S 27 AS 2440/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Halle (Saale) (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
27
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 27 AS 2440/17
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten steht die Erstattung der notwendigen Aufwendungen für zwei Widerspruchsverfahren im Streit.

Die Klägerinnen standen fortlaufend im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid bezüglich der Klägerin zu 1) vom 30. Juni 2016 forderte der Beklagte Leistungen für 9/2014 bis 10/2014 in Höhe von 294,39 Euro, unter anderem wegen Einkommens aus Kindergeld, zurück. Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid bezüglich der Klägerin zu 2) vom 30. Juni 2016 forderte der Beklagte Leistungen für 9/2014 bis 10/2014 in Höhe von 301,60 Euro, unter anderem wegen Einkommens aus Kindergeld, zurück. Hiergegen legten die Klägerinnen – jeweils vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten – am 28. Juli 2016 Widerspruch ein. Die ausführlichen Begründungen der beiden Widersprüche sind nahezu gleichlautend und unterscheiden sich lediglich in einzelnen Worten ("die Widerspruchsführerin" bzw. "die Mutter der Widerspruchsführerin"). Aus der Begründung der Widersprüche geht hervor, dass ein Mandantengespräch (zumindest vor der Erstellung der Widerspruchsbegründungen) lediglich mit der Klägerin zu 1) "als Sprecherin der Bedarfsgemeinschaft" stattgefunden hat. Die Beklagte erließ am 9. November 2016 jeweils gegenüber der Klägerin zu 1) und der Klägerin zu 2) Abhilfebescheide, mit denen jeweils die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 30. Juni 2016 aufgehoben wurden und jeweils hinsichtlich die Erstattung der im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten – auf Antrag und soweit sie notwendig waren und nachgewiesen werden – erklärt wurde. Mit zwei Anträgen vom 15. November 2016 beantragte der Prozessbevollmächtigte die Kostenfestsetzung für die Klägerin zu 1) und zu 2) jeweils in Höhe von 380,80 Euro bei dem Beklagten. Mit Kostenfestsetzungsbescheid vom 7. März 2017 wurden die zu erstattenden Kosten der beiden Widerspruchsverfahren auf insgesamt einmalig 487,90 Euro festgesetzt. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Widerspruchsverfahren dieselbe Angelegenheit im vergütungsrechtlichen Sinne bilden, so dass nur eine Geschäftsgebühr von 300 Euro, erhöht um 30 % für einen weiterer Auftraggeber in derselben Angelegenheit, mithin 390 Euro, zu berücksichtigen gewesen sei. Bezüglich der Widerspruchserhebung sei von einem einheitlichen Auftrag auszugehen. Hiergegen legten die Klägerinnen – vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten – am 16. März 2017 Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie aus, dass vorliegend zwei rechtliche Angelegenheiten gem. § 17 Nr. 1a Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) und nicht lediglich eine rechtliche Angelegenheit gem. § 15 Abs. 2 RVG vorlägen. Es hätten jeweils selbständige Verwaltungsakte vorgelegen, welche auch einzeln als Angelegenheit angegriffen werden müssten. Verwaltungsakte gegen verschiedene Personen seien immer eigenständige Verfahren und somit eigene Angelegenheiten. Anders sei dies bei Bedarfsgemeinschaft, eine solche habe hier jedoch nicht vorgelegen. Auch bestehe ein Haftungsrisiko des Prozessbevollmächtigten gegenüber der jeweiligen Widerspruchsführerin. Es seien auch separate Abhilfebescheide ergangen. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2017 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Widersprüche dieselbe Angelegenheit im Sinne von §§ 7 Abs. 1, 15 Abs. 2 S. 1 RVG bilden. Alleiniger Grund für die Widersprüche sei die Erzielung von Einkommen durch die Klägerin zu 2) gewesen, die Widersprüche seien aufgrund einheitlichen Auftrages erfolgt.

Hiergegen haben die Klägerinnen am 3. August 2017 Klage vor dem Sozialgericht Halle erhoben. Zur Begründung führten sie aus, dass zwei rechtliche Angelegenheiten gem. § 17 Nr. 1a RVG vorlägen; diese Vorschrift gehe als speziellere Norm der allgemeinen Vorschrift des § 15 Abs. 2 RVG vor. Es lägen jeweils selbständige Verwaltungsakte mit jeweils eigenen Rechtsbehelfsbelehrungen, jeweils gegen andere Personen gerichtet vor. Der Beklagte habe zwei Abhilfebescheide erlassen und den jeweiligen Widerspruchsverfahren verschiedene Aktenzeichen zugewiesen.

