L 5 R 698/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 7 RJ 665/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 698/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22. November 2004 wird zurückgewiesen.
II. Der Tenor des Gerichtsbescheides wird wie folgt neu gefasst: Die Beklagte wird verurteilt, den Antrag des Klägers auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1968 geborene Kläger ist gelernter Maschinenbauer. Diesen Beruf hat er bis 1990 ausgeübt, war anschließend bis 1993 A.-Werksarbeiter und schließlich von 1993 bis 2003 Baumaschinenführer. Sein Arbeitsverhältnis wurde nach Arbeitsunfähigkeit ab 22.01.2003 zum 30.04.2004 gekündigt. Seither ist er arbeitslos.

Sein Antrag vom 07.07.2003 auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wurde vom Arbeitsamt am 14.07.2003 an die Beklagte weitergeleitet, da der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 11 SGB VI erfülle. Nach dem Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr.F. vom 24.07.2003 leidet der Kläger unter einer generalisierten Angststörung mit depressiver Begleitkomponente. Dr.P. vom Sozialärztlichen Dienst der Beklagten sah hierin eine Minderung der Erwerbsfähigkeit als Baumaschinenführer, nicht hingegen im erlernten Beruf als Maschinenbauer. Zumutbar seien dem Kläger mittelschwere Tätigkeiten zu ebener Erde ohne besonderen Zeitdruck, Schichtdienst, Einwirkung atemreizender Stoffe und besondere Anforderungen an die Verantwortung. Mit Bescheid vom 01.08.2003 lehnte die Beklagte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit sei nicht erheblich gefährdet oder gemindert, weil der Kläger in der Lage sei, eine zumutbare Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin auszuüben. Den Widerspruch vom 28.08.2003 wies sie mit Bescheid vom 17.10. 2003 zurück. Wegen seiner Fähigkeit zu mittelschweren Arbeiten könne er Erwerbseinkommen erzielen.

Nach Einleitung des Klageverfahrens am 27.10.2003 ist der Kläger vom 29.10. bis 03.12.2003 in der Psychosomatischen Klinik Bad N. wegen Angst- und depressiver Störung gemischt sowie eines Tinnitus stationär behandelt worden. Daraus ist er als arbeitsfähig entlassen worden, soweit er im bisherigen Beruf keiner Lärmbelastung über 65 dB ausgesetzt werde. Dr.L. von Seiten der Beklagten hat die Leistungsbeurteilung angesichts der erhobenen Befunde als zu optimistisch beurteilt und an der im Verwaltungsverfahren vorgenommenen Beurteilung festgehalten. Eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben halte er aus sozialmedizinischer Sicht für angezeigt. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und den Psychiater Dr.R. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 22.09.2004 nach ambulanter Untersuchung folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Agoraphobie mit Panikstörung, soziale Phobie, kombinierte Persönlichkeitsstörung, Zwangs- und hypochondrische Störung geringen Krankheitswertes und Tinnitus ohne Hörminderung. Deswegen sei die Erwerbsfähigkeit als Baumaschinenführer gemindert, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne der Kläger noch mittelschwere Tätigkeiten mehr als sechsstündig verrichten, soweit es sich um solche ohne Ansprüche an die nervliche Belastbarkeit, Zeitdruck, Publikumsverkehr und Lärmexposition handele. Das Sozialgericht Regensburg hat die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 22.11.2004 verurteilt, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Erwerbsminderung im Sinne des § 10 Abs.1 Ziffer 1 SGB VI beurteile sich allein anhand der letzten beruflichen Tätigkeit, so dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit als Baumaschinenführer ausreichend sei, um einen Anspruch zu begründen. Ob der Kläger in Verweisungsberufen arbeiten könne, sei unerheblich. Erst im Zusammenhang mit der Auswahl der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei der Begriff der Erwerbsfähigkeit weiter auszulegen. Dies ergebe sich insbesondere aus § 33 Abs.4 Satz 1 SGB IX.

Gegen diesen am 06.12.2004 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 16.12.2004 Berufung eingelegt. Aus § 10 SGB VI ergäben sich keinerlei Hinweise, dass der Begriff der Erwerbsfähigkeit unterschiedlich auszulegen sei. Nach der erstmaligen positiven Definition des Begriffs der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs.1 SGB II sei bei der Prüfung der erheblichen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr auf die bisherige Berufstätigkeit, sondern auf den gesamten Arbeitsmarkt abzustellen. Andere Rechtsauffassungen orientierten sich immer noch an der Regelung in § 1237 RVO.

