L 2 R 30/19

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 20 R 1238/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 R 30/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am xxxxx 1957 in der T. geborene Klägerin hat keine Berufsausbildung. Sie lebt seit 1989 in Deutschland und arbeitete als Reinigungskraft. Seit dem 1. Februar 2014 erhält die Klägerin Pflegegeld entsprechend Pflegestufe II bzw. Pflegegrad IV sowie zusätzliche Betreuungsleistungen nach dem SGB XI. Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen G, B und H festgestellt worden.

Am 7. Mai 2013 stellte die Klägerin einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung. Die Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie Dr. B. begutachtete die Klägerin am 9. Juli 2013 und die Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. M. am 17. September 2013. Dr. M. führte aus, dass die Klägerin freundlich und zugewandt gewesen sei. Die Stimmung sei etwas bedrückt mit mäßigen Erschöpfungszeichen ohne Hinweise auf gravierende ängstliche, depressive oder hemmende Phänomene gewesen. Mit Bescheid vom 29. Oktober 2013 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Bei der Klägerin lägen im Wesentlichen folgende Gesundheitsstörungen vor: ein mäßiges Erschöpfungssyndrom mit Schlafstörungen bei Rücken- und Gelenkbeschwerden. Es könnten mittelschwere Arbeiten in regelmäßiger Tagesschicht und ohne besonderes Stressaufkommen verrichtet werden.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin am 18. November 2013 Widerspruch ein. Sie leide unter einer mittel- bis schwergradigen depressiven Episode mit einem Zustand nach einem Suizidversuch. Aus dem Pflegegutachten vom 14. März 2014 ergebe sich, dass die Klägerin keine Arbeiten mehr im Haushalt verrichten könne.

In dem Pflegegutachten vom 14. März 2014 finden sich u. a. folgende Ausführungen: Die Klägerin liege nur im Bett. Sie könne aufgrund von kognitiven Einschränkungen keine anamnestischen Angaben machen. Am Untersuchungstag sei die Klägerin immer wieder eingeschlafen, schließe immer wieder die Augen. Das Aufstehen aus dem Sitzen erfolge unter Festhalten am Mobiliar und mit teilweiser personeller Fremdhilfe. Das Gehen sei unsicher, eine Begleitung zu den Grundpflegeverrichtungen sei erforderlich. Das Gangbild sei schwankend, torkelnd. Die Knie gäben beim Gehen nach. Eine vollständige Übernahme sei bei der Ganzkörperwäsche, Duschen, Zahnpflege, Kämmen, Stuhlgang, Richten der Bekleidung, Wechseln der Vorlage, beim Ankleiden und Entkleiden erforderlich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin sei im Stande, mindestens sechs Stunden täglich leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten, in regelmäßiger Tagesschicht, ohne häufige Wirbelsäulenzwangshaltungen, Bücken und Knien sowie ständiges festes Zupacken mit den Händen oder besondere feinmotorische Arbeiten mit den Händen, ohne besonderes Stressaufkommen auszuüben.

Die Klägerin hat am 10. November 2015 Klage beim Sozialgericht Hamburg erhoben. Zur Begründung hat sie sich auf einen Bericht ihres behandelnden Nervenarztes Dr. E. bezogen, wonach sie unter einer mittel- bis schwergradigen depressiven Episode mit einem Zustand nach Suizidversuch leide. Die Klägerin hat weiter geltend gemacht, dass eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eingetreten sei und sich auf das MDK-Gutachten für die Pflegeversicherung berufen. Die Klägerin könne im Haushalt keine Arbeiten mehr verrichten, sogar das Aufstehen aus dem Sitzen gelinge nur mit personeller Fremdhilfe, das Stehen sei nur unter Festhalten durch eine Pflegeperson möglich, das Gehen sei unsicher.

