L 6 Vs 172/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 13 (16) Vs 174/95
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 Vs 172/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 16.10.1996 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1983 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Auf seinen Antrag stellte der Beklagte wegen der Behinderungen

1. Cerebralschaden mit spastischer Diplegie und Störungen der mentalen Entwicklung

2. Epilepsie

einen GdB von 100 sowie die Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) "H" (Hilflosigkeit) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) fest (Bescheide vom 05.10.1990 und 04.06.1993).

Im Oktober 1994 beantragte der Kläger den Nachteilsausgleich "aG". Der Beklagte holte einen Befundbericht und eine gutachtliche Stellungnahme des behandelnden Kinderarztes Dr. S. ein, der u.a. mitteilte: "Der Junge läuft frei, allerdings in einem spastischen Muster und mühsam. Die Voraussetzungen für aG sind jedoch nicht gegeben." Mit Bescheid vom 16.03.1995 und Widerspruchsbescheid vom 13.06.1995 bezeichnete der Beklagte unter Beibehaltung der übrigen Feststellungen die Behinderungen nunmehr mit

1. Epilepsie

2. Spastische Diplegie, Zustand nach operierten Klumpfüßen beiderseits

3. Geistige Behinderung (Ausgeprägte Poly-Trics mit einer extremen, nicht zu strukturierenden motorischen Unruhe).

Die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" lehnte er ab.

Mit seiner Klage vom 26.06.1995 hat der Kläger vorgetragen, aufgrund seiner Behinderungen könne er kurze Wegstrecken nur mit großer Anstrengung und mit Hilfe seiner Eltern zurücklegen. Beim Gehen sei er wegen seiner geistigen Behinderung örtlich nicht orientiert. Im allgemeinen Straßenverkehr könne er nicht allein laufen; eine ständige Aufsicht der Eltern sei erforderlich. Er sei auch schlecht zu motivieren, auch nur kurze Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Sein Gang sei schleppend, zögernd und vorsichtig und er ermüde beim Laufen sehr schnell.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten uner Aufhebung des Bescheides vom 16.03.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13.06.1995 zu verurteilen, die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht (SG) Münster hat ein Gutachten von dem Neurologen und Psychiater Dr. E. eingeholt. Dieser hat unter dem 21.06.1996 ein schwere geistige Behinderung mit ausgeprägter psychomotorischer Unruhe, eine spastische Paraparese der Beine und ein hirnorganisches Anfallsleiden beschrieben. Eine Gleichstellung mit dem Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten hat er verneint.

Mit Urteil vom 16.10.1996 hat das SG die Klage im wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, daß in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers seit den Feststellungen im Bescheid vom 04.06.1993 keine wesentliche Änderung i.S.d. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eingetreten sei. Zudem könne auch keine Gleichstellung mit einem Querschnittsgelähmten oder Doppeloberschenkelamputierten erfolgen.

Gegen das am 18.11.1996 zugestellte Urteil hat der Kläger am 04.12.1996 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 16.10.1996 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 16.03.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.06.1995 zu verurteilen, ab Oktober 1994 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ("außergewöhnliche Gehbehinderung") festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand mündlicher Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Die angefochtenen Bescheide beschweren den Kläger nicht, da sie nicht rechtswidrig sind (§ 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Vielmehr hat der Beklagte die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" zu Recht abgelehnt.

Entgegen der Auffassung des SG kommt es allerdings nicht darauf an, ob seit der letzten Feststellung des Beklagten im Bescheid vom 04.06.1993 eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers eingetreten ist. Denn einem ablehnenden Verwaltungsakt ist keine Dauerwirkung i.S.d. § 48 SGB X beizumessen (BSG SozR 1300 § 44 Nr. 15; Hauck-Haines, SGB X, § 48 Rdnr. 10; Grüner, Verwaltungsverfahren (SGB X), § 48 Ziff. 6).

Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG".

Nach § 4 Abs. 4 SchwbG hat das Versorgungsamt die Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich festzustellen und das Merkzeichen "aG" in den Schwerbehindertenausweis einzutragen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz (SchwbAwV)). Das Schwerbehindertenrecht legt nicht fest, wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist. Es verweist jedoch auf den durch straßenverkehrsrechtliche Vorschriften definierten Begriff (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz), wonach außergewöhnlich gehbehindert ist, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Fahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind (§ 11, II, 1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO)).

