L 3 R 70/19

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 6 R 486/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 3 R 70/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 31. Januar 2019 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) hat.

Der am ... 1961 geborene Kläger absolvierte nach seinem Neunte-Klasse-Schulabschluss von 1978 bis 1981 eine abgeschlossene Ausbildung zum Hafenfacharbeiter. 1982 nahm er erfolgreich an einer Qualifizierung zum Rangierleiter teil. Anschließend war er bis 1988 als Rangierleiter bei der Deutschen Reichsbahn tätig. Es folgte eine Tätigkeit als Staplerfahrer in einer Gewächshausanlage. 1989 erwarb der Kläger den Lkw-Führerschein und war anschließend von 1990 bis 2009 als Lkw-Kraftfahrer im Fernverkehr tätig. Nach einem Herzinfarkt im Jahre 2009 wurde das Beschäftigungsverhältnis als Fernfahrer mit Zustimmung des Integrationsamtes M. gekündigt.

Vom 4. bis zum 25. August 2009 nahm der Kläger an einer stationären Anschlussheilbehandlung in der Rehabilitationsklinik E.-S. GmbH in B. teil. In dem Entlassungsbericht vom 27. August 2009 sind folgende Diagnosen genannt:

Arteriosklerostische Herzkrankheit: Drei-Gefäßerkrankung, Erstdiagnose Juni 2009, ACVB-Operation 30. Juni 2009, AICD 15. Juli 2009.

Ischämische Kardiomyopathie, Ejektionsfraktion (EF) 20 %.

Arterielle Hypertonie.

Gemischte Hyperlipidämie.

Nikotinabusus.

Aufgrund der kardialen Situation könne der Kläger sowohl als Berufskraftfahrer als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter drei Stunden täglich arbeiten.

Der Kläger bezog im Anschluss vom 1. September 2009 bis zum 31. Mai 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit, die zuletzt 798,51 EUR (brutto) bzw. 714,27 EUR (netto) betrug. Von Juli 2011 bis November 2012 verrichtete er eine geringfügige, nicht versicherungspflichtige Beschäftigung, bei der er von Montag bis Freitag jeweils vier Stunden Kleinteile für Kinderfahrräder zusammensetzte. Vom 1. Mai bis zum 26. August 2019 weist der Versicherungsverlauf des Klägers eine Beitragszeit mit Pflichtbeiträgen für eine Pflegetätigkeit aus. Hierzu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, er habe sich mit seiner Frau ca. zehn Jahre ca. zwei bis drei Stunden am Tag um die Nachbarin gekümmert, wobei er Fahrdienste geleistet habe. Es seien nur so wenige Pflegezeiten im Versicherungsverlauf eingetragen, weil die Nachbarin die Pflege nicht der Krankenkasse gemeldet habe. Deshalb habe er diese Pflegetätigkeit dann auch beendet.

Auf den Weitergewährungsantrag des Klägers vom 7. Januar 2015 zog die Beklagte zunächst einen Befundbericht des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. K. vom 23. Januar 2015 bei. Dieser führte aus, der Kläger habe zurzeit keine größeren Beschwerden. Die Hauptbehandlung finde allerdings beim Kardiologen statt. Bei ihm - dem Hausarzt - sei er nur sporadisch. Beigefügt war ein Bericht des Facharztes für Innere Medizin mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Kardiologie und Akupunktur Dr. M. vom 8. Februar 2015. Die dortige farbcodierte Duplex-Echokardiografie ergab u.a. eine EF von 41 %.

Die Beklagte veranlasste schließlich ein internistisches Fachgutachten durch den Facharzt für Innere Medizin/Kardiologie Dr. W ... Dieser untersuchte den Kläger am 23. März 2015 und stellte in seinem Gutachten vom 2. April 2015 folgende Diagnosen:

Koronare Drei-Gefäßerkrankung, Zustand nach vierfacher Bypassoperation (LIMA zum LAD, ACVB zu Ramus diagonalis, ACVB zum RIVP und ACVB zum Ramus marginalis) Juni 2009.

Ischämische Kardiomyopathie, Zustand nach Zwei-Kammer ICD-Implantation Juli 2009 mit derzeit mäßiggradig reduzierter linksventrikulärer Funktion.

Arterielle Hypertonie.

COPD.

Zustand nach Bänderriss-Operation des Kniegelenkes rechts sowie auch Operation eines Kapselrisses des Kniegelenks links.

Degenerative Wirbelsäulenveränderungen.

Zustand nach Magenhernienoperation.