Die Beklagte hat zu der Feststellung von Pflegebedürftigkeit durch den MDK vorgetragen, dass die Erkenntnisse der Gutachterin sich ausschließlich auf den Angaben der Tochter der Klägerin und den Beobachtungen der in der Begutachtungssituation gezeigten Verhaltensweisen gründeten. Diese seien von Seiten der Gutachterin hinsichtlich Plausibilität und Schlüssigkeit nicht kritisch hinterfragt worden. Vor dem Hintergrund des völlig anderen Eindrucks, den die Klägerin bei der Begutachtung durch Dr. M. hinterlassen habe, könnten die im Pflegegutachten beschriebenen Auffälligkeiten nicht nachvollzogen werden.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, ein zweites Pflegegutachten des MDK vom 5. Februar 2015 und ein im Auftrag der Agentur für Arbeit erstelltes Gutachten nach Aktenlage vom 25. Januar 2016 eingeholt. Im zweiten Pflegegutachten vom 5. Februar 2015 ist ausgeführt worden, dass sich laut Angaben der Tochter der Klägerin der Allgemeinzustand der Klägerin eher verschlechtert habe. Die Klägerin selbst habe keine verwertbaren Aussagen gemacht, sei während der Begutachtung immer wieder eingeschlafen. Ein Glas könne nur mit beiden Händen sicher zum Mund geführt werden. Die Klägerin könne nur mit dem Löffel essen. Das Gangbild sei kleinschrittig, schlurfend, leicht humpelnd und sehr verlangsamt. Es sei eine vollständige Übernahme bei der mundgerechten Nahrungszubereitung erforderlich.

Der Rheumatologe Dr. B1 hat in seinem Befundbericht vom 6. Juli 2016 eine seropositive Spondylarthritis mit peripherer Gelenkbeteiligung beschrieben. Die rheumatische Erkrankung sei durch die eingeleitete jahrelange multimodale Therapie relativ zur Ruhe gekommen. Weitere Destruktionen seien nicht eingetreten. Es liege eine schwere somatoforme Schmerzkrankheit mit hochgradiger psychischer Komponente vor. Der Psychiater Dr. E. hat in seinem Befundbericht vom 7. Juli 2016 eine Dysthymia und eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert. Die Klägerin habe sich in dem Zeitraum vom 9. Januar 2014 bis zum 25. April 2016 in Abständen von vier bis acht Wochen bei ihm vorgestellt.