Die Auslegungsgrundsätze der Rentenversicherungsträger zu den persönlichen Voraussetzungen der Leistungen zur Teilhabe vom 18. Juli 2002 stünden ihrer Rechtsauffassung nicht entgegen, da Punkt 2.5 der Auslegungsgrundsätze im Zusammenhang mit dem in Punkt 2.3 definierten Begriff der Erwerbsfähigkeit zu sehen sei. Dementsprechend sei nicht auf das letzte konkrete Arbeitsverhältnis, sondern auf die gesamte berufliche Bandbreite der zuletzt ausgeübten Tätigkeiten abzustellen. Diesbezüglich werde auch auf ein Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16.11.1990 verwiesen. Da zwischenzeitlich mindestens zwei Verfahren beim Bundessozialgericht zu dieser Problematik anhängig seien (B 5 RJ 1505 R und B 5 RJ 6004 R) werde angeregt, den Ausgang dieser Verfahren abzuwarten.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22.11.2004 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22.11.2004 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 01.08.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 17.10.2003 abzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Akten des Arbeitsamts, der Akten des Sozialgerichts Regensburg sowie der Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Anregung der Beklagten, das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundessozialgerichts in einem vergleichbaren Fall zum Ruhen zu bringen, wird nicht aufgegriffen. Streitgegenstand ist eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, die nach dem Willen des Gesetzgebers zur Überwindung der Einschränkung der Erwerbsfähigkeit nahtlos und zügig zu erbringen ist (§ 10 Abs.1, 12 Abs.1 Ziffer 1 SGB IX). Damit ist eine weitere Verzögerung der Entscheidung über die berufliche Zukunft des seit Anfang 2003 nicht mehr erwerbstätigen Klägers nicht vereinbar.

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 22.11. 2004 ist nicht zu beanstanden. Zutreffend hat es die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 01.08.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.10.2003 verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Das Sozialgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger die Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe erfüllt. Die Beklagte hat noch das ihr zustehende Ermessen hinsichtlich der Art und des Umfangs der Gewährung der Leistung gemäß den §§ 9, 13, 16 SGB VI auszuüben. Der Tenor ist dahingehend zu berichtigen, den Antrag des Klägers auf Teilhabe am Arbeitsleben unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Wenn die rechtlichen Voraussetzungen für die Ermessensbetätigungspflicht vorliegen, hat der Versicherte keinen Anspruch auf eine bestimmte Leistung (§ 54 Abs.4 SGG) - ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null liegt nicht vor -, sondern nur Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs.1 Satz 2 SGB I). Zulässig ist daher allein eine sog. Verpflichtungsbescheidungsklage (hierzu Urteil des Bundessozialgerichts vom 21.03.2001 B 5 RJ 8/00 R m.w.N.). Ob dem Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß § 16 SGB VI zu gewähren sind, steht nicht im Ermessen der Beklagten, sondern ist davon abhängig, dass die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind (§ 9 Abs.2 SGB VI). Nachdem der Kläger die notwendige Wartezeit von 15 Jahren unstreitig erfüllt hat (§ 11 Abs.1 Ziffer 1 SGB VI), sind lediglich die persönlichen Voraussetzungen strittig. Diese erfüllen Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und bei denen voraussichtlich a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wieder hergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann (§ 10 Abs.1 SGB VI). Maßgeblich ist sonach die erhebliche Gefährdung bzw. Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit. Diese ist bereits dann gegeben, wenn der bisherige Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausgeübt werden kann.

Zweifellos setzt § 10 SGB VI keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI n.F. voraus. Dies ergibt sich bereits aus den unterschiedlichen Formulierungen des § 10 Abs.1 Ziffer 2a, b und c SGB VI, wonach bereits eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit für einen Anspruch ausreicht (Ziffer 2a), Einschränkungen des zeitlichen Leistungsvermögens im Sinne des § 43 SGB VI - "teilweise Erwerbsminderung" gemäß Abs.1 Ziffer 2c - also nur alternativ zu prüfen sind. Anknüpfungspunkt für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Rehabilitationsrecht ist nicht das Ausmaß des zeitlichen Leistungsvermögens, sondern die Fähigkeit, den bisherigen Beruf auszuüben.