Im Vordergrund stehe beim Kläger die schwere koronare Drei-Gefäßerkrankung mit der ischämischen Herzdilatation und dem Zustand nach Zwei-Kammer-ICD-Implantation. Nach vollständiger Revaskularisierung der koronaren Drei-Gefäßerkrankung durch die vierfache Bypass-Operation und unter der jetzigen Medikation sei es zu einer Verbesserung der linksventrikulären Kinetik gekommen. Die linksventrikuläre Pumpfunktion sei mit einer EF von 45 % mittelgradig reduziert. Die Belastungs-EKG-Untersuchung habe derzeit keinen Hinweis auf eine relevante Belastungskoronarinsuffizienz ergeben. Die Ausbelastung bis 103 Watt sei jedoch nur submaximal erfolgt. Die durchgeführte Spiroergometrie lasse leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten drei bis sechs und leichte körperliche Tätigkeiten vollschichtig (mehr als sechs Stunden) zu. Auch wenn der ICD bei seiner Auswertung keine Schockabgaben und auch keine Brust-Stimulation gezeigt habe, sei bei Implantation eines Zweikammer-ICDs die Tätigkeit als Berufskraftfahrer nicht möglich. Der Bluthochdruck, der derzeit gut eingestellt sei, zeige keine weitergehenden Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit. Seitens der Wirbelsäule und der Kniegelenke sollte das Heben und Tragen von Lasten von mehr als 15 kg und das Arbeiten in Zwangshaltungen gemieden werden. Ein Wechsel zwischen gehender, stehender und sitzender Tätigkeit sei zu empfehlen. Die übrigen Erkrankungen hätten keinen wesentlichen Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit, insbesondere keine wesentlichen weiteren Einschränkungen, zur Folge. Somit könne der Kläger in seinem Beruf als Berufskraftfahrer nicht mehr arbeiten, wohl aber leichte körperliche Tätigkeiten unter Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen vollschichtig durchführen, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten noch drei bis sechs Stunden.

Mit Bescheid vom 13. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2015 lehnte die Beklagte die Weiterzahlung der Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 1. Juni 2015 ab. Zur Begründung führte sie aus, bei dem Kläger liege ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte bis mittelschwere Arbeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen vor. Bei dieser Leistungsfähigkeit sei der Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht verschlossen.

Dagegen hat der Kläger am 2. November 2015 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben und zur Begründung vorgetragen, der angefochtene Bescheid erfülle nicht ansatzweise die gesetzlichen Bestimmungen für die Begründung eines Bescheides. Es sei nur allgemein darauf verwiesen worden, dass irgendwelche medizinischen Unterlagen schlüssig und überzeugend begründet seien. Er - der Kläger - sei nicht mehr zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes leistungsfähig. Infolge der Bypass-Operation bestehe die Pumpleistung des Herzens und damit die Versorgung mit Sauerstoff über den Blutkreislauf nur unzureichend. Bereits bei einem Weg von 50 bis 60 m fingen seine Waden an sich zu verspannen, zu schmerzen und taub zu werden. Er könne auch keine Gewichte von 15 kg mehr stemmen. Einkäufe müsse er auf mehrere Beutel verteilen. Belastungen führten bereits bei geringer Intensität zu Sauerstoffmangel. Bei einfachem Bücken komme es zu Schwindelanfällen bis hin zum Erbrechen. Treppensteigen sei ihm nur mit starken Atembeschwerden möglich. Er sei über viele Jahre aktiv im Fußballsport und als Hafenarbeiter tätig gewesen. Er sei also körperlich sehr aktiv gewesen und könne seine verbliebene Leistungsfähigkeit sehr gut einschätzen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten versuche er auch weiterhin, seine Restleistungsfähigkeit zu erhalten. So sei er ehrenamtlich für die Wasserwacht tätig. Bei Kontrollen sei er dabei jedoch auf die Hilfe anderer angewiesen. Da er unter mehreren schweren Erkrankungen leide, die zum einen die Leistungsfähigkeit im Stoffwechsel (Bypass-Operation mit Herzschrittmacher und Lungenerkrankung) als auch funktionell (Knie-Operation) stark einschränkten, bestünden im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) schwere spezifische Leistungsbehinderungen sowie eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. Es fehle jedoch an der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit seitens der Beklagten. Er - der Kläger - liege nahe an der Grenze zur Indikation für eine Herztransplantation. Insoweit sei nicht nachvollziehbar, wie dabei noch eine volle Leistungsfähigkeit für leichte und eine geminderte Leistungsfähigkeit für mittelschwere Tätigkeiten unter den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gegeben sein solle. Völlig unberücksichtigt geblieben sei seine Lungenerkrankung, obwohl die Leistungsfähigkeit der Lunge maßgeblich für die Aufnahme von Luft und Sauerstoff und damit die Versorgung des Körpers sei. In der mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht am 31. Januar 2019 hat der Kläger auf Nachfrage erklärt, er verfüge über einen Pkw und einen Führerschein, fahre aber aufgrund seiner Erkrankung nur noch kurze Strecken.