Auf Veranlassung des Gerichts hat Dr. L. die Klägerin auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet begutachtet. In ihrem Gutachten vom 23. Oktober 2017 hat sie die Leistungsfähigkeit der Klägerin durch folgende Gesundheitsstörungen als beeinträchtigt angesehen: - Chronisch muskuloskelettales Schmerzsyndrom, differentialdiagnostisch (DD) chronische Polyarthritis ohne wesentliche Gelenksumformungen/-funktionsstörungen, DD unspezifischer Weichteil-, Gelenk- und Rückenschmerz, - Diabetes mellitus, bislang ohne nachgewiesene Folgeerkrankungen, - arterieller Bluthochdruck, bislang ohne nachgewiesene Folgeerkrankungen. Eine seelische Störung mit zusätzlich abzuleitenden Leistungseinschränkungen könne nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Es bestehe lediglich der Verdacht auf eine Dysthymia, differentialdiagnostisch eine leichte bis mittelgradige depressive Entwicklung, möglicherweise als Folge einer chronischen Polyarthritis bzw. eines anhaltenden Schmerzsyndroms. Eine schwere seelische Störung, die zu einem aufgehobenen Leistungsvermögen führe, könne nicht festgestellt werden. Aufgrund der genannten – d. h. gesichert festgestellten – Gesundheitsstörungen (nicht der Verdachtsdiagnosen) sei die Leistungsfähigkeit der Klägerin qualitativ, aber nicht quantitativ eingeschränkt. Die Klägerin könne leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten, ausbildungsgemäßer geistiger Art, überwiegend sitzend, nicht in Wirbelsäulenzwangshaltungen, nicht mit überwiegendem oder andauerndem Heben und Tragen, Knien oder Bücken, nicht unter andauernd vermehrtem Zeitdruck oder in Nachtarbeit, nicht mit mehr als durchschnittlichen Anforderungen an das Seh- und Hörvermögen ausüben. Die Klägerin könne leidensgerechte Tätigkeiten vollschichtig verrichten. Die Wegefähigkeit sei gegeben. Die Angaben der Klägerin seien – mit Ausnahme einer mehrfach gezielt vorgetragenen (pseudo-)halluzinatorischen Symptomatik – vage geblieben. Es sei kein Eindruck einer genuinen halluzinatorischen Symptomatik entstanden. Schwere Funktionsstörungen, insbesondere im Antrieb, der Realitätswahrnehmung und -beurteilung und der kognitiven Funktionen seien nicht zweifelsfrei festzustellen gewesen. Es lägen deutliche Diskrepanzen zwischen der Beschwerdeklage und den zu erhebenden Befunden vor, und es bestünden Hinweise auf bewusstseinsnahe Verdeutlichungen. Die Diskrepanzen in Bezug auf die Krankheitsausprägung, wie sie sich aus den verschiedenen Befund- und Behandlungsberichten und den Pflegegutachten über den Zeitraum seit Rentenantragstellung ergäben und im Rahmen der gutachterlichen Vorstellung demonstriert worden seien, seien nicht auflösbar. Es habe sich eine bewusstseinsnah aggravierte Befund- und Beschwerdedarstellung gezeigt, was sich mit der Annahme einer durchgängig schwergradigen depressiven Symptomatik nicht vereinbaren lasse. Es lägen auch keine Hinweise auf eine echte halluzinatorische Symptomatik vor, solche teile auch der behandelnde Nervenarzt Dr. E. nicht mit. Auch eine Beeinträchtigung durch ein schwerergradiges Schmerzerleben sei nicht zu erkennen gewesen. Die laborserologische Untersuchung habe ergeben, dass weder das Anxiolytikum L1, das niederpotente Neuroleptikum M1 noch das Antidepressivum Amineurin im Blut nachweisbar gewesen seien, was dafür spreche, dass die Medikamente entgegen der Angaben der Klägerin nicht oder zumindest nicht regelmäßig eingenommen würden. Die Klägerin sei demnach zum Zeitpunkt der