Der Kläger gehört nicht zu dem ausdrücklich in § 11 VV zu § 46 StVO benannten Personenkreis. Er ist diesem Personenkreis auch nicht gleichzustellen.

Gleichstellung erfordert vorrangig, daß bei dem Behinderten, der die Anerkennung als außergewöhnlich gehbehindert anstrebt, in funktioneller Hinsicht eine Einschränkung vorliegt, die der Einschränkung entspricht, die bei dem ausdrücklich bezeichneten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten regelmäßig vorliegt, d.h. er muß in seiner Gehfähigkeit ebenso eingeschränkt sein, die Fortbewegung als solche muß auf das Schwerste eingeschränkt sein (BSG, Urteil vom 06.11.1985, Breithaupt 1985, 335; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 11 und 28; BSG Urteil vom 13.12.1994, 9 RVs 3/94).

Eine solche Einschränkung liegt bei dem Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor. Sowohl der behandelnde Kinderarzt Dr. S. als auch der Sachverständige Dr. E. haben eine außergewöhnliche Gehbehinderung des Klägers nicht aufzeigen können. Diese Beurteilung stimmt auch mit der Überzeugung des Senats nach Inaugenscheinnahme des Klägers in der mündlichen Verhandlung überein.

Der Kläger ist zwar in seinem Gehvermögen eingeschränkt; denn sein Gangbild ist nach den Feststellungen des Dr. E. und des Dr. S. langsam und schleppend, wobei die nach leicht nach innen gerichteten Füße am Boden entlang geschleift werden. Dadurch ist er jedoch nicht so in seiner Gehfähigkeit eingeschränkt wie der o.a. Personenkreis. Dementsprechend gibt auch seine Mutter in dem Widerspruchsschreiben vom 19.03.1995 eine mögliche Gehstrecke von 300 m an, also eine Wegstrecke, die deutlich über der Strecke liegt, die außergewöhnlich Gehbehinderte üblicherweise zurücklegen können (BSG SozR 3870 § 3 Nr. 28; Beschluss des BSG vom 15.02.1995, Az. 9 BH (Vs) 1/94).

Soweit der Kläger für eine solche Wegstrecke erhebliche Zeit benötigt, liegt die Ursache dafür nicht in einer funktionellen Einschränkung der Gehfähigkeit, sondern, wie auch seine Mutter angegeben hat, darin, daß der Kläger wegen seiner geistigen Behinderung mit psychomotorischer Unruhe ständig abgelenkt ist, zum Weitergehen angeleitet und auch ständig überwacht werden muß. Diese Umstände rechtfertigen jedoch nicht die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG". Dieser würde zwar der erforderlichen Begleitperson ihre Aufgabe erleichtern, weil sie den Kläger nur auf einem verkürzten Weg zu überwachen und zu leiten hätte. Das ist aber nicht Sinn des Nachteilsausgleichs, der allein die neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichliche Wegstrecke für Schwerbehinderte abkürzen soll, die sich nur mit außergewöhnlicher und großer Anstrengung zu Fuß fortbewegen können (Urteil des BSG vom 13.12.1994 a.a.O.) Ein Zustand, daß der Kläger wegen der Selbstgefährdung und Gefährdung anderer nicht mehr geführt werden kann, sondern sich regelmäßig nur im Rollstuhl bewegen muß (BSG a.a.O.), ist bei weitem nicht erreicht.

Auch die von dem Beklagten als Behinderung festgestellte Epilepsie führt nicht zu einer außergewöhnlichen Gehbehinderung. Der Kläger ist nach den Auskünften des Dr. S. seit ca. 1990 mit Ausnahme eines kurzen Zeitraums, in dem die antikonvulsive Therapie ausgesetzt wurde, anfallsfrei.

Der Anregung des Klägers, ergänzend noch ein orthopädisches Gutachten einzuholen, war nicht zu folgen. Bereits aufgrund der Feststellungen des Dr. S. und des Dr. E. sind die vorhandenen Einschränkungen der Gehfähigkeit aufgezeigt. Es besteht kein Zweifel, daß diese als Kinderarzt bzw. Neurologe zur Feststellung und Wiedergabe dieser Einschränkungen befähigt sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Anlaß, die Revision zuzulassen, bestand nicht.
Rechtskraft
Aus
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