Die Klägerinnen beantragen, den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Kostenfestsetzungsbescheides vom 7. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2017 den Klägerinnen für die erfolgreichen Widersprüche vom 16. März 2017 die beantragten außergerichtlichen Kosten für die Widerspruchsverfahren vollumfänglich in Höhe von jeweils 380,80 Euro zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sich der Beklagte auf seine Ausführungen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 4. Juli 2019. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig, aber unbegründet.

I. Der Bescheid des Beklagten vom 7. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG). Den Klägerinnen steht kein Kostenerstattungsanspruch, der über den vom Beklagten gewährten Gesamtbetrag von 487,90 Euro hinausgeht, zu.

1. Gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit ein Widerspruch erfolgreich ist. Nach § 63 Abs. 2 SGB X sind die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts im Vorverfahren erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Die Behörde, die die Kostenentscheidung getroffen hat, setzt den Betrag der zu erstattenden Aufwendungen gemäß § 63 Abs. 3 SGB X fest.

Die Höhe der Vergütung des Rechtsanwalts (Gebühren und Auslagen) bestimmt sich nach den Vorschriften des RVG (§ 1 Abs. 1 RVG). Gemäß § 3 Abs. 1 RVG entstehen in Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen das Gerichtskostengesetz (GKG) nicht anzuwenden ist, Betragsrahmengebühren. Die Höhe der Rahmengebühr bestimmt nach § 14 Abs. 1 RVG der Rechtsanwalt im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, nach billigem Ermessen.

Nach dem auch für die Betragsrahmengebühren geltenden § 15 RVG wird mit den Gebühren die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts vom Auftrag bis zur Erledigung der Angelegenheit abgegolten (§ 15 Abs. 1 RVG).

2. Der Rechtsanwalt kann die Gebühren in "derselben Angelegenheit" jedoch nur einmal fordern (§ 15 Abs. 2 S. 1 RVG).

Wann dieselbe Angelegenheit im gebührenrechtlichen Sinne vorliegt, ist im RVG nicht abschließend geregelt. Die anwaltlichen Tätigkeitskataloge des § 16 RVG ("dieselbe Angelegenheit") und des § 17 RVG ("verschiedene Angelegenheiten") benennen nur Regelbeispiele. Der Gesetzgeber hat die abschließende Klärung des Begriffs "derselben Angelegenheit" im Sinne des § 7 Abs. 1 RVG sowie des § 15 Abs. 2 RVG der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen. Es handelt sich um einen gebührenrechtlichen Begriff, der sich mit dem prozessrechtlichen Begriff des (Verfahrens-) Gegenstandes decken kann, aber nicht muss. Während die Angelegenheit den für den Einzelfall definierten Rahmen der konkreten Interessenvertretung bezeichnet, umschreibt der Begriff des Gegenstandes inhaltlich die Rechtsposition, für deren Wahrnehmung die Angelegenheit den äußeren Rahmen abgibt. Daher kommt es zur Bestimmung, ob dieselbe Angelegenheit vorliegt, auf die Umstände des konkreten Einzelfalls sowie auf den Inhalt des erteilten Auftrags an. Von derselben Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG ist in der Regel auszugehen, wenn zwischen den weisungsgemäß erbrachten anwaltlichen Leistungen, also den verschiedenen Gegenständen, ein innerer Zusammenhang gegeben ist, also ein einheitlicher Auftrag und ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit vorliegt. Für ein Tätigwerden "in derselben Angelegenheit" (§ 7 Abs. 1 RVG) kann es im gerichtlichen Verfahren regelmäßig schon genügen, dass die Begehren mehrerer Auftraggeber einheitlich in demselben Verfahren geltend gemacht werden und zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang besteht (Zum Ganzen: BSG, Urteil v. 2. April 2014, Az.: B 4 AS 27/13 R, Rn. 15 mit weiteren Nachweisen). Auch bei Individualansprüchen nach dem SGB II kann es sich grundsätzlich um dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG handeln, wobei die Konstellation einer Bedarfsgemeinschaft dann eine Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG auslöst (BSG, Urteil v. 2. April 2014, aaO., Rn. 16). Grundsätzlich können daher auch im SGB II mehrere Aufträge verschiedener Auftraggeber "dieselbe Angelegenheit" sein. Gleiches gilt unter Berücksichtigung der maßgebenden Umstände des Einzelfalls grundsätzlich auch, wenn die Angelegenheit verschiedene Gegenstände und teilweise getrennte Prüfaufgaben betrifft (BGH, Urteil v. 21. Juni 2011, Az.: VI R 73/10). Auch wenn durch getrennte Bescheide entschieden wurde, gegen die formell selbständige Widersprüche eingelegt worden sind, liegt jedenfalls dann dieselbe Angelegenheit vor, wenn die Widerspruchsverfahren auf einem vollständig einheitlichen Lebenssachverhalt beruhen ("alleiniger Rechtswidrigkeitsgrund") (vgl. Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage, Stand 24. Juni 2019, Rn. 116 zu § 63 mit weiteren Nachweisen).