Dies ergibt sich bereits aus den Auslegungsgrundsätzen der Rentenversicherungsträger zu den persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu Leistungen zur Teilhabe und zur Mitwirkung der Versicherten vom 08.02.1995 in der Fassung vom 18.07.2002. Diese erläutern unter Punkt 2.5, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit dann vorliege, wenn infolge gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine erhebliche und länger andauernde Einschränkung der Leistungsfähigkeit vorliege, wodurch der Versicherte seine bisherige oder zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit nicht mehr oder nicht mehr ohne wesentliche Einschränkungen ausüben könne. Zwar weist die Beklagte auf Ziffer 2.3 dieser Auslegungsgrundsätze hin, wonach die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit Versicherter sei, unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihnen nach ihren Kenntnissen und Erfahrungen sowie ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, Erwerbseinkommen zu erzielen. Relevant ist jedoch im Zusammenhang mit § 10 Abs.1 SGB VI die "Minderung der Erwerbsfähigkeit", die in Ziffer 2.5 ausdrücklich beschrieben ist. Es ist nicht ersichtlich, dass der so definierte Begriff der "Minderung der Erwerbsfähigkeit" ausschließlich auf den Tatbestand des § 10 Abs.1 Ziffer 2a SGB VI beschränkt ist. Aus dem ansteigenden Ausmaß der Erwerbsbeschränkung unter Ziffer 2 von a bis c wird vielmehr deutlich, dass "geminderte Erwerbsfähigkeit" im Sinne der Ziffer 2b nur die "Minderung der Erwerbsfähigkeit" im Sinne der Ziffer 2a sein kann und "geminderte Erwerbsfähigkeit" im Sinne der Ziffer 1 sowohl die der Ziffer 2b als auch der Ziffer 2c umfasst. Zutreffend ist daher zwar nicht auf das letzte konkrete Arbeitsverhältnis, wohl aber auf die gesamte berufliche Bandbreite der zuletzt ausgeübten Tätigkeit abzustellen. Maßgebend ist also der zuletzt ausgeübte Beruf - hier der des Baumaschinenführers -, nicht der allgemeine Arbeitsmarkt.

Die genannten Auslegungsgrundsätze der Rentenversicherungsträger haben nicht den Charakter von Rechtsnormen und keine bindende Wirkung für die Gerichte. Allerdings kommt ihnen ähnlich wie Verwaltungsvorschriften verwaltungsinterne Bedeutung in dem Sinne zu, dass sie eine Selbstbindung der Verwaltung bewirken und dem einzelnen Versicherten einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen Versicherten geben (BSG, Urteil vom 27.02.1980 in SozR 2200 § 1237a Nr.11). Sie halten auch einer gerichtlichen Überprüfung stand.

Laut höchstrichterlicher Rechtsprechung zu der vor dem 01.01. 1992 maßgeblichen Anspruchsnorm für berufliche Rehabilitationsmaßnahmen findet im Rehabilitationsrecht das vom Bundessozialgericht im Zusammenhang mit der Feststellung von Berufsunfähigkeit entwickelte Mehrstufenschema bei der Prüfung von Rehabililtationsmaßnahmen keine Anwendung (BSG vom 22.09.1981, 1 RJ 12/80, BSGE 52, 123 m.w.N.; BSGE 28, 18). Die Zulassung einer Verweisungspraxis liefe der unterschiedlichen Zielsetzung von Rehabilitationsmaßnahmen und Rentengewährung zuwider, führte im Übrigen aber auch zu dem vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis, dass einem Versicherten als Leistung zur Rehabilitation selbst eine Heilbehandlung nicht gewährt werden dürfte, solange er nur an der Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit, aber noch nicht an einer zumutbaren Verweisungstätigkeit gehindert ist. Diese Überlegungen haben nach wie vor Gültigkeit. Dementsprechend findet sich auch in den nach Inkrafttreten der Rentenreform 2001 am 18. Juli 2002 neugefassten Auslegungsgrundsätzen keinerlei Hinweis auf die von der Beklagten gewollte Maßgeblichkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts.

Aufgabe der Leistungen zur Teilhabe ist es, dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken bzw. eine möglichst dauerhafte Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu erreichen (§ 9 Abs.1 Ziffer 2 SGB VI). § 9 Abs.1 Satz 1 Nrn.1 und 2 bilden zwar keine Tatbestandsmerkmale für Leistungsvoraussetzungen; sie haben aber auch nicht nur deklaratorische Bedeutung. Sie sind vielmehr bei der Auslegung und Anwendung der einzelnen Leistungsvorschriften des Abschnitts zu beachten (Kreikebohm in SGB VI, Kommentar, 2. Auflage, § 9 Rz.5). Mit der Verweisung gesundheitlich beeinträchtigter Versicherter auf den Arbeitsmarkt entzieht sich der Versicherungsträger jedoch der Pflicht zur aktiven Abwendung von Auswirkungen dieser Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit. In diesem Sinne haben sowohl das Landessozialgericht Hamburg (Entscheidung vom 08.09.2004, L 1 RJ 22/04) als auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 27.10.2004, L 2 RJ 48/04) ausgeführt, eine Reha-Leistung könne auch nach der Neuregelung der Erwerbsminderungsrenten nicht mit der Begründung versagt werden, der Versicherte sei noch in der Lage, eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu verrichten.

