L 15 SB 111/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 17 SB 597/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 111/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9a SB 61/05 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts München vom 09.06.2004 und des Bescheides vom 14.01.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.04.2000 verurteilt, beim Kläger ab 24.06.1999 einen GdB von 20 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge zu 1/5 auf der Grundlage der Mittelgebühr zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob beim Kläger seit Antragstellung im Juni 1999 ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 20 sowie ab 21.03.2002 von 30 nach § 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) bzw. § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) vorliegt.

Der 1960 geborene Kläger mit polnischer Staatsangehörigkeit beantragte am 20.06.1999 wegen einer Lipomatose, Kopfschmerzen linksseitig und Gelenkschmerzen die Feststellung seines GdB. Der Beklagte zog Befundberichte des Internisten Prof.Dr.S. und des Orthopäden Dr.P. bei. Letzterer fügte Arztbriefe des Nervenarztes Dr.H. vom Januar 1999, des Radiologen Dr.G. ebenfalls vom Januar 1999, einen MRT-Bericht bezüglich des rechten Handgelenks von Dr.W. vom Februar 1999, einen Arztbrief von Prof.Dr.H. von der Klinik für Dermatologie und Allergologie B. der TU M. vom 11.03.1999, von Prof.Dr.C. von der Neurologischen Klinik der TU M. vom 24.03.1999 bei. Es wurde zusätzlich ein Befundbericht von Dr.H. eingeholt. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der Unterlagen durch Dr.B. erging am 14.01.2000 ein Bescheid, mit dem der Antrag, Behinderungen nach dem SchwbG festzustellen, abgelehnt wurde. Beim Kläger liege zwar eine Behinderung, nämlich eine "Lipomatose" vor. Der dadurch bedingte GdB betrage jedoch nicht wenigstens 20. Nicht als Behinderungsleiden könnten "Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen" festgestellt werden, da die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen keinen GdB von wenigstens 10 erreichten.

Auf den Widerspruch des Klägers erging nach erneuter versorgungsärztlicher Prüfung durch Dr.T. am 27.04.2000 ein zurückweisender Widerspruchsbescheid. Die beantragte Untersuchung sei nicht erforderlich, weil die aktenkundigen Befunde ein ausreichendes Bild der Behinderungen ergäben.