Das Sozialgericht hat zunächst durch Einholung von Behandlungs- und Befundberichten ermittelt. Dipl.-Med. K. hat in seinem am 27. April 2016 beim Sozialgericht eingegangenen Schreiben mitgeteilt, der Kläger sei wegen seiner Herzkrankheit regelmäßig in kardiologischer Behandlung. Seit 2014 sei er nur wegen Erkältungen und Laborkontrollen in seiner Praxis gewesen. Deshalb könne er keine näheren Auskünfte geben. Die Fachärztin für Innere Medizin/Pulmologie/Allergologie Dr. R. hat in ihrer am 28. April 2016 beim Sozialgericht eingegangenen Erklärung mitgeteilt, der Kläger sei zuletzt 2009 von ihr gesehen worden. Seitdem habe kein Kontakt bestanden. Dr. M. hat in seinem Befundbericht vom 7. Mai 2016 eingeschätzt, die ihm vorliegenden Befunde erlaubten aus seiner Sicht eine leichte Tätigkeit bis sechs Stunden ohne Schichtarbeit, Heben und Tragen schwerer Lasten und Arbeiten in Zwangshaltungen sowie unter Stressbedingungen. Hinsichtlich möglicher weiterer Einschränkungen aus pulmologischer oder orthopädischer Sicht könne er keine Aussage treffen. Bei ihm sei der Kläger zuletzt am 29. April 2016 zur ICD-Kontrolle gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Befundberichte sowie der mitgesandten Anlagen wird auf Blatt 45, 46 f. und 49 bis 55 der Gerichtsakten verwiesen.

Der Kläger hat anschließend ärztliche Unterlagen eingereicht, derentwegen auf Blatt 73 bis 79 der Gerichtsakten verwiesen wird: Befundmitteilung der Fachärztin für Innere Medizin/Angiologie Dr. S. vom 19. Mai 2016; Epikrise des Diakonissenkrankenhauses D., Klinik für Urologie, Kinder-Urologie und urologische Onkologie vom 23. November 2016 über die dortige stationäre Behandlung vom 20. bis zum 23. November 2016, während der ein Hodentumor links entfernt wurde; Bericht der Fachärzte für Radiologie bzw. diagnostische Radiologie Dres. S. und G. vom 7. Dezember 2016 über eine Computertomografie des Thorax und Abdomens vom selben Tag; Bericht von Dr. M. vom 12. Januar 2017, der eine Befundverschlechterung mit Zunahme der Herzgröße und Reduzierung der Pumpleistung - EF 30 % - mitgeteilt hat.

Das Sozialgericht hat schließlich ein Gutachten von Prof. Dr. S. vom Herzzentrum L. eingeholt. Der gerichtliche Sachverständige hat den Kläger am 29. Mai 2018 untersucht und in seinem Gutachten vom 10. Oktober 2018 folgende Diagnosen gestellt:

Koronare Drei-Gefäßerkrankung.

Zustand nach vierfacher aortokoronarer Bypass-Operation.

Fortgeschrittene PAVK mit Verschluss beider Femoralarterien.

Arterielle Hypertonie.

Hyperlipoproteinämie.

Zustand nach Implantation eines Defibrilators bei deutlich eingeschränkter LV-Funktion.

Zustand nach operativer Entfernung eines Seminoms.

Bei der Untersuchung habe der Kläger über eine ausgeprägte Belastungsdyspnoe geklagt. Seit mehreren Jahren könne er nur noch 50 m gehen, bevor die Belastungsdyspnoe auftrete. Typische pectanginöse Beschwerden oder Herzrhythmusstörungen seien bisher nicht aufgetreten. In den letzten Monaten habe sein Körpergewicht um 8 kg auf jetzt 108 kg zugenommen. Er habe auch bemerkt, dass seine Knöchel regelmäßig anschwellen würden. Er rauche noch täglich 20 Zigaretten. Das Echokardiogramm habe einen normal großen linken Ventrikel mit deutlich eingeschränkter Pumpfunktion gezeigt. Die LV-EF habe 43 % betragen. Der Herzklappenapparat sei unauffällig gewesen. Ein Pericarderguss habe nicht vorgelegen. Auf dem Fahrradergometer sei der Kläger in seiner maximalen Leistung deutlich eingeschränkt gewesen (100 Watt). Die Mitarbeit auf dem Fahrradergometer sei sehr dürftig gewesen. Die Belastung sei durch den Kläger schon lange vor Erreichen der Zielherzfrequenz abgebrochen worden. Der Kläger sei zu diesem Zeitpunkt noch weit von einer Ausbelastung, auch bei Berücksichtigung der Behandlung mit Betablockern, entfernt gewesen. Bei der Herzinsuffizienz des Klägers handele es sich um eine irreversible Erkrankung, die eher zu einer weiteren Verschlechterung tendiere als zu einer Remission. Eine Gewichtsabnahme um mindestens 20 kg mit gleichzeitiger Behandlung der arteriellen Hypertonie könnte mit Sicherheit eine signifikante Besserung erreichen. Aufgrund der Motivationslage des Klägers könne jedoch nicht damit gerechnet werden. Eine weitere Ausübung seiner Tätigkeit als Kraftfahrer sei aufgrund der Herzinsuffizienz und der Defibrilator-Implantation ausgeschlossen. Tätigkeiten, die mit leichter körperlicher Belastung und regelmäßigen Ruhepausen einhergingen, könnten von dem Kläger noch durchgeführt werden. Die psychische Bereitschaft hierzu werde jedoch als limitierender Faktor eine wichtige, vielleicht unüberwindbare Rolle spielen. Aufgrund der körperlichen Gebrechen, noch mehr jedoch durch seine psychische Struktur, könne der Kläger nur noch allereinfachste Tätigkeiten verrichten, die ohne körperliche Belastung und ohne Ansprüche an seine geistigen Fähigkeiten einhergingen. Rein theoretisch sei eine Tätigkeit von mindestens sechs Stunden denkbar. Nachdem der Kläger jedoch sechs Jahre lang eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezogen habe, dürfte sich die Wiedereingliederung schwierig gestalten. Gegenwärtig sei der Kläger nicht in der Lage, 500 m zu gehen. Nach einer gewissen Trainingsperiode in Verbindung mit einem Gewichtsverlust von mindestens 10 kg wäre das regelmäßige Gehtraining aus therapeutischen Gesichtspunkten geradezu erwünscht.

