S 23 KR 659/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
23
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 23 KR 659/03
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 10.02.2002 und des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2003 verurteilt, dem Kläger entstandene Kosten für ihm von einem Vertragsarzt verordnete Medikamente mit dem Wirkstoff Cabergolin zu übernehmen. Dem Kläger durch das Verfahren notwendig entstandene Kosten hat ihm die Beklagte auf Antrag zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger ist 1948 geboren, bei der Beklagten krankenversichert und leidet am restless-legs-syndrom (RLS), einer mit Schlafstörungen verbundenen neurologischen Erkrankung.

Im Juli 2002 wandte er sich unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 19. März 2002, Az: B 1 KR 37/00 R, mit einer "Anmerkung" seiner behandelnden Neurologin Dr. V. vom 24.06.2002 über die bisherigen Behandlungen und deren Wirkungen an die Beklagte mit der Bitte um – weitere – Übernahme der Kosten des (nur) für die Behandlung des Morbus Parkinson zugelassenen Medikaments "Cabaseril" mit dem Wirkstoff Cabergolin.

Die Beklagte stellte Dr. V. dazu eine Reihe von Fragen, die sie mit Schreiben vom 05.08.2002 beantwortete. Sodann holte die Beklagte eine Stellungnahme des MDK ein, für den Dr. G.-O. am 16.08.2002 meinte, die vom BSG am 19.03.2002 aufgestellten Voraussetzungen seien mangels genügender Schwere der Erkrankung des Klägers nicht erfüllt.

Darauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.10.2002 eine Kostenübernahme ab.

Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, daß er mit dem krankheitsbedingten Verlust seiner Arbeit und der Unfähigkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen, doch eine sehr starke Beeinträchtigung seiner Lebensqualität empfinde.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.02.2003 unter Berufung auf §§ 27, 31, 2, 12 SGB V, die Rechtsprechung des BSG und die eingeholte Stellungnahme des MDK zurück: Das RLS des Klägers sei keine schwerwiegende Erkrankung.

Hiergegen richtet sich die Klage, zu deren Begründung der Kläger vorgebracht hat, daß er nach zuvor nur erfolgloser Behandlung erst mit Cabergolin Linderung erfahren und nach 1 ¾ Jahren Arbeitslosigkeit wieder eine Vollbeschäftigung in seinem Beruf gefunden habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 02.10.2002 und den Widerspruchsbescheid vom 28.02.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Kosten des ihm verordneten Medikaments mit dem Wirkstoff Cabergolin zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, daß die dritte vom BSG aufgestellte Voraussetzung – daß aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann – nicht erfüllt sei; sie hat sich dazu auf eine weitere Stellungnahme von Dr. G.-O. vom 07.05.2004 bezogen, wonach es sich beim RLS um eine häufige Erkrankung handele, bei der veröffentlichte Phase-III-Studien im Zusammenhang mit einem Zulassungsbemühen als wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis gefordert werden könnten, bis dato aber nicht vorlägen.

Das Gericht hat vom Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) ein von der Neurologin Dr. St. für den MDK Berlin-Brandenburg erstelltes "Grundsatzgutachten" vom August 2002 beigezogen, einen Bericht von Dr. V. vom 30.05.2003 eingeholt und den Nervenarzt Dr. F. aufgrund ambulanter Untersuchung des Klägers vom 18.12.2003 das Gutachten vom 18.02.2004 erstatten lassen; wegen dessen Inhalts sowie weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten bezug genommen.

II.

Die Klage ist zulässig und auch in der Sache begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch darauf, daß die Beklagte Kosten ihm von einem Vertragsarzt verordneter Medikamente mit dem Wirkstoff Cabergolin übernimmt. Dieser Anspruch folgt aus §§ 27, 31 SGB V i.V.m. § 13 Abs 3 SGB V.

Mangels Zulassung von Cabergolin für die Behandlung von RLS handelt es sich allerdings um einen sog. off-label-use; ein solcher ist aber (vgl. BSG 19. März 2002, Az: B 1 KR 37/00 R = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 = BSGE 89, 184 = SuP 2002, 661 = Pharma Recht 2002, 371 = NZS 2002, 646 = NJW 2003, 460 = SGb 2003, 102 = KH 2003, 563) ausnahmsweise auch zulasten der Krankenkasse zulässig, wenn

(1) es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,

(2) keine andere Therapie verfügbar ist und

(3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Die Erfüllung dieser dritten Voraussetzung erfordert, daß Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann; davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (vgl. BSG a.a.O.).

Mit dem Gutachten vom 18.02.2004 ist geklärt, daß im Falle des Klägers alle drei Voraussetzungen erfüllt sind:

Zunächst unterliegt es nach dem Bericht von Dr. V. vom 30.05.2003 und dem Ergebnis des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen keinem vernünftigen Zweifel, daß das RLS – welches in unterschiedlichen Schweregraden auftreten kann – beim Kläger mit chronischen Schlafstörungen und bis zu gelegentlichen Suizidgedanken reichender depressiver Beeinträchtigung ab Anfang 2001 ein seine Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigendes Ausmaß erreicht hat, ohne daß mit dem einzig für die Behandlung von RLS zugelassenen Medikament Restex oder sonst eine für ihn wirksame Therapie zur Verfügung gestanden hat und die ersten beiden, vom BSG zutreffend aufgestellten Voraussetzungen für einen "off-label-use" zulasten der gesetzlichen Kranken¬ver¬sicherung damit erfüllt sind.

Die erste Alternative der dritten Voraussetzung ist allerdings nach dem derzeitigen Kenntnisstand des Gerichts noch nicht erfüllt; denn für eine Zulassung von Cabergolin für die Behandlung von RLS ausreichende klinische Prüfungen der Phase III sind jedenfalls im Frühjahr 2004 noch nicht vollständig abgeschlossen gewesen und dementsprechend auch ihre Ergebnisse noch nicht veröffentlicht worden.

Die in den Jahren 2000 bis 2002 veröffentlichten, von Dr. F. in seinem Gutachten benannten Studien (Stiasny et al, 2000; dieselben, 2002; dieselben, 2002; Benes et al, 2002) haben aber, wie von ihm dargelegt, über die bereits in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie "Restless Legs Syndrom (RLS) uind Periodic Limb Movement Disorder (PLMD)" nach dem Stand vom 15.05.2002 (http://www.uni-duesseldorf.de/www/awmf/ll/neur-081.htm) als "effektive und insgesamt gut verträgliche Behandlungsmöglichkeit" bezeichnete Behandlung von RLS mit Dopaminagonisten in den einschlägigen Fachkreisen bereits zu einem allgemeinen Konsens über die Wirksamkeit von Cabergolin bei RLS geführt, dem danach ein mindestens voraussichtlich klinisch relevanter Nutzen mit vertretbaren Risiken bei der Behandlung des RLS zukommt.

Damit ist die zweite Alternative der dritten Voraussetzung erfüllt, ohne daß es noch darauf ankäme, wann nun die nach den Angaben des Herstellers des fraglichen Medikaments gegenüber dem Sachverständigen bereits vorliegende weitere Studie veröffentlicht wird und wann seitens des Pharmaunternehmens die Zulassung des Medikaments für die Behandlung von RLS betrieben wird.

Der Erlaß des Gerichtsbescheides beruht auf § 105 SGG; die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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