Der Kläger hat sich daraufhin mit Schriftsatz vom 15.05.2000 klageführend an das Sozialgericht München gewandt. Sein Prozessbevollmächtigter hat mit Schriftsatz vom 05.07.2000 einen GdB von 50 geltend gemacht. Das Sozialgericht hat nochmals Befundberichte von Dr.P. , Dr.H. und Dr.S. eingeholt und anschließend den Neurologen und Psychiater Dr.M. mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers beauftragt. Laut dessen Gutachten vom 05.08.2001 hat der Kläger bei der Untersuchung am 21.02.2001 über seit einigen Jahren bestehende diffuse Kopfschmerzen vor allem linksseitig und Schmerzen im Bereich der knotigen Veränderungen seiner Haut geklagt. Die letztgenannte Symptomatik sei erstmalig 1999 mit rechtsseitigen Leistenschmerzen aufgetreten. Er nehme fast täglich Schmerzmittel ein. Während einer Auslandsreise 1999 nach Polen sei er kurz bewusstlos gewesen, habe im Bereich der linken Gesichtshälfte für eine halbe Stunde ein Taubheitsgefühl verspürt. Zeitweise habe er links Ohrgeräusche. Seine Mutter sei an einem Morbus Recklinghausen erkrankt und habe ähnliche Hautveränderungen wie er. Seine Schmerzen machten ihn nervös, er möchte endlich Klarheit über seine Krankheit haben. Er möchte gleichzeitig seinen Arbeitsplatz nicht gefährden (Konstrukteur und Projektleiter bei B.). Nach dem Abitur sei er 1986 mit seiner Frau nach Deutschland geflohen. Sein Kind sei 1984 geboren. Seine Mutter sei Lehrerin und im 50. Lebensjahr in Polen berentet worden wegen des Morbus Recklinghausen. Dr.M. hat bei der Untersuchung des Klägers im Bereich des Oberschenkels ventral beidseits flächige, im Unterhautfettgewebe verschiebliche Lipome getastet, ferner im Bereich der Flanken beidseits und im Bereich der Unterarme beidseits. Die Lipome seien im Bereich des Unterbauchs am deutlichsten ausgeprägt mit einem drei bis vier Zentimeter großen Durchmesser. Ein Druckschmerz bestehe an den Lipomen im Bereich der Oberarmrückseite und im Bereich des unteren Drittels des Leistenbandes rechts. Die neurologische Untersuchung habe einen regelrechten Befund ergeben. Psychisch liege eine allenfalls leicht reaktiv depressive Symptomatik vor. Die Kopfschmerzen seien eher vegetativ-vasomotorischer Genese. Die kernspintomographische Untersuchung des rechten Handgelenks habe keine pathologischen Veränderungen gezeigt, die im Zusammenhang mit einer Neurofibromatose bestehen könnten. Die Dermatologische Abteilung der TU M. habe eine generalisierte gutartige knotige Lipomatose festgestellt und eine Lipomatosis dolorosa in Erwägung gezogen. Es sei dem Kläger zur Abklärung eine Probeexzision empfohlen worden, die er jedoch abgelehnt habe, da er eine Streuung und Aktivierung der Hauterkrankung befürchte. Aus ärztlicher Sicht seien diese Befürchtungen unbegründet, sie zeigten die ängstliche Grundhaltung des Klägers. Auch die Neurologische Klinik der TU M. habe einen regelrechten Befund erhoben; es bestehe kein Anhalt für das Vorliegen eines Morbus Recklinghausen. Die Gesundheitsstörungen des Klägers seien als "Lipomatosis und Neurasthenie" zu bezeichnen, für beide Gesundheitsstörungen sei ein Einzel-GdB von jeweils 10 angemessen. Auch der Gesamt-GdB betrage ab Antragstellung 10.

Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. A. ein weiteres Gutachten vom 22.03.2002 nach Untersuchung am 21.03.2002 eingeholt. Im Rahmen des psychischen Befundes hat die gerichtliche Sachverständige festgestellt, dass der Kläger sehr klagsam wirke und unter hohem Leidensdruck stehe. Sein Denken sei konzentriert auf die sogenannte Neurofibromatose, an der auch seine Mutter erkrankt sei. Die Diagnose Lipomatose oder schmerzhafte Lipomatose scheine ebenso möglich. Der Kläger empfinde sich durch die kleinen, weichen, sehr schmerzhaften und druckempfindlichen Geschwülste im Bereich der Muskulatur, im Lendenbereich unter der Muskulatur, im Leisten- und Rumpfbereich des Rückens, an den Unterarmen und im Oberschenkelbereich beeinträchtigt. Er fühle sich in seinem Schamgefühl und im Kontaktverhalten in nahezu sämtlichen Lebensqualitäten stark behindert, zum Beispiel in der Arbeit, bei Konferenzen, ausgedehnten Reisen, beim längeren Sitzen. Es handle sich dabei um eine Somatisierung sowie eine reaktive depressive Verstimmung und eine hypochondrische Störung. Psychische und physische Komponenten der Angstentwicklung seien nicht zu übersehen, ebenso wie der Wunsch nach Ruhe, Wärme und Rückzug. Auch die Druckgefühle im Hals, der linkslokalisierte Kopfschmerz im Scheitelbereich seien psychosomatisch einzuordnen. Dr. A. hat folgende Diagnosen gestellt: 1. Reaktive Depression mit Psychosomatose, Angstentwicklung, Anpassungsstörung, chronischer Verlauf - leichter Schweregrad (entspricht Einzel-GdB 20). 2. Chronisches Schmerzsyndrom bei Psychosomatose bei zu Grunde liegender Neurofibromatose im Sinne eines Morbus Recklinghausen. DD: Lipomatose oder schmerzhafte Lipomatose (entspricht Einzel-GdB 20). Der GdB betrage ab Juni 1999 bis Februar 2002 insgesamt 10, für die Lipomatose Einzel-GdB 10, Kopfschmerzen, Schmerzsyndrom, Neurasthenie Einzel-GdB 10. Ab aktueller Begutachtung, das heißt ab März 2002, betrage der Gesamt-GdB entsprechend den Ausführungen unter "Diagnosen" 30. Zur Begründung ist dargelegt worden, bei der Diagnose "Lipomatose" handle es sich um eine relativ harmlose, wenig behindernde Erkrankung. Bei einer schmerzhaften Lipomatose liege die Behinderung im chronischen Schmerzsyndrom. Die Neurofibromatose sei eine genetisch bedingte Erkrankung, die letztlich höher einzustufen sei und auch ohne schwere körperliche Leistungseinschränkung einen erheblichen psychogenen Faktor beinhalte. Allein die Einflussnahme durch die Erkrankung der Mutter genüge als Angstfaktor und mache auch die reaktive Depression und den somatogenen Schmerz durchaus vorstellbar. Die Diagnose "Neurasthenie" erscheine zu gering.