Mit Urteil vom 31. Januar 2019 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab den 1. Juni 2015 zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, aufgrund seiner Erkrankungen sei der Kläger derzeit nicht in der Lage, eine Erwerbstätigkeit drei Stunden täglich auszuüben. Es lägen eine erhebliche allgemeine Leistungsminderung und wesentliche Einschränkungen durch die Herzinsuffizienz nach durchgemachtem Myokardinfarkt, die arterielle Hypertonie, die Adipositas sowie den Nikotinkonsum und die periphere Verschlusskrankheit vor. Allein die theoretische Möglichkeit, täglich sechs Stunden Arbeiten verrichten zu können, genüge nicht, um den Anspruch auf Bewilligung einer Rente auszuschließen. Maßgebend sei, dass tatsächlich ein solches Leistungsvermögen nach den Feststellungen von Prof. Dr. S. nicht mehr bestehe. Dies äußere sich auch in der deutlich reduzierten Gehstrecke (50 m). Der Kläger habe auch in der Vergangenheit versucht, eine Besserung seines Gesundheitszustandes herbeizuführen. Der Bluthochdruck werde medikamentös behandelt. Sofern eine Verbesserung der Einstellung möglich sei, sei dies ambulant zu versuchen. Eine Reduzierung des Körpergewichtes sei im streitigen Zeitraum seit 2015 nicht erfolgt, sodass das Sozialgericht davon ausgehe, dass im Zeitpunkt der Weitergewährung der seit dem 1. September 2009 bewilligten Rente das Leistungsvermögen aufgehoben gewesen sei. Ob durch eine Therapieverbesserung und eine Gewichtsreduzierung künftig eine Besserung eintreten könne, sei nur für die Frage einer Befristung der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit maßgebend. Ob der Kläger aus gesundheitlichen Gründen gehindert sei, einen Arbeitsplatz aufzusuchen, sei somit unerheblich. Gleichwohl habe Prof. Dr. S. ausgeführt, dass der Kläger nicht in der Lage sei, viermal täglich Fußwege von mehr als 500 m in jeweils weniger als 20 Minuten zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten nutzen zu können. Es erscheine unwahrscheinlich, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne, da der Kläger seit dem 1. September 2009 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beziehe und nunmehr mehr als neun Jahre keine Besserung eingetreten sei.

Gegen das ihr am 19. Februar 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. März 2019 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen auf die erstinstanzliche Stellungnahme ihres sozialmedizinischen Dienstes vom 13. November 2018 verwiesen. Darüber hinaus hat sie argumentiert, aus sozialmedizinischer Sicht sei ein fehlendes Gehvermögen von täglich viermal 500 m in 20 Minuten nicht ausreichend belegt. Es bestünden keine objektiven Untersuchungsbefunde, die ein derartig langsames Gehen gegebenenfalls unter Nutzung von Hilfsmitteln unmöglich machten. Weder lägen orthopädische noch angiologische noch neurologische Defizite entsprechenden Ausmaßes vor. Zudem wäre eine rentenrechtlich relevante Einschränkung der Gehstrecke durch das Vorhandensein von Pkw und Führerschein kompensiert.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 31. Januar 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. S. sei er - der Kläger - praktisch nicht erwerbsfähig. Dies ergebe sich nicht zuletzt daraus, dass er nur theoretisch für "allereinfachste" Tätigkeiten leistungsfähig sei. Damit sei ihm der Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG verschlossen. Darüber hinaus sei sein fortgeschrittenes Alter und seine langjährige, aus Gründen der Erwerbsunfähigkeit bedingte, Abwesenheit vom Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Kein Arbeitgeber werde angesichts seiner schweren Erkrankung und seines Alters den Aufwand betreiben und das Geld investieren, ihn für eine neue Tätigkeit anzulernen oder einzuarbeiten. Im Übrigen habe Prof. Dr. S. keine ausdrückliche Aggravation unterstellt, sondern im Ergebnis auf seine psychische Struktur hingewiesen, die einen limitierenden Faktor, wenn nicht eine unüberwindliche Hürde, darstelle. Vor diesem Hintergrund sei auch darauf hinzuweisen, dass er - der Kläger - nie habe in Rente gehen wollen, da die Erwerbsunfähigkeit seinen finanziellen Ruin bedeutet habe. Er habe ein Verbraucherinsolvenzverfahren durchlaufen müssen, da ein Kredit nicht mehr habe bedient werden können. Er habe nach seiner Herzoperation einen Antrag zur Teilnahme an der Herzsportgruppe in D. gestellt, der von der Beklagten abgelehnt worden sei. Die psychischen Grenzen seiner Leistungsfähigkeit dürften also in erster Linie von der Beklagten mit ihrem Verhalten gesetzt worden sei.