Vorliegend ergibt sich hieraus, dass entgegen der Auffassung der Klägerinnen mehrere Verwaltungsverfahren dieselbe Angelegenheit im gebührenrechtlichen Sinne sein können und nicht zwingend verschiedene Verwaltungsverfahren auch verschiedene Angelegenheiten im Sinne von § 17 RVG sind. Entscheidend sind nach der Rechtsprechung von BSG und BGH die Umstände des konkreten Einzelfalles und der Inhalt des erteilten Auftrages. Vorliegend erfolgten zwar jeweils durch die beiden Klägerinnen getrennt eingelegte Widersprüche, jedoch sind die Widersprüche in ihrer Begründung identisch. Auch geht aus den Widerspruchsbegründungen hervor, dass lediglich ein Mandantengespräch mit der Klägerin zu 1 "als Sprecherin der Bedarfsgemeinschaft" (die zum Zeitpunkt, für den die ursprüngliche Rückforderung geltend gemacht wurde, noch bestand) stattgefunden hat. Auch beruhte die Einlegung der beiden Widersprüche auf einem einheitlichen Lebenssachverhalt; es bestand ein "alleiniger Rechtswidrigkeitsgrund", nämlich die Anrechnung des Einkommens aus Kindergeld der Klägerin zu 2).

3. Die Höhe der Vergütung bestimmt sich nach dem Vergütungsverzeichnis, welches dem RVG als Anlage 1 angefügt ist (§ 2 Abs. 2 Satz 1 RVG). Die Höhe der Gebühr im Widerspruchsverfahren richtet sich nach Nr. 2302 VV RVG. Nach Nr. 2302 VV RVG liegt die Geschäftsgebühr zwischen 50,00 EUR und 640,00 EUR. Eine Gebühr von mehr als 300 EUR kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war (sog. Schwellengebühr). Bei der Bestimmung der Gebühr nach § 14 RVG ist grundsätzlich von der Mittelgebühr auszugehen, bei der Gebühr nach Nr. 2302 VV RVG zunächst begrenzt auf die Höhe der Schwellengebühr. Die Mittelgebühr ist der nach § 14 RVG angemessene Betrag, wenn als Ergebnis aller nach dieser Vorschrift anzustellenden Erwägungen die Feststellung zu treffen ist, dass es sich um einen Durchschnittsfall handelt. Unter einem solchen "Normalfall" ist ein Fall zu verstehen, in dem sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts unter Beachtung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt aller sozialrechtlichen Fälle abhebt. Ein Abweichen von der Mittelgebühr ist bei einem Durchschnittsfall nicht zulässig (LSG NRW, Beschluss vom 28. Mai 2013, L 9 AS 142/13 B, Rn. 26 m.w.N. – zitiert nach juris). Die vom Prozessbevollmächtigten geltend gemachte Gebühr von 300 Euro für sein Tätigwerden im Widerspruchsverfahren ist im Hinblick auf den Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit und die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seines Auftragsgebers auch unter Berücksichtigung des Haftungsrisikos im Sinne von § 14 RVG als billig anzusehen.

Gem. Nr. 1008 VV RVG war die Geschäftsgebühr um 30 % zu erhöhen, woraus sich ein Betrag in Höhe von 390 Euro ergibt. Es besteht ein Anspruch auf die Post- und Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG) von 20,00 Euro und die Umsatzsteuer von 77,90 Euro, woraus sich ein Gesamtbetrag von 487,90 Euro ergibt. Dieser wurde von der Beklagten mit dem angefochtenen Bescheid auch festgesetzt.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

III. Die Berufung wird zugelassen. Die Berufung ist zulassungsbedürftig, da der Berufungsstreitwert von 750,00 EUR (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG) nicht erreicht wird. Zulassungsgründe im Sinne von § 144 Abs. 2 SGG liegen nach Ansicht der Kammer deshalb vor, weil für die Konstellation des Nichtvorliegens einer Bedarfsgemeinschaft bislang keine obergerichtliche Entscheidung ergangen ist.
Rechtskraft
Aus
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