Der Beklagte hat am 08.08.2002 auf Grund einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr.K. ein Vergleichsangebot vorgelegt, mit dem er sich bereit erklärt hat, wegen der Gesundheitsstörungen "psychovegetative Störungen, Lipomatose" ab 21.03.2002 einen GdB von 20 festzustellen. Dr.K. hat zur Begründung ausgeführt, bei der von Dr. A. beschriebenen Gesundheitsstörung handle es sich um eine depressive Verstimmung leichten Grades ohne kognitive oder mnestische Störungen und ohne psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. Der Kläger sei weiterhin als Konstrukteur in guter Position ohne Leistungseinschränkungen mit Auslandsaufenthalten in Spanien, USA und Mexiko tätig. Das außerdem festgestellte chronische Schmerzsyndrom bei Psychosomatose würde zu einer Doppelbewertung der psychischen Störung führen. Es sei daher kein höherer GdB als 20 vertretbar.

Der Kläger hat dieses Angebot am 25.08.2002 abgelehnt und die Verurteilung des Beklagten, bei ihm einen GdB von 30 festzustellen, beantragt.

Im Rahmen eines Erörterungstermins am 03.04.2003 hat der Kläger angeregt, wegen weiterer Leiden auf orthopädischem Fachgebiet einen Befundbericht von Dr.P. einzuholen. Dieser hat in seinem Bericht vom 10.04.2003 mitgeteilt, dass die Beschwerden seit Januar 1999 relativ konstant geblieben seien. Er habe Polyarthralgien, rezidivierende pseudoradikuläre HWS- und LWS-Syndrome, Spreiz-, Senkfuß, Chondropathia patellae links stärker als rechts festgestellt. Es seien noch ziehende Beschwerden im Bereich des rechten Beines Anfang Januar 2003 hinzugekommen, es habe ein Muskelfaserriss mit geringfügigem Hämatom ermittelt werden können. Er habe jeweils zweitägige AU-Bescheinigungen ausgestellt im März 1999, im Januar 2001, Januar, September und Dezember 2002; die AU vom 16. bis 18.12.2002 sei bis 27.12.2002 verlängert worden.

Das Sozialgericht hat von Dr.M. eine ergänzende Stellungnahme zum Gutachten von Dr. A. und zum Befundbericht von Dr.P. eingeholt (10.10.2003). Aus dem Befundbericht von Dr.P. ergebe sich keine Änderung der Bewertung; die Einschätzung von Dr. A. hinsichtlich des Gesamt-GdB sei nicht nachvollziehbar. Die Diagnose einer Neurofibromatose sei bioptisch nicht gesichert, der Kläger lehne selbst eine entsprechende Abklärung ab. Auch wenn es sich bei dem Begriff der Neurasthenie um einen in der heutigen Diagnostikklassifikation weitgehend überholten Begriff handle, der eine Anpassungsstörung mit ängstlich-depressiver Reaktion und hypochondrisch somatoformer Störung entspreche, habe keine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit festgestellt werden können. Eine Bewertung mit GdB 10 werde weiterhin als ausreichend angesehen. Die von Dr. A. beschriebene Befundkonstellation habe auch bei der von ihm durchgeführten Untersuchung festgestellt werden können.