Der Senat hat ein Gutachten der Fachärztin für Innere Medizin, Sozialmedizin und Betriebsmedizin Dr. H. vom 20. Februar 2020 eingeholt. Die gerichtliche Sachverständige hat den Kläger am 12. Dezember 2019 untersucht und in ihrem Gutachten folgende Diagnosen gestellt:

Auf internistischem Fachgebiet:

Ischämische Kardiomyopathie bei koronarer Drei-Gefäßerkrankung mit zu Beginn hochgradig eingeschränkter und seit 2015 leicht bis mäßig eingeschränkter Pumpfunktion der linken Herzkammer und diastolischer Dysfunktion, Zustand nach Vierfach-Bypass-Operation und prophylaktischer ICD-Implantation 2009 wegen damals hochgradig reduzierter Pumpfunktion und ventrikulärer Tachykardie.

Bluthochdruck mit Linksherzhypertrophie ohne hypertensive Entgleisungen.

Peripher arterielle Verschlusskrankheit vom Oberschenkeltyp beidseits im Fontaine-Stadium II b.

Chronische Bronchitis bei chronischem Nikotinkonsum.

Adipositas Grad 2.

B) Auf orthopädischem und urologischem Fachgebiet:

Kniescheibenrückseitige Arthrose mit leichter Funktionsstörung, bekannter Zustand nach Kniebandschaden 1990 rechts bzw. 1994 links.

Belastungsabhängiges, statisch bedingtes Lendenwirbelsäulensyndrom ohne permanente Funktionseinschränkungen oder motorische Ausfälle.

Zustand nach kurativer Therapie eines Seminoms des linken Hodens November 2016.

Zum Tagesablauf habe der Kläger berichtet, um 5.30 Uhr aufzustehen. Er stelle die Kaffeemaschine an, benötige zehn Minuten im Bad und sitze dann bis Mittag in der Küche. Er nehme ein ausgedehntes Frühstück ein und sehe sich dabei im Fernsehen Dokumentationen oder Natursendungen an. Er esse eine Schnitte und einen Apfel. Mittagessen koche die Frau. Um 11.30 Uhr gebe es die Mahlzeit. Anschließend komme die sechsjährige Enkeltochter eine Stunde. Sie spielten Karten oder übten Schreiben von Buchstaben und Zahlen, bis die Mutter sie abhole. Am Nachmittag komme die 76-jährige Mutter zum Kaffee trinken. Sie sei noch fit. Er ruhe sich am Nachmittag auch mal eine Stunde auf dem Sofa aus. Abendbrot gebe es gegen 17:00 Uhr. Im Sommer säßen sie eventuell noch draußen oder er gehe mal zum Garten. Auch jetzt gehe er ab und zu dorthin, um nach dem Rechten zu sehen. Gegen 22.00 Uhr gehe er zu Bett. Einschlafen könne er gut, sei aber nach fünf Stunden wieder wach. Er nehme eine Schmerztablette und trinke Kaffee. Die Blase müsse er in der Nacht nicht entleeren. Die Gutachterpraxis habe er als Fahrer erreicht.

Die gerichtliche Sachverständige hat erklärt, es hätten keine Anhaltspunkte für Simulation oder Aggravation bestanden. Der Kläger habe psychisch stabil gewirkt. Zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen habe er sachlich berichtet. Die Diskrepanz seiner Wahrnehmung zum Ausmaß der kardialen und vaskulären Symptome zu den objektiven Untersuchungsergebnissen sei der Tatsache der besonderen Situation im Rahmen einer Begutachtung anzulasten. Um bewusstseinsnah gesteuerte Verdeutlichungstendenzen handele es sich nicht. Die transthorakale Farbdopplerechokardiographie habe eine EF von 39 % ergeben. Die Fahrradergometrie sei nach vier Minuten (25 Watt) und knapp einer Minute (50 Watt) wegen Erschöpfung ohne objektive Abbruchkriterien beendet worden. Die Blutdruck- und Frequenzregulation sei lastadäquat gewesen. Die submaximale Ausbelastungsfrequenz sei nicht erreicht worden. Die Ruhe-EKG-Veränderung sei nicht dynamisch gewesen. Die kardiovaskuläre Belastbarkeit sei auf leichte körperliche Anforderungen begrenzt.

