L 13 VG 66/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 Vg 74/97
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 66/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Oktober 1998 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1976 in B geborene Kläger türkischer Herkunft, der die deutsche Staatsangehörigkeit seit 1992 besitzt, beantragte im Februar 1996 bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Zur Begründung machte er geltend, er sei am 22. Dezember 1995 gegen 19.00 Uhr im U-Bahnhof Kurfürstenstraße bei einer tätlichen Auseinandersetzung zweier Personen, deren Anlass ihm nicht bekannt gewesen sei, als unbeteiligter Dritter niedergeschossen worden. Bei dem Täter, mit dem er in keinem besonderen Verhältnis stünde (Bekannter etc.), habe es sich entweder um den Mesut A (im Folgenden Schädiger genannt) oder um den Mehmet A gehandelt. Folge der Gewalttat sei eine komplette Querschnittslähmung mit Blasen- und Mastdarmlähmung. Vor der Gewalttat habe er sich in der Ausbildung zum Maler und Lackierer befunden.

Der Beklagte zog die Ermittlungs- bzw. Strafakten zum Aktenzeichen 1 KapJS 2745/95 bei. Aus dem darin befindlichen Urteil der 7. Großen Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Berlin vom 24. September 1996, welches seit dem 2. Oktober 1996 rechtskräftig ist, ergibt sich im Wesentlichen folgender Geschehensablauf:

In den frühen Morgenstunden des 22. Dezember 1995 hatten der Schädiger, sein Bruder Mehmet A sowie Ferhat G (im Folgenden F. G. genannt) die Aufgabe, aus einem Kleintransporter frisches Gemüse in einen türkischen Gemüseladen in der Potsdamer Straße/Ecke Kurfürstenstraße in Berlin-Tiergarten zu tragen, in dem sie alle als Aushilfe beschäftigt waren. F. G. erklärte jedoch gegenüber dem Schädiger, er wolle lieber etwas anderes tun. Daraufhin kam es zu einer zunächst verbalen Auseinandersetzung, in die auch der Bruder des Schädigers verwickelt war, in deren Verlauf F. G. die Brüder A u.a. als "Hurensöhne" beschimpfte, was diese als grobe Beleidigung ihrer Mutter auffassten. Es kam zu einem Handgemenge zwischen den Dreien und auch noch zu weiteren Beleidigungen. Der Streit wurde letztlich durch das Einschreiten eines der Inhaber des Gemüseladens dergestalt beendet, dass F. G. von der Arbeitsstelle verwiesen wurde. Dieser verabschiedete sich mit einer drohenden Geste und gab den Brüdern A zu verstehen, dass die Angelegenheit für ihn noch nicht ausgestanden sei, indem er sinngemäß äußerte: "Ihr werdet schon sehen".

Während der Schädiger bis zum Feierabend seiner Arbeit weiter nachging, traf F. G., der auf Rache sann, am späten Nachmittag am U-Bahnhof Leopoldplatz mit Selim Ö (im Folgenden S. Ö. genannt), Muhammer A und Hüseyin D sowie Mesut Y (im Folgenden M. Y. genannt) und dem Kläger zusammen. Ob dieses Treffen verabredet war oder zufällig erfolgte, konnte nicht verlässlich festgestellt werden. Gemeinsam fuhren die genannten Personen, sämtlich zwischen 16 und 19 Jahre alt, mit der U-Bahn zum U-Bahnhof Kurfürstenstraße. Spätestens dort berichtete F. G. seinen Begleitern von dem Streit mit den Brüdern A und dass er diese zur Rede stellen wolle. Einer der Begleiter des F. G. - jedenfalls nicht der Kläger. - führte eine geladene Schreckschusspistole bei sich. In der Folgezeit beobachteten F. G. und einer oder zwei seiner Begleiter die Umgebung der beiden vorhandenen Eingänge des U-Bahnhofs Kurfürstenstraße, um auf das Eintreffen der Brüder A, die - wie F. G. bekannt war - nach der Arbeit gewöhnlich mit der U-Bahn nach Hause fuhren, vorbereitet zu sein. Die übrigen Begleiter warteten im Eingangsbereich des U-Bahnhofs auf die Brüder A, wobei nicht geklärt werden konnte, ob die Begleiter des F. G. die Brüder A körperlich anzugreifen bereit waren, oder ob sie F. G. lediglich für den Fall Rückendeckung geben wollten, dass dieser seinerseits angegriffen würde. Das Verhalten der jungen Männer war jedenfalls so angespannt und auffällig, dass zwei weiteren Personen, nämlich einerseits Aydin T (im Folgenden A. T. genannt), der neben dem türkischen Gemüseladen in einem Imbiss arbeitete, andererseits ein gewisser Dr. M, der den U-Bahnhof über den Eingang Steinmetzstraße betrat, darauf aufmerksam wurden.