Mit Schriftsatz vom 23.01.2004 hat der Beklagte auf Grund einer erneuten Stellungnahme von Dr.K. mitgeteilt, dass er sein Vergleichsangebot vom 08.08.2002 aufrechterhalte.

Das Sozialgericht hat im Anschluss daran ein weiteres Gutachten von dem Chirurgen und Sozialmediziner Dr.L. vom 21.04.2004 nach Untersuchung des Klägers eingeholt. Bei der Untersuchung hat der Kläger angegeben, er sei vom 19.02. bis 12.03.2004 krankgeschrieben gewesen, es habe ein Verdacht auf Schlaganfall bestanden. Er hat einen Kurzbericht der A.kliniken in D. über einen stationären Aufenthalt vom 19. bis 25.02.2004 mitgebracht, in dem als Diagnose "dissoziative brachiofaszide Parästhesien" genannt worden war. Es habe ein Kuraufenthalt in Bad G. im Juni 2001 stattgefunden. Als aktuelle Beschwerden hat der Kläger angegeben: Ein- und Durchschlafstörungen, das Gefühl von Nadelstichen in sein linkes Ohr, Schmerzen an den Knoten, Sehprobleme (er könne nach einer Stunde nicht mehr richtig fokussieren und habe jetzt eine Brille bekommen), Ohrenschmerzen bzw. hoher Pfeifton linksseitig; Anschwellen des rechten Fußes bei längerem Gehen, Druckgefühl in der Brust wegen der Knoten im unteren Brustbereich, Kniebeschwerden rechts. Der gerichtliche Sachverständige hat den Kläger bezüglich der Beweglichkeit der Extremitäten und der Wirbelsäule eingehend (mit Messungen nach der Neutral-Null-Methode) untersucht und eine Fotodokumentation vom rechten Unterarm und linken Oberarm angefertigt. Es habe ein unauffälliger Befund am Bewegungs- und Stützapparat festgehalten werden können, auch habe der Kläger mehrere Telefonbücher mit dem rechten Arm ohne Schmerzen drehen und heben können. Nach Auffassung von Dr.L. könne der Verdacht auf Morbus Recklinghausen nicht bestätigt werden, insbesondere weil keine typischen äußerlichen Lipome vorhanden seien. Stattdessen bestünden druckschmerzhafte Knotenbildungen von ca. Erbsen- bis Pflaumengröße unter der Haut, die wenig verschieblich seien. Eine weiterführende Diagnostik nach dem sog. Schlaganfall habe keinen richtungsweisenden Befund ergeben. Außer der Fixierung auf Beschwerden am Körper, die Druckschmerzen und die etwas hypochondrische Selbstbeobachtung seien beim Kläger keine wesentlichen weiteren Auffälligkeiten gegeben. Die Behinderungen seien seines Erachtens folgendermaßen zu bezeichnen: "psychovegetative Minderbelastbarkeit, somatoforme Störung bei Lipomatose." Der GdB hierfür betrage ab Juni 1999 20. Dabei sei dem Vergleichsvorschlag des Beklagten zu folgen. Ein eigentliches Schmerzsyndrom mit übergreifendem Charakter auf den Organismus liege beim Kläger nicht vor. Die somatoforme/psychische Störung entspreche einer neurotischen Fehlverarbeitung ohne wesentliche Störungen der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit. Eine dauerhafte psychiatrische Behandlung, die für die Vergabe eines GdB von 30 und höher regelhaft gefordert werde, erfolge nicht.