Dr. H. ist zu der Einschätzung gelangt, der Kläger könne mit dem verbliebenen Restleistungsvermögen noch körperlich leichte Arbeiten im gelegentlichen Haltungswechsel von Gehen, Stehen und Sitzen (z.B. leichte Sortierarbeiten oder Büroarbeiten) vollschichtig (acht Stunden täglich) an fünf Wochentagen verrichten. Zu vermeiden seien häufige einseitige körperliche Belastung oder Zwangshaltung, häufiges Bücken oder Knien, häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel, Temperaturschwankungen mit extremer Hitze-/Kälteexposition, anhaltende Expositionen in Zugluft und Nässe (auch mit witterungsangepasster Kleidung), Arbeiten unter Einwirkung von Staub, Gas, Dampf oder Rauch, an laufenden Maschinen, auf Leitern und Gerüsten, unter Zeitdruck, im Akkord und am Fließband, in Wechsel- und Nachtschicht sowie in der Nähe elektromagnetischer Felder. Die Gehfähigkeit sei nicht relevant eingeschränkt. Der Kläger könne noch mehr als 500 m ohne unzumutbare Beschwerden und ohne lange Pausen zu Fuß zurücklegen. Eine Wegstrecke von mehr als 1.000 m sei ihm anhand der objektiven Untersuchungsergebnisse zu Fuß zumutbar. Er sei gesundheitlich in der Lage, für den Weg zur Arbeit öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Er könne dabei für den Weg zur Haltestelle, von der Haltestelle zum Arbeitsplatz und zurück eine Wegstrecke von jeweils etwas mehr als 500 m auch täglich viermal zurücklegen. Er würde für jeweils etwas mehr als 500 m weniger als 20 Minuten benötigen. Längere Pausen müsse er nicht einlegen. Der Kläger besitze einen Führerschein, steuere einen PKW auch selbst und sei aus gesundheitlichen Gründen ebenfalls in der Lage, ein Kraftfahrzeug zu führen. Die von Prof. Dr. S. geäußerten Zweifel an einer Umsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund des unterstellten Motivationsmangels bzw. einer vermuteten fehlenden psychischen Bereitschaft nach sechsjährigem Rentenbezug habe dieser nicht mit geistigen Befunden unterlegt. In psychiatrischer oder psychologischer Behandlung befinde sich der Kläger zudem nicht. Die Ausführungen zur rechtsrelevanten Einschränkung der Gehfähigkeit seien ebenfalls aus den notierten objektiven Befunden zum unauffälligen Pulsstatus, der nur leichten Pumpfunktionseinschränkung der linken Herzkammer und dem fehlenden Auftreten von Herzrhythmusstörungen oder einer Herzinsuffizienz unter Belastungsbedingungen bei 100 Watt nicht ableitbar. Die klägerseitige Kritik an der fehlenden Berücksichtigung einer Lungenerkrankung sei nicht begründet. Gutachtlich und prüfärztlich sei ein Lungenleiden bereits im April 2015 erfasst worden. Der Kläger nehme außerdem weder eine lungenfachärztliche Behandlung noch eine antiobstruktive Therapie wahr. Mit der Reduktion oder Beendigung des chronischen Nikotinkonsums könne die Symptomatik der chronischen Bronchitis gelindert werden. Außerdem könnte im Gespräch mit dem Kardiologen ein ACE-Hemmer-Husten als Möglichkeit thematisiert und entsprechend reagiert werden. Die Folgen der Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates hätten keinen maßgeblichen Einfluss auf das Leistungsvermögen. Der Sachverhalt sei in medizinischer Hinsicht geklärt und bedürfe deshalb nicht der Einholung weiterer Fachgutachten.

Der Kläger hat zu dem Gutachten von Dr. H. ausgeführt, die Annahme, er könne mit dem Rauchen aufhören, sei realitätsfremd. Er rauche seit dem 18. Lebensjahr inzwischen eine Schachtel pro Tag, mithin seit mehr als 40 Jahren. Soweit Dr. H. keine Belege für eine eingeschränkte psychische Leistungsfähigkeit sehe, widerspreche sie sich selbst, da sie ausgeführt habe, dass er drei Monate benötige, um sich auf eine einfache Tätigkeit einzustellen. Demnach bestehe aktuell keine Erwerbsfähigkeit. Jedenfalls fehle Dr. H. für diese Aussage schlicht die fachliche Qualifikation. Außerdem sei für ihn angesichts seiner vielen Einschränkungen der Arbeitsmarkt nach der Rechtsprechung des BSG verschlossen. Seine Einschränkungen stünden nicht im Einklang mit den üblichen betrieblichen Bedingungen. Entsprechende Arbeitsplätze seien von seinem Wohnort weit entfernt und für ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht erreichbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten (zwei Bände) sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese Akten haben bei der mündlichen Verhandlung und der anschließenden Beratung des Senats vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Juni 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger deshalb nicht in seinen Rechten (§§ 153 Abs. 1, 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Er hat keinen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1. Juni 2015.