Untersuchung in Bezug auf die geltend gemachte psychische Symptomatik unbehandelt gewesen. Es bleibe unerklärlich, wieso – bei Angabe einer Betreuung durch einen Pflegedienst mehrfach am Tag, der auch die Medikamenteneinnahme überwache – die verordneten Medikamente zur Behandlung der geltend gemachten depressiven Verstimmung, der Ängste und Schlafstörungen sich sämtlich nicht hätten nachweisen lassen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat Dr. D., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, forensische Psychiatrie, Dipl.-Psychologe ein Gutachten erstellt. In seinem Gutachten vom 24. April 2018 hat der Sachverständige auf seinem Fachgebiet bei der Klägerin eine schwere chronifizierte Depression mit psychotischen Symptomen diagnostiziert. Festzustellen sei eine erhebliche Antriebsminderung bis hin zur Antriebshemmung, Denkverarmung, ausgeprägter Rückzug aus der realen Welt, durchgehende Todessehnsucht, Fehlen jeglicher Zukunftshoffnung und Zukunftsplanung, Gleichgültigkeit und affektive Nivellierung. Laut Angaben der Tochter der Klägerin spreche diese mit ihrer vor vier Jahren verstorbenen Mutter und sehe sie überall, so dass akustische und optische Halluzinationen zu vermuten seien. Aus der Anamnese, vor allem aus der Fremdanamnese durch die Tochter und aus dem psychopathologischen Befund, könne man auf einen dementiven Prozess schließen. Bei dem schweren Bild der Depression könne es sich aber auch um eine sog. "Pseudo-Demenz" handeln. Somatischerseits leide die Klägerin unter folgenden Einschränkungen: - Rheumatische Polyarthritis mit peripherer Gelenkbeteiligung; hierbei wohl subjektiv forcierte Schmerzwahrnehmung aufgrund der beschriebenen Depression, - Diabetes mellitus, - Sehbehinderung, - Taubheit rechts, Hypakusis links und - Harninkontinenz. Die Klägerin sei erheblich, geradezu erschreckend, vorgealtert, wirke wie eine 80-jährige Frau. Sie sei kaum rapportfähig, in sich zurückgezogen, mit dem Jenseits beschäftigt, mit erheblicher Einschränkung der Mnestik, einsilbig, rechtseitig taub, links schwerhörig, gehbehindert, sich nur am Rollator Schritt für Schritt fortbewegend, mit einer Windelhose wegen Inkontinenz versorgt und sich wegen zu langsamer Fortbewegung manchmal einkotend. Zu einer Erwerbsfähigkeit, mit welcher Hilfestellung auch immer, sei sie nicht in der Lage. Die Einschränkungen bestünden seit Antragstellung, spätestens mit der Feststellung von Pflegebedürftigkeit durch den MDK am 14. März 2014 sei Erwerbsunfähigkeit gegeben. Im Gegensatz zu dem Gutachten von Dr. L. handele es sich – so Dr. D. – um eine schwere chronische Depression mit psychotischer Symptomatik. Die Schwere des Krankheitsbildes werde auch im Gutachten von Dr. L. in den dortigen "Angaben der Untersuchten" deutlich. Dr. L. habe sich dazu verführen lassen, nach einzelnen medizinischen Parametern zu suchen, beeindruckend sei jedoch das klinische Gesamtbild. Bei diesem sei Dr. L. gegenüber der Klägerin skeptisch gewesen, weil dieser von der Rentenkasse Aggravation und eine mögliche Täuschung des MDK vorgeworfen worden seien. Hier hätte sich Dr. L. möglicherweise mutiger auf ihr eigenes Bild verlassen sollen. Die Unterlagen in der Akte, der ausgeprägte psychische und körperliche Befund, die eindeutigen fremdanamnestischen Angaben der Tochter und des Pflegedienstes der Klägerin und die Beurteilungen anderer Institutionen wie MDK und Integrationsamt schlössen eine Aggravation oder gar Täuschung nahezu eindeutig aus.