Gegen 18.40 Uhr begaben sich die Brüder A zum U-Bahnhof Kurfürstenstraße, die, bevor sie den Eingangsbereich dieses U-Bahnhofs erreichten, noch einmal von A. T., der die beiden bereits zuvor deswegen angesprochen hatte, gewarnt worden waren.

Der Schädiger rechnete schon beim Erreichen des U-Bahnhofs mit einer Auseinandersetzung. Denn nach der ersten von A. T. ausgesprochenen Warnung waren ihm drei Personen vor dem türkischen Gemüseladen aufgefallen, die beobachtend in Richtung des Geschäfts geblickt hatten. Unmittelbar vor dem Eingang zum U-Bahnhof sah er jetzt eine dieser Personen, die er mit Blicken fixierte, um zu erkennen zu geben, dass er "Bescheid weiß". Spätestens jetzt war er sicher, dass die Anwesenheit der Personen ihm galt.

In diesem Wissen und mit der entsprechenden Erwartung betrat der Schädiger den U-Bahnhof durch den Eingang Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße. F. G. oder einer seiner Begleiter hatten dies beobachtet und als der Schädiger und sein Bruder von der Treppe kommend in Richtung Bahnsteig gingen, rannte F. G. aus dem zum Eingang Steinmetzstraße führenden Fußgängertunnel - und damit von hinten - auf die Brüder A zu und versetzte dem Bruder des Schädigers einen Faustschlag.

Sämtliche Einzelheiten des folgenden, sich in wenigen Augenblicken ereignenden Geschehens konnten in dem Strafverfahren nicht verlässlich festgestellt werden. Fest stand zur Überzeugung der Strafkammer jedoch das Folgende:

Der Schädiger, der aufgrund des morgendlichen Streits noch immer auf F. G. wütend war und dessen Wut sich nach dem Angriff des F. G. auf seinen Bruder schnell steigerte, zog sofort die von ihm mitgeführte halbautomatische Selbstladewaffe, um auf F. G. zu schießen. Nicht ausschließbar fielen schon jetzt ein oder mehrere Schüsse aus der von dem Begleiter des F. G. mitgeführten Schreckschusspistole. Der Schädiger schoss aus einer Entfernung von wenigen Metern zwei- oder dreimal in Richtung des F. G., in dessen unmittelbarer Nähe sich jetzt M. Y. befand, wobei der Schädiger auch billigend in Kauf nahm, den M. Y. zu treffen. Mindestens einer der Schüsse traf diesen dann auch, als dieser sich gerade zum Fortlaufen wegdrehte, daran aber durch den ebenfalls zur Flucht ansetzenden F. G. gehindert wurde, weil dieser ihm ungewollt den Fluchtweg versperrte.

Der M.Y. stürzte zu Boden, während der Schädiger, der seinem Naturell entsprechend in hohem Maße erregt war, weiter in Richtung des F. G. und M. Y. zu schießen versuchte. Infolge einer Funktionsstörung des Selbstlademechanismus der Pistole löste sich jedoch zunächst kein weiterer Schuss. Aus Verärgerung hierüber trat der Schädiger, der sich während der Schussversuche immer weiter dem am Boden liegenden M. Y. genähert hatte, diesen gegen den Kopf. Sodann lief der Schädiger zurück auf die Treppe, wo sich auch sein Bruder befand, behob dort die Ladehemmung seiner Waffe, und begab sich erneut zu dem auf dem Boden liegenden M. Y. Unmittelbar neben diesem stehend, gab der Schädiger einen weiteren Schuss in Richtung auf dessen Beine ab.