Der Verweis der Beklagten auf das anders lautende Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16.11.1990 (Az.: L 6 J 183/90) vermag nicht zu überzeugen. Die Ablehnung von berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation wurde deshalb für rechtens gehalten, weil der Kläger zuletzt und praktisch ausschließlich eine ungelernte Tätigkeit ausgeübt habe und immer noch in der Lage sei, vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen auszuüben. Der Kläger ist als gelernter Maschinenbauer mit Berufspraxis als Baumaschinenführer zunächst der Ebene der oberen Angelernten zuzuordnen. Ist ihm diese Ebene aus gesundheitsbedingten Gründen verschlossen, ist seine Erwerbsfähigkeit ungleich deutlicher gemindert als die eines leistungsgeminderten Ungelernten, dessen Erwerbsfähigkeit von vornherein beschränkt war. Es mag sein, dass bei ungelernten Arbeitern die Chance, durch berufliche Rehabilitationsmaßnahmen eine Steigerung der Erwerbsfähigkeit zu erreichen, begrenzt ist. Keinesfalls kann deshalb aber vom Grundsatz abgegangen werden, zunächst von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit auszugehen, wenn die bisherige Berufstätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann. Dass das Restleistungsvermögen noch mittelschwere körperliche Tätigkeiten umfasst, kann ebenfalls kein Grund sein, die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu verneinen. Hohe körperliche Anforderungen sind für die moderne Arbeits- und Berufswelt nicht dominierend und entsprechende Fähigkeiten allein garantieren keinen Arbeitsplatz. Die Vermittlungsaussichten in eine neue Arbeitsstelle können allein durch eine berufsfördernde Maßnahme verbessert werden, die nach neuem Recht der Rentenversicherung obliegt. Das Arbeitsamt ist für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nur nachrangig zuständig (§ 22 Abs.2 SGB III). Das Sozialgericht Trier hatte in der von der Beklagten genannten Entscheidung des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz den ungelernten und leistungsgeminderten Fließbandarbeiter in die Zuständigkeit der Arbeitsverwaltung verwiesen.

Mit In-Kraft-Treten des § 8 Abs.1 SGB II ist keine Änderung der Rechtslage hinsichtlich der Verpflichtung der Rentenversicherungsträger verbunden, Leistungen zur Teilhabe im Sinne der §§ 9, 10 SGB VI zu erbringen. Gemäß § 8 Abs.1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Gesetzesbegründung zufolge hat sich der Gesetzgeber an die Formulierung des § 43 Abs.2 SGB VI angelehnt. Dort werden volle und teilweise Erwerbsminderung definiert, die, wie bereits oben dargestellt, nicht gleichzeitig den Anwendungsbereich des § 10 SGB VI determinieren.

§ 8 Abs.1 SGB II hat keine Auswirkungen auf die Begriffsdefinitionen im SGB VI. Die bloße Anlehnung an den Wortlaut des § 43 SGB VI reicht für eine solche Interpretation nicht aus. Der Wortlaut einer Vorschrift gibt nach den allgemeinen Auslegungskriterien allenfalls einen ersten Hinweis und einen Rahmen für eine zutreffende Auslegung. Diese muss sich aber aus dem Bedeutungszusammenhang und den Vorstellungen des Gesetzgebers ergeben.

§ 8 Abs.1 SGB II beinhaltet das zentrale Unterscheidungsmerkmal zum Geltungsbereich des SGB XII. Bis zum 31.12.2004 war die Erwerbsfähigkeit keine Anspruchsvoraussetzung für den Bezug von Sozialhilfeleistungen. Seither wird zwischen erwerbsfähigen und nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unterschieden, wobei für die Erwerbsfähigen das SGB II gilt und die Nichterwerbsfähigen von den Sozialämtern betreut werden. Die Leistungsfähigkeit von Betroffenen als Ausdruck der in § 8 Abs.1 SGB II genannten drei Stunden zumutbarer Arbeitsleistung, die die Erwerbsfähigkeit begründet, ist damit lediglich ein Kriterium zur Feststellung von Hilfebedürftigkeit im Zusammenhang mit Fürsorgeleistungen des Staates.