Von Klägerseite ist anschließend ein ausführlicher Untersuchungsbericht der A.kliniken vom 08.04.2004 vorgelegt worden. Der Kläger ist dort vom 19. bis 25.02.2004 neurologisch, psychopathologisch, körperlich untersucht worden mit folgenden Zusatzuntersuchungen: EKG, Röntgen des Thorax, CT des Kopfes, MRT des Schädels, MRT-Angio der Hirngefäße, Neurosonologie der hirnzuführenden Gefäße, EEG, Medianus-SEP, AEP, Liquor-Untersuchung, Blutuntersuchung. Sämtliche Untersuchungen haben keine Auffälligkeiten ergeben. Laut ärztlichem Attest von Dr.P. vom 02.02.2004 hat der Kläger bei erhöhter Thrombosegefährdung, einem LWS-Syndrom und einem Knieleiden einen erhöhten Platzbedarf bei Flugreisen. Aus einer Kurzmitteilung der Rehabilitationsklinik Schloß Bad B. geht hervor, dass der Kläger dort vom 29.04. bis 27.05.2004 stationär behandelt worden ist.

Am 09.06.2004 hat das Sozialgericht München durch Urteil die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 14.01.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.04.2000 und auf Feststellung einer Behinderung und eines GdB. Das Gericht sei davon überzeugt, dass eine Behinderung nicht vorliege, für die ein GdB von wenigstens 20 anzusetzen sei. Die Lipomatose sei als eigenständige Behinderung grundsätzlich nicht zu erfassen, da Lipome (gutartige Fettgeschwulste) im Regelfall nicht zu einer nennenswerten Funktionsbeeinträchtigung führten. Dementsprechend fehle in der GdB-Tabelle der "Anhaltspunkte" eine Bewertung für diese Gesundheitsstörung. Eine Neurofibromatose sei beim Kläger bislang nicht diagnostiziert worden. Die vorliegende Lipomatose sei insoweit relevant, als der Kläger durch diese Gesundheitsstörung bedingt an psychischen Störungen leide. Es liege die Behinderung "psychische Störungen bei Lipomatose" vor, die allerdings mit einem Einzel-GdB von 10 ausreichend bewertet sei. Das Gericht stützte sich dabei auf die Feststellungen und Einschätzungen von Dr.M ... Es sei zu berücksichtigen, dass eine psychotherapeutische Behandlung des Klägers offenbar nicht erforderlich sei und eine nervenärztliche Behandlung nur vorübergehend von Januar 1999 bis Februar 2000 stattgefunden habe, wobei der behandelnde Nervenarzt Dr.H. als Diagnosen "lediglich" vasomotorische Kopfschmerzen und verminderte psychische Belastungsfähigkeit angab (Befundbericht vom 30.10.2000). Die Einschätzung der Sachverständigen Dr. A. sei für das Gericht nicht nachvollziehbar, insbesondere auch der aufgebläht wirkende Diagnosenstrauß. Die Sachverständige habe eine Doppelbewertung der psychischen Störungen vorgenommen und nicht begründet, weshalb ihr die Diagnose "Neurasthenie" als nicht ausreichend erscheine. Zwar habe der Beklagte ein Vergleichsangebot mit GdB 20 vorgelegt, eine Begründung hierfür sei jedoch durch das Gutachten der Dr. A. nicht erbracht. Auch der Bewertung des chirurgischen Sachverständigen Dr.L. werde keine maßgebliche Bedeutung beigemessen, weil er sich hinsichtlich der psychischen Störung fachgebietsübergreifend geäußert habe. Das Attest von Dr.P. vom 02.02.2004, in dem ein erhöhter Platzbedarf bei Flugreisen begründet wurde, stehe im Gegensatz zu dem insoweit unauffälligen Befund, den der Sachverständige Dr.L. erhoben habe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 15.07.2004 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er hat weiterhin entsprechend dem Gutachten von Dr. A. ab Antrag einen GdB von 20 und ab 21.03.2002 (Untersuchung durch Dr. A.) einen GdB von 30 begehrt.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 04.10.2004 beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen, soweit die Feststellung eines GdB von 20 vor dem 21.03.2002 bzw. eines höheren GdB nach diesem Zeitpunkt begehrt werde. Das Vergleichsangebot vom 08.08.2002 bleibe bestehen.