Auf dem U-Bahnhof war bereits zu Beginn der Schussabgabe ein U-Bahnzug eingefahren, aus dem viele Fahrgäste ausgestiegen waren. Ebenso wie einige der Begleiter von F. G. realisierten auch die Fahrgäste auf dem belebten Bahnsteig erst spät, dass tatsächlich eine scharfe Schusswaffe zum Einsatz kam. Die Fahrgäste warfen sich jetzt zu Boden bzw. suchten hinter Pfeilern Schutz. Die Begleiter von F. G. traten die Flucht an, wobei weiterhin aus der Schreckschusspistole geschossen wurde.

Der Schädiger verfolgte nun die Person, die die Schreckschusspistole führte, und andere Flüchtende aus der Gruppe um den F. G., die gemeinsam durch die Unterführung in Richtung des Ausgangs Steinmetzstraße liefen. Dazu gehörte auch der Kläger, der als letzter der Flüchtenden lief.

Der Schädiger schoss aus einer Entfernung von ca. 5-6 Metern zweimal in Richtung des flüchtenden Klägers und traf diesen einmal im Rücken, und zwar in einer Höhe von 128, 5 cm sowie etwa 7 cm links von der Wirbelsäule. Bei der Abgabe der Schüsse nahm der Schädiger billigend in Kauf, dass seine Schüsse tödliche Wirkung haben würden. Der Kläger erlitt einen Brustkorbdurchschuss und eine Streifschussverletzung am rechten Oberarm. Der fast waagerecht verlaufende von hinten nach vorn leicht ansteigende Brustkorbdurchschuss verursachte Verletzungen aller drei Lungenlappen rechts, einen ausgeprägten Hämatothorax rechts sowie einen Trümmerbruch des IX. Brustwirbelkörpers. Die Verletzungen führten zur Ausbildung einer kompletten Querschnittslähmung vom IX. Brustwirbelkörper abwärts. Der Kläger musste bis zum 25. Mai 1996 stationär im Krankenhaus behandelt werden. Chancen auf eine Wiederherstellung seiner Gesundheit bestehen nicht.

Das Landgericht Berlin verurteilte den Schädiger u.a. wegen versuchten Totschlags zum Nachteil des Klägers zu einer Jugendstrafe.

Die Kammer ging dabei davon aus, dass der Schädiger bei der Abgabe der beiden Schüsse auf den Kläger mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, da er die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts (Tötung eines Menschen) erkannt und diesen Erfolg billigend in Kauf genommen habe. Diese Billigung ergebe sich daraus, dass der Schädiger trotz der von ihm erkannten äußersten Gefährlichkeit des Feuerns mit einer großkalibrigen Schusswaffe aus relativ kurzer Entfernung auf einen Menschen die Schüsse abgab und es hierbei dem Zufall überließ, ob sie tödliche Wirkung haben würden oder nicht. Dies gelte umso mehr, als er ein ungeübter Schütze war und sich dessen auch bewusst war. Er habe gehandelt, ohne auf einen glücklichen Verlauf vertrauen zu können, um seiner angestauten Wut Ausdruck zu verleihen, wobei es ihm letztlich gleichgültig war, ob der Kläger tödlich getroffen würde oder nicht. Zu dieser Überzeugung kam die Kammer, obwohl der Schädiger in der Hauptverhandlung angegeben hatte, bei den Schüssen auf den Kläger gezielt in Richtung der Beine geschossen und sich hierbei sogar in eine gebückte Haltung begeben zu haben. Dieser Auffassung vermochte die Kammer jedoch keinen Glauben zu schenken und stützte sich dabei auf die Angaben des Schädigers in dessen polizeilicher Vernehmung vom 23. Dezember 1995, in der dieser ohne konkrete Beschreibung erklärt hatte, er habe in die Richtung des davonlaufenden Klägers gefeuert. Auf den damaligen Vorhalt, dass der Kläger an seinen Verletzungen noch sterben könne, habe er mit der Gegenfrage geantwortet, was er dazu sagen solle, ob er weinen solle. Es sei ihm "scheißegal" gewesen. Im Übrigen spreche auch die Lage des Einschusses im Rücken des Klägers sowie der Umstand, dass der Kläger deutlich größer gewesen sei als der Schädiger gegen die Version des Schädigers. Zudem habe S. Ö. bekundet, dass der Schädiger stehend in die Richtung der durch die Unterführung davonlaufenden Personen geschossen habe.

