB X, nicht wegen Aufwendungen für Leistungen in Anspruch genommen zu werden, von denen den benannten Trägern nicht bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen, weiterhin gültig.

Eine teleologisch reduzierende Auslegung von § 105 Abs. 3 SGB X im Hinblick auf die Regelungen über Zurechnung von Kenntnissen Dritter im Leistungsverhältnis zum Hilfesuchenden (§ 16 SGB I, § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG) hat das BVerwG abgelehnt. Eine normative Zurechnung der Kenntnis Dritter im Rahmen des Erstattungsrechtsverhältnisses ergibt sich auch nicht aus § 18 Abs. 2 Satz 2 SGB XII (a.A.: SG Augsburg, a.a.O.; SG Altenburg, a.a.O.). Denn der Wortlaut von § 18 Abs. 2 Satz 2 SGB XII ist identisch mit dem von § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG. Die Vorschrift bezweckt zum Schutz des Hilfebedürftigen einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfesystem (vgl. BSG, Urteil vom 26. August 2008; Az.: B 8/9b SO 18/07 R, juris). Sie regelt (wie § 5 Abs. 2 Satz 2 BSHG) den Zeitpunkt des Einsetzens der Sozialhilfe im Leistungsverhältnis. Die Normierung einer umfassenden Kenntniszurechnung zwischen dem Träger der Sozialhilfe und einem Dritten – auch für Erstattungsverhältnisse – ist ihr nicht zu entnehmen.

Mit dieser Auffassung des BVerwG hat sich das BSG bislang noch nicht befasst. Die Entscheidungen zu § 16 Abs. 2 SGB I (BSG, Urteile vom 26. August 2008, Az.: B 8/9b SO 18/07 R, juris, und vom 2. Dezember 2014, Az.: B 14 AS 66/13 R, juris) ergingen zu Leistungsverhältnissen, in denen wegen des Meistbegünstigungsgrundsatzes und der Regelung von § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I im Verhältnis von SGB II- zu SGB XII-Leistungen im Zweifel davon auszugehen sei, dass ein Antrag auf SGB II-Leistungen auch als Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII zu verstehen sei. Folgerungen für Erstattungsverfahren wurden nicht gezogen.

Soweit einige Sozialgerichte die Auffassung vertreten, die Rechtsprechung des BSG zu § 16 Abs. 2 SGB I im Leistungsverhältnis sei auf das Erstattungsrecht nach den §§ 102 ff. SGB X zu übertragen und dies mit der "notwendigen Konnexität" von materiellem Leistungsrecht und Erstattungsrecht begründen (SG Altenburg, a.a.O., RN 48; SG Augsburg a.a.O., RN 35), überzeugt dies den Senat nicht. Denn einen allgemeinen Gleichklang von Leistungs- und Erstattungsrecht gibt es gerade wegen der gesetzlich normierten Ausnahmen und Durchbrechungen u.a. durch § 105 Abs. 3 SGB X nicht.

Mit der Regelung in § 105 Abs. 3 SGB X hat der Gesetzgeber (im Jahr 1983) den genannten Sozialleistungsträgern einen besonderen Schutz vor Kostenerstattungen zugebilligt und unverändert aufrechterhalten, auch wenn dieser mit dem aktuell geltenden materiellen Leistungsrecht nicht (mehr) im Gleichklang steht (vgl. VG Aachen, Urteil vom 3. Februar 2004, 2 K 71/02, juris, RN 41; BVerwG, a.a.O., RN 12). Daher ist nach Auffassung des Senats die für den Leistungsfall nachvollziehbare und zutreffende Auffassung des BSG nicht auf den Erstattungsfall zu übertragen, für den es eine ausdrücklich abweichende gesetzliche Regelung gibt.

Nach alledem ist die Rücknahmeentscheidung des Beklagten nicht zu bestanden. Gemäß § 105 Abs. 3 SGB X scheidet eine Erstattungsforderung des Beklagten gegen den Beigeladenen aus, der der Klägerin hätte zu Gute kommen können, da die Beigeladene frühestens im Juni 2010 Kenntnis vom Leistungsfall erlangt hat. Die Klägerin hat daher die Gesamtleistungen in Höhe von 48.179,87 EUR an den Beklagten zu erstatten. Das Urteil des SG Dessau-Roßlau vom 12. Dezember 2013 war daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, denn die Auslegung von § 105 Abs. 3 SGB X hat grundsätzliche Bedeutung.
Rechtskraft
Aus
Saved