Im Zusammenhang mit dem In-Kraft-Treten des SGB II hat keine Änderung des Rentenversicherungsrechts stattgefunden. Insbesondere hat der Gesetzgeber keine tiefgreifende Einschränkung bei der Bewilligung von Rehabilitationsleistungen zum Ausdruck gebracht. Vielmehr hat er mit dem vor kurzem erst eingeführten SGB IX deutlich gemacht, dass er der individuellen Ausrichtung von Rehabilitationsmaßnahmen ein besonderes Gewicht beimisst (§§ 1, 4 Abs.1 SGB IX). Zutreffend führt das Sozialgericht aus, dass der Begriff der Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 10 Abs.1 Ziffer 2 SGB VI einen anderen Sinngehalt hat, als im Rahmen des § 10 Abs.1 Ziffer 1 SGB VI. Insoweit wird von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs.2 SGG abgesehen. Ergänzend sei lediglich angemerkt, dass dieses Auseinanderfallen der Begriffe auch die gesonderte Definition in den Auslegungsgrundsätzen der Rentenversicherungsträger unter Punkt 2.3 und Punkt 2.5 erklärt. Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind nicht notwendig darauf ausgerichtet, dem Versicherten die Ausübung des bisherigen Berufs wieder zu ermöglichen. Sie zielen gemäß § 33 SGB IX vielmehr darauf ab, eine angemessene und geeignete Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen. Gemäß § 33 Abs.4 SGB IX sollen dabei Eignung, Neigung, die bisherige Tätigkeit sowie die Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt und, soweit erforderlich, die berufliche Eignung abgeklärt werden. Daraus folgt, dass sich der Anspruch auf Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben nicht ausschließlich an der verminderten Erwerbsfähigkeit im bisher ausgeübten Beruf orientiert. Die bisherige Berufstätigkeit ist lediglich ein Kriterium bei der Auswahl der Fördermaßnahme.

Der Kläger kann seinen zuletzt ausgeübten Beruf, nämlich die zwischen 1993 und 2003 ausgeübte Tätigkeit als Baumaschinenführer, nicht mehr ausüben. Dies hat das Sozialgericht umfassend dargelegt und wird von der Beklagten nicht bestritten. Insoweit wird auf die Entscheidungsgründe erneut Bezug genommen. Keine Rolle spielen dabei die Verhältnisse des letzten konkreten Arbeitsverhältnisses; wegen seiner eingeschränkten psychischen Belastbarkeit sind dem Kläger keinerlei Tätigkeiten im Berufskreis des Baumaschinenführers mehr zumutbar. Neurovegetative Belastbarkeit und psychische Stabilität stellen notwendige Fähigkeiten dar, über die ein Baugeräteführer in jedem Fall verfügen muss. Diesen Anforderungen des anerkannten Ausbildungsberufs nach dem Berufsbildungsgesetz wird der Kläger nicht mehr gerecht. Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, wie sie in § 33 Abs.3 SGB IX enthalten sind, werden die Chancen des Klägers, einen neuen Arbeitsplatz zu erlangen, mit Sicherheit verbessern.

Selbst wenn man der Ansicht der Beklagten folgen wollte, die Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 10 SGB VI sei erst dann erheblich gemindert, wenn lediglich leichte körperliche Arbeiten unter qualitativen Einschränkungen oder zeitlich begrenzt ausgeübt werden könnten, wäre die Berufung zurückzuweisen. Art und Ausmaß der festgestellten Gesundheitsstörungen, Persönlichkeitsstruktur und der Umstand der bereits seit zwei Jahren bestehenden Arbeitslosigkeit bedeuten eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit, wie die Beklagte sie verstanden haben wissen will. Der Kläger bietet von seiner Persönlichkeitsstruktur her Züge einer gewissen Selbstunsicherheit, Zwanghaftigkeit und schwernehmenden Haltung. Zudem bestehen reelle existenzielle Ängste, welche infolge der zwanghaften Züge akzentuiert wahrgenommen werden. Es ist zu einer eigenständigen neurotischen Störung mit vordergründiger Angstsymptomatik gekommen, die laufend therapeutisch behandelt wird. Langjährige Arbeitslosigkeit und fehlende berufliche Perspektive wirken sich bei dieser Konstellation krankheitsverstärkend aus, was eine erfolgreiche Wiedereingliederung gefährdet.

Aus diesen Gründen war die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere erscheint es dem Senat unzweifelhaft, dass sich durch die Definition der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs.1 SGB II keine Änderung der Rechtslage im Rehabilitationsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung ergeben hat.
Rechtskraft
Aus
Saved