Der Beklagte, der den Kläger im Schwerbehindertenbereich wegen der Behinderung "Querschnittslähmung" einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 zuerkannt hatte (Bescheid vom 18. November 1996) lehnte mit Bescheid vom 20. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 1997 den vom Kläger gestellten Antrag ab. Zwar seien die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG erfüllt. Gemäß § 2 Abs. 1 OEG seien Leistungen jedoch zu versagen. Ausweislich der Ermittlungsunterlagen, deren Ergebnis sich auch in der Begründung des Strafurteils wiederfänden, sei festzustellen, dass der Kläger sich wissentlich in eine Gefahrensituation begeben habe. Von seinem Freund, F. G., hätte er bereits erfahren, dass es zwischen diesem und zwei Arbeitskollegen am Vormittag zu einem Streit gekommen sei. Er, der Kläger, hätte den Eintritt des Schadens vermeiden können, wenn er gar nicht zum U-Bahnhof Kurfürstenstraße mitgefahren wäre. Gleichwohl hätte er aufgrund der Informationen seines Freundes mit einer tätlichen Auseinandersetzung, in der auch Waffen eingesetzt werden würden, rechnen müssen.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger obsiegt. Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 1998 den Beklagten unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheides vom 20. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juni 1997 verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen der am 22. Dezember 1995 erlittenen Gewalttat Be-schädigtenversorgung nach dem OEG ohne Anwendung der Versagung gemäß § 2 Abs. 1 OEG zu gewähren. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass der strafrechtlich festgestellte Sachverhalt die Versagung nach § 2 Abs. 1 OEG nicht rechtfertige. Es habe sich nicht der Nachweis ergeben, dass der Kläger mit einer tätlichen Auseinandersetzung, in der auch Waffen eingesetzt würden, rechnen musste. Die Einlassung des Klägers, er habe von der Schreckschusspistole vor ihrer Benutzung auf dem U-Bahnhof nichts gewusst, sei unwiderlegbar. Erst recht lasse sich nicht nachweisen, dass er von der Pistole des Schädigers gewusst ha-be. Womit er habe rechnen müssen, sei eine verbale - und vielleicht auch tätliche in Form einer Schlägerei - Auseinandersetzung zwischen F. G. und den Brüdern A - mit der möglichen Folge, dass die Begleiter von F. G. in die verbale Auseinandersetzung bzw. Schlägerei einbezogen würden, gewesen. Mit der Gefahr, im Rahmen der Auseinandersetzung als Flüchtender durch Pistolenschüsse in den Rücken verletzt zu werden, habe der Kläger nicht rechnen müssen. Dies Ergebnis stünde auch im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. November 1979 (9 RVg 2/78) sei kein Raum für die Annahme eines vorwerfbaren Ausharrens in einer Gefahrenlage bzw. eines vorwerfbaren Sichbegebens in eine Gefahrenlage, wenn der Täter seine Gewalttat überraschend wie ein Blitz aus heiterem Himmel begehe. Entsprechendes gelte nach dem Urteil des BSG vom 26. Juni 1985 (9 a RVg 6/84), wenn der Geschädigte nur mit einer verbalen Auseinandersetzung, nicht aber mit einer extrem brutalen und letztlich zum Tode führenden Gewalttat rechnen konnte. Die Beweislast dafür, dass die tatsächlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 OEG vorlägen, treffe laut Urteil des BSG vom 18. Juni 1996 (9 RVg 7/94) den Beklagten.