In einem am 01.02.2005 abgehaltenen Erörterungstermin hat der Kläger mitgeteilt, er sei nach wie vor der Auffassung, an Morbus Recklinghausen erkrankt zu sein und befürchte, durch eine Gewebeentnahme sein Leiden zu verschlimmern. Er habe seit einem Jahr Rötungen und Entzündungen im Bereich beider Wangen.

Mit Schriftsatz vom 21.02.2005 hat der Kläger Bescheinigungen des Hautarztes Dr.G. vom 17.02.2005 und der praktischen Ärztin G. vom 04.02.2005 sowie von Dr.S. vom 15.02.2005 und Dr.P. vom 16.02.2005 übergeben, in denen mitgeteilt wurde, seit wann sich der Kläger bei ihnen in Behandlung wegen welcher Erkrankungen befinde und welche Medikamente bzw. Hilfsmittel verordnet worden sind.

Für den Beklagten hat Dr.K. diese Befunde am 21.03.2005 ausgewertet: Er hat festgestellt, dass bisher von keinem Arzt eine Neurofibromatose diagnostiziert worden sei. Diese Erkrankung könne in zwei Formen auftreten: Die Neurofibromatose-I (Neurofibromatose von Recklinghausen) werde auf Chromosom 17 vererbt, die Neurofibromatose-II auf Chromosom 22. Klinische Merkmale der erstgenannten Erkrankung seien Veränderungen im Bereich der Haut, der Augen und des Knochens, bei der zweitgenannten träten benigne Tumoren im Bereich des zentralen Nervensystems auf. Selbst wenn bei einer genetischen Untersuchung festgestellt werden könnte, dass der Kläger die Erkrankung von der Mutter ererbt habe, würde sich auf Grund der klinischen Untersuchungen auf neurologischem und hautärztlichem Fachgebiet keine Änderung ergeben. Die psychovegetative Symptomatik infolge der Beschwerden und Befürchtungen des Klägers vor weiterer Erkrankung seien im Vergleichsvorschlag berücksichtigt. Durch diese Befürchtungen sei es zwar zu stationären Abklärungen gekommen, nicht aber zu einer regelmäßigen nervenärztlichen oder ähnlichen Behandlung. Auch im vorläufigen Entlassungsbericht der Rehaklinik Bad B. vom 27.05.2004 seien eine Somatisierungsstörung diagnostiziert und lediglich pflanzliche Präparate zur Behandlung der psychovegetativen Symptomatik verordnet worden.

Mit Schriftsatz vom 12.04.2005 hat der Bevollmächtigte des Klägers eine neue Amtsbegutachtung angeregt; er hat mit Schriftsatz vom 22.06.2005 einen Befundbericht der I.klinik in P. vom 16.04.2005 übersandt. Dieser handschriftliche Bericht ist vom Beklagten/Dr.K. am 26.07.2005 ausgewertet worden: Aus dem vorläufigen Entlassungsbericht ergebe sich außer der bekannten subkutanen Lipomatose ein schmetterlingsartiges Erythem im Gesichtsbereich mit Bläschen und kleinknotigen Veränderungen. Bis vor einer Woche sei deshalb Metronidazol wegen des Verdachts auf Milbenbefall im Gesichtsbereich eingenommen worden. Neu sei ein Therapieversuch mit Valoron bis zu viermal zwanzig Tropfen täglich empfohlen worden. Bei dem Erythem im Gesichtsbereich handle es sich um eine akute Erkrankung, die vor kurzem aufgetreten sei und diagnostisch noch nicht eingeordnet werden könne. Auch wenn die Differenzialdiagnose eines Lupus erythematodes geäußert worden sei, erfolge bisher keine immunsupressive Behandlung. Eine wesentliche Änderung für den Zeitraum von sechs Monaten sei deshalb noch nicht nachgewiesen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts München vom 09.06.2004 und des Bescheids vom 14.01.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 27.04.2000 zu verurteilen, bei ihm ab 24.06.1999 einen GdB von 20 und ab 21.03.2002 einen GdB von 30 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.06.2004 zurückzuweisen, soweit sie über das Vergleichsangebot vom 08.08.2002 hinausgeht.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akte des Beklagten sowie den Inhalt der Gerichtsakten des ersten und zweiten Rechtszuges Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nach §§ 51 Abs.1 Nr.7, 143, 151 SGG zulässig und erweist sich teilweise als begründet.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat der Kläger ab Antragstellung am 24.06.1999 Anspruch auf Feststellung eines GdB von 20 wegen der bei ihm bestehenden "psychovegetativen Störungen, Lipomatose". Ein GdB von 30 ab 21.03.2002 liegt jedoch nicht vor.