Die Beklagte hat ausgeführt, dass die Leistungseinschätzung von Dr. D. nicht nachvollzogen werden könne. Dr. D. hinterfrage keine Verhaltensweisen, keine Beschwerdeangaben und gehe auch nicht auf die detaillierte Begründung von Dr. L. für deren Leistungseinschätzung ein. Wie Dr. D. nun plötzlich auf schwerste Diagnosen wie schwere chronifizierte Depression und Psychose sowie (Pseudo-) Demenz komme, entbehre einer validen medizinischen Grundlage im Längs- wie auch im Querschnitt. Es fehlten dazu auch insbesondere die klinischen Kriterien.

Das Gericht hat aufgrund der von Dr. D. geäußerten Annahme einer psychotischen Erkrankung und eines dementiellen Prozesses die behandelnden Ärzte der Klägerin Dr. B1, Dr. K., Dr. J. und Dr. E. um Folgebefundberichte gebeten und sie ausdrücklich danach gefragt, ob sie Hinweise auf eine mögliche psychotische- und/oder Demenz-Erkrankung bei der Klägerin festgestellt hätten. Daraufhin hat der Praktische Arzt Dr. K. (Praktischer Arzt) angegeben, dass sein Bericht vom Juli 2016 nicht zu ergänzen sei und keine weiteren Befunde vorlägen. Im Bericht von Juli 2016 werden entsprechende Erkrankungen oder Symptome nicht genannt. Der Allgemeinmediziner und Diabetologe Dr. J. hat erklärt, zu der Frage einer Demenz oder psychotischen Erkrankung keine Angaben machen zu können. Der Orthopäde und Rheumatologe Dr. B1 hat ausgeführt, dass sich im Verlaufe der Jahre eine zunehmende depressive Komponente mit starker innerlicher Zurückgezogenheit entwickelt habe. Auch habe er als Orthopäde den Verdacht, dass sie eine zunehmende Demenz entwickelt habe, wobei man sagen müsse, dass von neurologischen Kollegen seine Kompetenz sicher in Zweifel gezogen werde. Insgesamt handele es sich um einen frustranen Krankheitsverlauf mit multimodaler Komponente, wobei hauptsächlich psychische und psychiatrische Störungen im Vordergrund stünden. Der die Klägerin behandelnde Nervenarzt Dr. E. hat am 23. September 2018 folgende psychische Befunde angegeben: Kognition verlangsamt, Grübelneigung, Sinnlosigkeitserleben, leichte Hemmung des Denkens, kein Wahn oder Sinnestäuschungen, Affekt negativ gefärbt mit deutlicher Depressivität, reduzierte Schwingungsfähigkeit, Antrieb gestört, nicht suizidal. Als aktuelle Diagnosen hat er in seinem Bericht genannt: Gesichert Dysthymia, gesichert Diabetes. Die Frage des Gerichts, ob Hinweise auf eine mögliche Demenzerkrankung oder psychotische Erkrankung festgestellt worden seien, hat Dr. E. mit nein beantwortet.

Das Gericht hat die Klage mit Urteil vom 21. Februar 2019 ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Es habe sich nicht feststellten lassen, dass die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung habe. Im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen des Gerichts sei unklar geblieben, an welchen Gesundheitsstörungen die Klägerin tatsächlich leide und welche Leistungseinschränkungen vorlägen. Eine körperliche oder seelische Erkrankung in einem Schweregrad, welcher jegliche Leistungsfähigkeit ausschließe, habe nicht mit der notwendigen Sicherheit festgestellt werden können. Das Gericht folge insoweit der Einschätzung der Sachverständigen Dr. L., die auf der Grundlage ihrer Anamneseerhebung, der Untersuchung der Klägerin und der Auswertung der Aktenlage eine schwere seelische Störung, die zu einem aufgehobenen – oder zeitlich eingeschränkten – Leistungsvermögen führen könne, nicht habe feststellen können. Die im Gutachten von Dr. L. aufgezeigten Diskrepanzen zwischen Beschwerdeklage und zu erhebenden Befunden habe auch nicht durch das auf Antrag der Klägerin erstattete Gutachten von Dr. D. ausgeräumt werden können. So bleibe für das Gericht weiterhin offen, wie trotz Angabe einer Betreuung durch einen Pflegedienst, der die Medikamenteneinnahme überwache, die tatsächliche Einnahme der Medikamente zur Behandlung der geltend gemachten depressiven Erkrankung, der Ängste und Schlafstörungen nicht habe nachgewiesen werden können. Nicht nachvollziehbar seien auch die in den Pflegegutachten getroffenen Feststellungen, auf die die Klägerin sich beziehe und denen offenbar auch Dr. D. folge, wonach die Klägerin nur mit Fremdhilfe aus dem Sitzen aufstehen könne und ihr das Stehen nur unter Festhalten durch eine Pflegeperson möglich sei. Derartige Einschränkungen seien zum einen durch die erhobenen Befunde der behandelnden Ärzte nicht dokumentiert. Sie passten auch nicht zu den Angaben, die die Klägerin selbst gegenüber Dr. L. gemacht habe, wonach sie am Gehwagen in Begleitung ihrer Schwiegertochter rausgehe, um an die frische Luft zu kommen und Schokolade und Eis zu kaufen. Ebenfalls sei die in den Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit beschriebene völlige Antriebslosigkeit der Klägerin, die bei der Begutachtung sogar immer wieder eingeschlafen sei, nicht nachvollziehbar. Eine derart gravierende Symptomatik lasse sich durch die Sachverhaltsermittlungen des Gerichts nicht erklären. Es bleibe die Vermutung im Raum, dass – sei es durch die Klägerin selbst, sei es durch ihre Tochter, die den Pflegegutachtern Auskunft gegeben habe – Beschwerden demonstriert bzw. Angaben gemacht worden seien, die nicht den tatsächlich vorliegenden Einschränkungen entsprächen. Das Gericht könne sich der Auffassung von Dr. D., wonach bei der Klägerin eine psychotische und vermutlich auch dementielle Erkrankung vorliege, auch deshalb nicht anschließen, weil der die Klägerin seit 2004 behandelnde Psychiater und Neurologe Dr. E. auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts weder eine psychotische noch eine dementielle Symptomatik mitgeteilt habe. In seinem aktuellsten Befundbericht vom 23. September 2018 werde nicht einmal mehr die von ihm früher diagnostizierte mittelschwere Depression angegeben, sondern als gesicherte Diagnose auf psychiatrischem Fachgebiet lediglich eine Dysthymia genannt. Die Klägerin treffe nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast, der auch im sozialgerichtlichen Verfahren gelte, die Beweislast dafür, dass sie krankheitsbedingt nicht mehr leistungsfähig im Sinne des § 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 4. März 2019 zugestellte Urteil am 3. April 2019 Berufung eingelegt. Es werde beantragt, durch ein weiteres Gutachten festzustellen, ob die Klägerin zu einem aggravierenden Verhalten neige.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Februar 2019 sowie den Bescheid vom 29. Oktober 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 13. Oktober 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat Folgebefundberichte eingeholt. Dr. B1 hat am 7. August 2019 von Vorstellungen der Klägerin am 12. September 2018, 7. März 2019 und 25. März 2019 mit einer aktivierten Coxarthrose links berichtet. Dr. E. ist weiterhin nur von der Diagnose einer gesicherten Dysthymia ausgegangen.