Gegen den ihm am 20. November 1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 27. November 1998 Berufung eingelegt.

Es sei zwar nicht zu beanstanden, dass das Sozialgericht sich in seiner Entscheidung in tatsächlicher Hinsicht auf das Beweisergebnis des Strafverfahrens gestützt habe, wobei der Beklagte jedoch auf das Urteil des BSG vom 25. März 1999 (B 9 VG 1/98 R) hinweisen wolle.

Entscheidend sei aber, dass entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ein Versagungsgrund nach § 2 Abs.1 OEG vorläge. Der Kläger habe mit mehreren Freunden den Brüdern A aufgelauert. Dass nur eine verbale Auseinandersetzung zu erwarten gewesen sei, sei nach dem bekannten Sachverhalt nicht glaubhaft. Die tätliche Auseinandersetzung sei von der Gruppe des Klägers ausgegangen. Zumindest eine Schreckschusspistole sei auf deren Seite benutzt worden. Mit Verletzungen sei auf jeden Fall zu rechnen gewesen. Er - der Beklagte - vermöge nicht zu erkennen, dass der Schädiger eine "Gewalttat aus heiterem Himmel" begangen habe und der Kläger unschuldiges Opfer der Tat gewesen sei. Eine Entschädigung nach dem OEG sei daher sinnwidrig und ungerecht.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. Oktober 1998 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er ist auch weiterhin der Auffassung, dass der von ihm geltend gemachte Anspruch zu Recht bestehe. Er habe sich mit weiteren Jugendlichen und Heranwachsenden auf dem U-Bahnhof Leopoldplatz getroffen und es sei im Gespräch gewesen, ins Kino zu gehen oder spazieren zu fahren. Er habe von F. G., wenn überhaupt, lediglich die Information erhalten, dass dieser mit dem Schädiger reden wolle. F.G habe lediglich berichtet, dass er am Vormittag eine verbale Auseinandersetzung mit dem Schädiger gehabt habe. Gegen die Annahme, dass er, der Kläger, mit einer tätlichen Auseinandersetzung habe rechnen müssen, spreche, dass die Mitglieder der Gruppe sich untereinander kaum kannten. Dass Waffen eingesetzt werden sollten bzw. solche mitgeführt worden seien, habe er nicht gewusst. Auch nach den Feststellungen des Strafgerichts sei F. G. plötzlich auf den Schädiger losgerannt. Er sei - wie die übrigen Begleiter des F.G. - von dieser Entwicklung gänzlich überrascht worden. Der Beklagte könne auch nicht nachvollziehbar darlegen, warum er einerseits mit dem Einsatz von Waffen habe rechnen sollen, er andererseits selbst - ebenso wie die übrigen Beteiligten - indes keinerlei Waffen bei sich getragen habe. Denn alle Begleiter hätten bis auf denjenigen, der wohl die Schreckschusspisto-le bei sich getragen habe, keinerlei Reaktionen aggressiver Art gezeigt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen. Die Gerichtsakte und die den Kläger betreffenden Akten des Beklagten (Versorgungsakte, Justizhandakte sowie Schwerbehindertenakte) sowie die Akten der Staatsanwaltschaft I bei dem Landgericht Berlin - 1 KapJS 2745/95 - (Band I bis IV) lagen dem Senat bei seiner Entscheidung vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG. Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. In § 9 BVG sind die einzelnen Versorgungsleistungen genannt.