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Versicherte sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI teilweise erwerbsgemindert, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, bzw. nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI voll erwerbsgemindert, wenn sie unter diesen Bedingungen außerstande sind, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Kläger ist seit dem 1. Juni 2015 nicht (mehr) erwerbsgemindert in diesem Sinne, weil keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass er nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Denn der Kläger kann jedenfalls seit dem 1. Juni 2015 noch körperlich leichte Arbeiten im gelegentlichen Haltungswechsel von Gehen, Stehen und Sitzen vollschichtig (acht Stunden täglich) an fünf Wochentagen verrichten. Zu vermeiden sind häufige einseitige körperliche Belastung oder Zwangshaltung, häufiges Bücken oder Knien, häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel, Temperaturschwankungen mit extremer Hitze-/Kälteexposition, anhaltende Expositionen in Zugluft und Nässe, Arbeiten unter Einwirkung von Staub, Gas, Dampf oder Rauch, an laufenden Maschinen, auf Leitern und Gerüsten, unter Zeitdruck, im Akkord und am Fließband, in Wechsel- und Nachtschicht sowie in der Nähe elektromagnetischer Felder.

Dieses Leistungsbild ergibt sich für den Senat aus den Gutachten von Dr. W. vom 2. April 2015 und insbesondere von Dr. H. vom 20. Februar 2020. Die gerichtliche Sachverständige Dr. H. hat ein ausführliches und sorgfältig erstelltes Gutachten vorgelegt, das auf einer gründlichen Anamnese beruht. Sie hat sich detailliert mit den vorliegenden objektivierbaren Befunden und den Diagnosen auseinandergesetzt. Schlüssig und in sich widerspruchsfrei ist sie ihrer Leistungseinschätzung gelangt. Die Kritik des Klägers an diesem Gutachten ist nicht berechtigt. Soweit er meint, Dr. H. widerspreche sie sich selbst, da sie ausgeführt habe, dass er drei Monate benötige, um sich auf eine einfache Tätigkeit einzustellen, ist diese Kritik nicht stichhaltig. Denn Dr. H. hat lediglich bejahend auf die entsprechende Beweisfrage geantwortet, in der die Drei-Monats-Frist vorgegeben war. Ihre Antwort bedeutet nicht, dass der Kläger für die Umstellung in jedem Fall die drei Monate ausschöpfen müsste. Als Fachärztin für Sozial- und Betriebsmedizin kann sie auch beurteilen, ob sich Hinweise auf eine psychische Erkrankung oder mnestische Minderbefähigung ergeben haben. Dies hat sie anhand der Aktenlage sowie der eigenen Beobachtung und Befunderhebung für den Senat plausibel und keinesfalls fachfremd verneint.

Im Vordergrund steht bei dem Kläger eine ischämische Kardiomyopathie bei koronarer Drei-Gefäßerkrankung. Allerdings ist die Pumpfunktion der linken Herzkammer jedenfalls seit 2015 nur leicht bis mäßig eingeschränkt. Die EF hat 2009 in der Rehabilitationsklinik E.-S.- GmbH in B. nur 20 % betragen. Seit 2015 ist sie jedoch deutlich verbessert: Dr. M. 41 % im Februar 2015, Dr. W. 45 % im März 2015, Prof. Dr. S. 43 % im Mai 2018 und Dr. H. 39 % im Dezember 2019. Das entspricht einer leicht-, allenfalls mittelgradigen Einschränkung der Pumpfunktion des Herzens. Selbst die von Dr. M. im Januar 2017 angegebene EF von 30 %, die in der soeben genannten Messkette einen Ausreißer darstellt, gehört noch zum Referenzbereich der mittelgradigen Einschränkung. In Bezug auf die Lunge ergibt sich kein wesentlicher leistungsmindernder Befund. Der Kläger ist nicht in lungenfachärztlicher Behandlung; es findet keine antiobstruktive Therapie statt. Die Symptomatik der chronischen Bronchitis könnte durch ein vermindertes oder ganz eingestelltes Rauchen nachhaltig gebessert werden. Die Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates haben keinen maßgeblichen Einfluss auf das Leistungsvermögen des Klägers.

Aus dem Gutachten von Prof. Dr. S. vom 10. Oktober 2018 ergibt sich kein auf weniger als sechs Stunden täglich gesunkenes Leistungsvermögen, sofern die o.g. qualitativen Leistungseinschränkungen beachtet werden. Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, dass Tätigkeiten, die mit leichter körperlicher Belastung und regelmäßigen Ruhepausen einhergehen, von dem Kläger noch durchgeführt werden könnten. Damit bejaht er prinzipiell eine sechsstündige Leistungsfähigkeit mit qualitativen Einschränkungen. Soweit er die psychische Bereitschaft hierzu als limitierenden Faktor eingeschätzt hat, überzeugt das den Senat nicht, da er dies nicht näher untermauert hat. Der langjährige Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung rechtfertigt diese Einschätzung ohne Hinzutreten weiterer bedeutsamer Umstände, die hier nicht vorliegen, jedenfalls nicht. Schwerwiegende psychische Gesundheitsstörungen des Klägers sind nicht erkennbar. In entsprechender Behandlung befindet er sich ebenfalls nicht.