Der Senat hat zudem Beweis erhoben durch Einholung eines psychosomatischen Gutachtens von Dr. L2. Dieser hat in seinem Gutachten vom 20. Juni 2020 berichtet, dass die Klägerin im Rollstuhl von der Tochter und einem der Söhne begleitet erschienen sei. In den Begutachtungen von Dr. L. und Dr. D. hätten keine deutlichen Gelenksdestruktionen festgestellt werden können. So sei dies auch in der jetzigen Untersuchung. Die Muskulatur wirke auch nicht atrophiert. Damit sei der deutlichen Einschränkung aufgrund rheumatologischen Erkrankung so erst einmal nicht zu folgen. Damit erklärten sich auch nicht die Störungen des Gangbildes, wie sie von der Klägerin demonstriert worden seien. Es bleibe sehr fraglich, warum es bei der Klage einer so schweren depressiven Störung nicht zu einer weiteren Eskalierung der Behandlungsmaßnahmen gekommen sei. Eine schlüssige Erklärung, warum die Medikamente nicht hätten nachgewiesen werden können, habe es nicht gegeben. Die Präsentation der Symptome sei in der Begutachtung sehr demonstrativ gewesen. Vor allem habe die Klägerin nun ihr dementielles Syndrom in den Vordergrund geschoben. Sie habe sich hinsichtlich ihrer Kinder unsortiert gezeigt, deren Alter nicht gekannt. Bei dem Eintreten der Tochter in das Behandlungszimmer sei sie aber nicht irritiert gewesen. Sie habe auch angegeben, nicht zu wissen, dass der Mann, der sie zur Untersuchung gebracht habe, ihr Sohn gewesen sei. Sie sei dann aber keineswegs beunruhigt gewesen, als der Sohn sie nun im Rollstuhl mitgenommen habe. Bei einer so ausgeprägten Demonstration dementieller Symptome wäre auch eine entsprechende Diagnostik zu erwarten gewesen. Auch die psychometrischen Testungen seien nicht schlüssig gewesen. Bei einer massiven depressiven Antriebshemmung seien Patienten nicht in der Lage, sich mit den entsprechenden Tests auseinanderzusetzen. Die Klägerin habe dies aber versucht und dann sehr niedrige Punktwerte erreicht. Gerade bei der Testung im Minimental-Test falle bei Patienten mit hirnorganischen Abbauprozessen auf, dass sie versuchten, aktiver daran teilzunehmen, aber dann falsche Werte angäben. Auch die Angabe von Harn- und Stuhlinkontinenz erkläre sich nicht. Die Klägerin sei noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten einfacher geistiger Art mit geringer Verantwortung vollschichtig zu verrichten. Die Arbeiten sollten in wechselnder Körperhaltung erfolgen, ausschließliches Tragen, Heben oder Bücken solle vermieden werden. Stress induzierende Arbeitsbedingungen wie unter Zeitdruck, Akkord oder Schichtarbeit sollten vermieden werden. Die Arbeiten sollten in geschlossenen Räumen und zu ebener Erde stattfinden. Die Klägerin sei auch wegefähig. Die Klägerin könne mit zumutbarer Willensanspannung etwaige Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung überwinden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Verwaltungsakte und die Sitzungsniederschrift vom 13. Januar 2021 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der Senat nimmt zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts (§ 153 Abs. 2 SGG).