Die Beteiligten gehen zu Recht übereinstimmend davon aus, dass der Kläger am 22. Dezember 1995 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist, in dessen Folge er seither querschnittsgelähmt ist. Dieses Ergebnis folgt jedoch nicht bereits daraus, dass der Beklagte im angefochtenen "Versagungsbescheid" das Vorliegen einer Gewalttat im Sinne von § 1 OEG festgestellt hat. Diese Anerkennung entfaltet vielmehr als rechtlich unselbständiges Begründungselement der Antragsablehnung weder Tatbestandswirkung noch materielle Bestandskraft (BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 8). Vielmehr ist entscheidend, dass der Senat aufgrund einer eigenständigen Würdigung der tatsächlichen Feststellungen des bereits zitierten Strafurteils, die er im Wege des Urkundsbeweises verwertet hat, zu dieser Auffassung gelangt ist. Denn er ist ebenso wie der Beklagte nach der ständigen Rechtsprechung des BSG - unab-hängig von der strafgerichtlichen Beurteilung der Tat - zu einer eigenständigen Würdigung befugt, worauf der Beklagte auch zutreffend unter Berufung auf das Urteil des BSG vom 25. März 1999 (B 9 VG 1/98 R) hingewiesen hat.

Der Anspruch auf Versorgung wird hier auch - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht durch § 2 Abs. 1 OEG ausgeschlossen. Nach der genannten Vorschrift sind Leistungen zu ver-sagen, wenn der Geschädigte die Schädigung (mit-) verursacht hat (1. Alternative) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in seinem eigenen Verhalten liegenden Gründen unbillig wäre (2. Alternative), Entschädigung zu gewähren. Keine dieser Alternativen ist im vorliegenden Fall gegeben.

Wesentlich mitverursacht im Sinne des § 2 Abs. 1 1. Alternative OEG (als Sonderfall der Unbilligkeit) hat das Opfer die Schädigung, wenn sein Verhalten in etwa dem Tatbeitrag gleichwertig ist. Ein Leistungsausschluss ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des Tatopfers von der Rechtsordnung in ähnlicher Weise wie das des Angreifers missbilligt wird (BSGE 72, 136, 137). Das Opfer muss durch seinen Tatbeitrag auch subjektiv - bewusst und gewollt - rechtsfeindlich gehandelt haben (BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr.4). Nicht jede Mitverursachung schließt die Entschädigung für Schäden aus, die nach einem ungewöhnlichen Geschehensablauf und in unvorhergesehener Höhe eingetreten sind (BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 5). Das Opfer muss erkannt haben, dass es durch sein Verhalten zu einer derartigen Schädigung kommen konnte (vgl. BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 4).

Grundsätzlich müssen die Voraussetzungen des Versagungsgrundes bewiesen sein. Hierfür reicht eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit aus, die ernste, vernünftige Zweifel ausschließt (BSGE 32, 207; 40, 23, 27). Nach dem Grundsatz der objektiven Beweis- und Feststellungslast, wonach jeder Beteiligte die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen, geht eine verbleibende Ungewissheit - unabhängig von der Stellung des Beteiligten im Verfahren - zu dessen Lasten. Die Nichtaufklärbarkeit der Voraussetzungen eines Versagungsgrundes geht zu Lasten des Beklagten. Dies gilt auch für die Frage, ob die Mitverursachung durch das Tatopfer wesentlich im Sinne des entschädigungsrechtlichen Ursachenbegriffs war. Es ist somit - solange aufgrund aller Umstände kein gegenteiliger Tatbestand nachgewiesen ist - nicht von einer wesentlichen Mitverursachung auszugehen. Den Beklagten trifft auch die Beweislast, dass das Verhalten des Opfers schuldhaft war, dass das Verschulden des Opfers gleichschwer zu bewerten ist wie das des Täters und dass das Opfer mit einer derartigen Schädigung hätte rechnen können (BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 4).

Nachdem im vorliegenden Fall der unbewaffnete Kläger sich bereits auf der Flucht befand, als die mit Tötungsvorsatz abgefeuerten Schüsse ihn trafen, kommt als Anknüpfungspunkt für eine wesentliche Mitverursachung durch ihn lediglich sein der Flucht unmittelbar vorangehendes Verhalten in Betracht.