Bei dem Kläger liegt seit dem 1. Juni 2015 auch weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die trotz des Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich zur Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen würden. Die Beklagte war daher nicht verpflichtet, einen konkreten Arbeitsplatz zu benennen. Das Restleistungsvermögen des Klägers reicht vielmehr noch für leichte körperliche Verrichtungen wie z.B. Zureichen, Abnehmen, leichte Reinigungsarbeiten ohne Zwangshaltungen, Kleben, Sortieren, Verpacken und Zusammensetzen von Teilen aus (vgl. die Aufzählungen in dem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 -, SozR 3-2600 § 44 SGB VI Nr. 8 = BSGE 80, 24, 33f.; in der Anwendbarkeit auf die aktuelle Rechtslage bestätigt im Urteil des BSG vom 19. Oktober 2011 - B 13 R 78/09 R -, juris). Das BSG geht in seinem Urteil vom 11. Dezember 2019 - B 13 R 7/18 - weiterhin von dem Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes aus und hält daran fest, dass Versicherte, die nur noch körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten - ggf. unter weiteren gesundheitlichen Einschränkungen - wenigstens sechs Stunden täglich verrichten können, regelmäßig in der Lage sind, "erwerbstätig zu sein" (juris, RdNr. 26 ff.).

Der Senat ist auch überzeugt, dass bei dem Kläger kein Katalog- oder Seltenheitsfall vorliegt, der zu einer Verschlossenheit des allgemeinen Arbeitsmarktes führen könnte. Der Arbeitsmarkt gilt auch dann als verschlossen, wenn einem Versicherten die so genannte Wegefähigkeit fehlt; zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können (vgl. GS BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996, a.a.O., zu Katalogfall 2). Dabei ist ein abstrakter Maßstab anzuwenden. Ein Katalogfall liegt nicht vor, soweit ein Versicherter täglich viermal Wegstrecken von knapp mehr als 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Mobilitätshilfen benutzen kann. Aus Sicht des Senats bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger mit den bei ihm vorliegenden Erkrankungen nicht viermal täglich knapp mehr 500 m in 20 Minuten zurücklegen könnte. Dr. H. hat keine relevante Einschränkung der Gehfähigkeit des Klägers festgestellt. Sie hat nachvollziehbar eingeschätzt, dass der Kläger noch mehr als 500 m ohne unzumutbare Beschwerden und ohne lange Pausen in weniger als 20 Minuten viermal täglich zu Fuß zurücklegen und für den Weg zur Arbeit öffentliche Verkehrsmittel benutzen kann. Außerdem besitzt der Kläger einen Führerschein und fährt seinen PKW auch selbst. Die Aussage von Prof. Dr. S., gegenwärtig sei der Kläger nicht in der Lage, 500 m zu gehen, beruht offensichtlich im Wesentlichen auf der Mitteilung des Klägers, er könne seit mehreren Jahren nur noch 50 m gehen, bevor eine Belastungsdyspnoe auftrete. Prof. Dr. S. hat es versäumt, diese subjektive Angabe des Klägers kritisch zu hinterfragen. Eine objektive Gehstreckenbewertung hat der Sachverständige ebenfalls nicht durchgeführt. Deshalb kann der Senat dessen Einschätzung insoweit nicht zugrunde legen.

Andere Katalog- oder Seltenheitsfälle im Sinne der Rechtsprechung des BSG kommen hier schon vom Ansatz her nicht in Betracht. Der Kläger ist seit dem 1. Juni 2015 (wieder) in der Lage, körperlich leichte Arbeiten im gelegentlichen Haltungswechsel von Gehen, Stehen und Sitzen unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen vollschichtig (acht Stunden täglich) an fünf Wochentagen zu verrichten. Soweit der Kläger meint, seine Einschränkungen stünden nicht im Einklang mit den üblichen betrieblichen Bedingungen, andererseits aber vorträgt, entsprechende Arbeitsplätze seien von seinem Wohnort weit entfernt und für ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht erreichbar, ist dies widersprüchlich. Denn mit diesem Vortrag scheint der Kläger zu meinen, es gäbe seinem Leistungsvermögen entsprechende Arbeitsplätze, nur nicht in der Nähe seines Wohnortes. Dieser Widerspruch kann jedoch dahinstehen, denn wegen des Nichtvorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung sowie einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen sowie eines Katalog- oder Seltenheitsfalles muss im Fall des Klägers keine konkrete Tätigkeit benannt werden. Denn er ist gesundheitlich in der Lage, die oben genannten leichten körperlichen Verrichtungen auszuführen; Wegefähigkeit ist ebenfalls gegeben (s. soeben). Im Übrigen wäre, falls tatsächlich eine konkrete Tätigkeit benannt werden müsste, ein bundesweiter Maßstab anzulegen (BSG, Urteil vom 26. April 2007 - B 4 R 5/06 R -, juris, RdNr. 18).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage, ohne dass der Senat von einer Entscheidung der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht.
Rechtskraft
Aus
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