Nach § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte nach § 43 Abs. 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI damit nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Eine Erwerbsminderung der Klägerin ist nicht nachgewiesen. Das bereits umfassend und überzeugend begründete Beweisergebnis des Sozialgerichts hat sich durch das psychosomatische Gutachten von Dr. L2 bestätigt. Dr. L2 legt schlüssig dar, dass die von der Klägerin demonstrierten Einschränkungen nicht nachvollziehbar sind. Das Verhalten der Klägerin ist schon in sich nicht schlüssig, wenn sie weder ihre Tochter noch ihren Sohn erkennen will, diese aber wie vertraute Personen behandelt. Ebenso wenig ist es mit einem dementiellen Syndrom vereinbar, zielgerichtet zu handeln und Beschwerden immer wieder in den Vordergrund zu stellen. Zudem ist es nicht erklärbar, dass die behandelnden Ärzte der Klägerin hinsichtlich der vorgetragenen Beschwerden wie z. B. der Halluzinationen, Demenz, Inkontinenz, Gangunsicherheit keine Diagnosen gestellt, weitere Diagnostik in die Wege geleitet oder Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft haben. Dr. E. hat berichtet, dass die Klägerin alle vier bis acht Wochen bei ihm in Behandlung sei und kommt dennoch lediglich zu der Diagnose einer Dysthymia. Dies wäre vor dem Hintergrund der von der Klägerin in Begutachtungssituationen demonstrierten Verhaltensauffälligkeiten nicht nachvollziehbar.

Insbesondere ist auch eine aufgehobene Wegefähigkeit der Klägerin nicht erkennbar. Gelenksdestruktionen, die die von der Klägerin dargestellte Gangunfähigkeit begründen könnten, konnten weder von Dr. L. noch von Dr. L2 festgestellt werden. Dies steht im Einklang mit den Befunden des behandelnden Orthopäden und Rheumatologen Dr. B1, der mitgeteilt hat, dass die rheumatische Erkrankung durch die multimodale Therapie relativ zur Ruhe gekommen sei und keine weiteren Destruktionen eingetreten seien. Er sieht den Schwerpunkt der Erkrankung der Klägerin dementsprechend nicht im somatischen Bereich. Wie oben bereits ausgeführt, ließen sich auf psychiatrischem Gebiet jedoch keine schwerwiegenden Leistungseinschränkungen bei der Klägerin nachweisen. Dr. L2, der die Klägerin zuletzt begutachtet hat, konnte zudem keine atrophierte Muskulatur bei der Klägerin feststellen, wie es aber zu erwarten gewesen wäre, wenn sie an der von ihr demonstrierten Gangunfähigkeit leiden und durchgehend den Rollstuhl nutzen würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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