Eine Strafbarkeit des Klägers liegt nicht vor. Ernsthaft erwogen werden könnte eine solche ohnehin hier nur unter dem Gesichtspunkt einer Mittäterschaft bzw. einer (möglicherweise auch lediglich psychischen) Beihilfe zu der von F.G. begangenen Körperverletzung zum Nachteil des Mehmet A. Eine Mittäterschaft scheitert aber bereits an der Nichterweislichkeit eines gemeinsamen Tatplans. Denn der Tatentschluss eines jeden Mittäters hätte auf die gemeinsame Begehung der Körperverletzung dergestalt gerichtet sein müssen, dass jeder Beteiligter als gleichberechtigter Partner des anderen mit diesem die Tat gemeinsam durchführen wollte. Im vorliegenden Fall konnte durch die Strafkammer nicht geklärt werden, ob die Begleiter des F.G. - und damit auch der Kläger - bereit waren, die Brüder A anzugreifen, oder ob sie dem F.G. lediglich für den Fall Rückendeckung geben wollten, dass dieser angegriffen werden soll-te. Der Kläger selbst hat im vorliegenden Rechtsstreit sich unwiderlegbar dahingehend eingelassen, dass er von dem Angriff des F.G. überrascht worden sei.

Gleiches gilt für die Teilnahme. Eine Beihilfehandlung. setzt voraus, dass der Gehilfe Vorsatz hinsichtlich einer bestimmten Straftat durch den Haupttäter hat. Dieser kann dem Kläger aber gerade nicht nachgewiesen werden.

Da dem Kläger ebenfalls nicht nachgewiesen werden kann, dass er davon wusste, dass einer der Begleiter von F.G. eine Schreckschusswaffe mit sich führte, geschweige denn, dass er Vorsatz hinsichtlich des Einsatzes einer solchen Waffe hatte, scheidet auch eine Strafbarkeit wegen (Mit)täterschaft oder Teilnahme an einer Nötigungshandlung zum Nachteil des Schädigers bzw. auch dessen Bruders aus.

Selbst wenn der Kläger jedoch eine einfache Köperverletzung oder eine Nötigung - sei es als (Mit)täter oder Teilnehmer - begangen haben sollte, liegt eine wesentliche Mitverursachung nicht vor. Der vom Schädiger begangene und abgeurteilte versuchte Totschlag steht in keinem Verhältnis zu einer möglichen Bestrafung wegen einer einfachen Körperverletzung oder einer Nötigung. So hat das BSG in Fällen einer vorsätzlichen Tötung Beleidigungen oder Provokati-onen - auch schwerwiegende - keineswegs als gleichwertig erachtet.(BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 5). Tötungshandlungen sind nach deutschem Strafrecht unter schwere Strafandrohungen gestellt. Die natürliche Hemmschwelle für Tötungshandlungen liegt bei einem geistig gesunden Menschen - unabhängig von der Strafandrohung - sehr hoch. Auch derjenige, der einen anderen schwer beleidigt oder provoziert, muss nicht damit rechnen, dass er damit sein Leben aufs Spiel setzt ( BSG, a.a.O.) Nichts anderes kann für den Fall einer vorausgegangenen einfachen Körperverletzung oder Nötigung gelten, wobei es ohne Bedeutung ist, dass die Tötungshandlung vorliegend im Versuch stecken geblieben ist.

Auch ohne eine Straftat begangen zu haben, kann der Tatbeitrag eines Opfers jedoch auch dann wesentlich mitursächlich im Sinne des § 2 Abs. 1 1. Alternative OEG sein, wenn sich das Opfer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d.h. grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch die schuldhafte Herausforderung des Angriffs (SozR 3-3800 § 2 Nr. 9; SozR 3-3800 § 2 Nr. 3; SozR 3800 § 2 Nr. 2). Nicht anders ist ein Geschädigter zu behandeln, der sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar und möglich wäre. Zur Beurteilung der hier allenfalls in Betracht kommenden groben Fahrlässigkeit des Klägers ist ähnlich wie im Strafrecht ein subjektiver Maßstab anzulegen und dabei zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten sowie den Umständen des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte, weiter, ob das Opfer mit einer Gewalttat rechnen musste. Auch diese Voraussetzungen für eine Mitverursachung der Schädigung durch das Opfer liegen nicht vor.

Es ist dem SG in seiner Bewertung beizupflichten, wonach der Kläger aus seiner Sicht mit einer derartigen Eskalation der Gewalt nicht zu rechnen brauchte. Die Einlassung des Klägers, F.G. habe nur mitgeteilt, es sei während des Streites am Vormittag nur zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen und er, F.G., wolle den Schädiger zur Rede stellen, konnte nicht widerlegt werden. Da dem Kläger - wie bereits ausgeführt- auch nicht zu widerlegen war, dass er von der Schreckschusspistole wusste, muss davon ausgegangen werden, dass ihm zur Einschätzung der auf ihn zukommenden Gefahrensituation wesentliche Informationen fehlten.

Für den Anspruch auf Gewaltopferentschädigung könnte es allerdings Bedeutung haben, wenn der Kläger den Schädiger als gewalttätig bzw. leicht erregbar eingeschätzt hätte. Dies konnte der Senat indessen nicht feststellen. Der Kläger hat nicht nur bei Antragstellung gegenüber dem Beklagten, sondern auch bereits von Beginn des Rechtsstreites an immer wieder betont, den Schädiger vorher nicht gekannt zu haben. Diese Einlassung des Klägers ist nicht zu widerlegen.

Der Kläger musste daher mit einem so plötzlichen, brutalen und unverhältnismäßigen Angriff des Schädigers auf sich nicht rechnen, zumal er, als er die Gefährlichkeit der Situation erkannte, sofort flüchtete. Das Verhalten des Klägers hat daher nur untergeordnete Bedeutung für die Schädigung, ist mithin nicht mitursächlich.

Der Anspruch des Klägers auf Versorgung ist auch nicht nach der 2. Alternative der o.g. Vorschrift wegen Unbilligkeit ausgeschlossen. Dieser Versagungsgrund liegt vor, wenn es nicht wegen einer die Schwelle der Mitverursachung erreichenden Tatbeteiligung des Opfers, sondern aus sonstigen, insbesondere in seinem eigenen Verhalten liegenden Gründen, unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (BSGE 58, 214, 216; SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 2). Hat der Tatbeitrag des Opfers - wie hier - die Schwelle der Mitverursachung nicht erreicht, so kann er im Rahmen der 2. Alternative nicht allein, sondern nur aus sonstigen, zusätzlichen Gründen zur Unbilligkeit von Versorgungsleistungen führen (BSGE 66, 115, 117 f). Es können jedoch nur solche Umstände zur Unbilligkeit führen, die dem in der 1. Alternative der o.g. Vorschrift genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen (BSGE 72, 136, 137). Solche zusätzlichen Gründe liegen hier nicht vor; das gesamte relevante Verhalten des Klägers steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gewalttat und ist damit erschöpfend berücksichtigt.

Der Senat sieht auch keine Veranlassung, weitere Ermittlungen zum Tathergang anzustellen. Die Staatsanwaltschaft und die Jugendkammer des Landgerichts Berlin haben den Sachverhalt umfassend aufgeklärt, soweit dies möglich war. Alle Beteiligten legen diese Beweisaufnahme ihrer Würdigung zugrunde, und auch der Beklagte beantragt keine weitere Sachverhaltsaufklärung oder eine erneute Zeugenvernehmung. Zusätzliche Ermittlungen sind nur dann erforderlich, wenn ein entscheidungsrechtlich bedeutsamer Sachverhalt sich aus den Feststellungen des Strafurteils nicht ergibt, weitere Beweismöglichkeiten zur Verfügung stehen oder die Beteilig-ten eine erneute Vernehmung von Zeugen - etwa wegen begründeter Zweifel an der Glaubwürdigkeit - anregen (BSG SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 6). All dies ist vorliegend nicht der Fall.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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