Im vorliegenden Fall war zu prüfen, ob der Beklagte nach § 4 SchwbG bzw. seit 01.07.2001 nach § 69 SGB IX auf den Erstfeststellungsantrag des Klägers im angefochtenen Bescheid zu Recht eine Feststellung abgelehnt hat, weil ein GdB von wenigstens 20 nicht vorlag (§ 69 Abs.1 Satz 5 SGB IX). Dabei war das Ausmaß der beim Kläger seit seiner Antragstellung vorliegenden körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionsbeeinträchtigungen, die von dem für das Lebensalter typischen Zustand nicht nur vorübergehend (d.h. länger als sechs Monate gemäß § 2 Abs.1 SGB IX) abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigen, zu bewerten (§ 3 Abs.3 SchwbG bzw. § 69 Abs.1 SGB IX). In diesem Zusammenhang war auf das normähnliche versorgungsrechtliche Bewertungssystem der AP abzustellen, da diese nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 23.06.1993, SozR 3-3870 § 4 Nr.6) wie antizipierte Sachverständigengutachten im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren zu beachten sind.

Die mit der vorliegenden benignen druckschmerzhaften Lipomatose verbundenen psychischen Störungen, die sich in Angst vor einer fortschreitenden Erkrankung wie bei der Mutter des Klägers, in diffusen Schmerzen, hypochondrischer Selbstbeobachtung und verschiedensten somatischen Beschwerden äußern, wurden vom Beklagten im angefochtenen Bescheid vom 14.01.2000, der in der Begründung lediglich eine Lipomatose als Behinderung (mit GdB von 10) erwähnt, nicht vollständig erfasst. Sie wurden gleichwohl von den drei gerichtlichen Sachverständigen (Dr.M. , Dr. A. und Dr.L.) im Wesentlichen in gleicher Intensität beschrieben, allerdings unterschiedlich bewertet. Dr. A. hat hierfür ab dem Zeitpunkt ihrer Untersuchung den höchsten GdB, nämlich 30, vorgeschlagen, Dr.M. den niedrigsten von 10. Letzterer hat in seiner Stellungnahme zum Gutachten von Dr. A. vom 10.10.2003 ausdrücklich erklärt, dass die von dieser beschriebenen psychischen Störungen auch bei seiner eigenen Untersuchung im Februar 2001 bereits vorgelegen hätten. Dr.L. befand sich mit seiner Einschätzung (GdB 20 ab Antrag) in der Mitte.

Der Senat ist zur Auffassung gelangt, dass die psycho-vegetativen Begleiterscheinungen der beim Kläger 1999 aufgetretenen Lipomatose seit Antragstellung im Juni 1999 im Wesentlichen gleich stark ausgeprägt waren, weil der Kläger offensichtlich von Anfang an befürchtete, dass seine Lipomatose ähnlich wie bei seiner Mutter verlaufen werde. Der Beklagte erklärte sich in seinem Vergleichsangebot vom 08.08.2002 aufgrund der nervenärztlichen Stellungnahme von Dr.K. zwar erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. A. bereit, einen GdB von 20 beim Kläger festzustellen. Eine eingehendere Begründung der Erhöhung des GdB von 10 auf 20 ab 21.03.2002 enthält die nervenärztliche Stellungnahme von Dr.K. aber nicht. Für eine gleichbleibende Bewertung der Behinderung des Klägers ab Antrag hat sich demgegenüber, wenn auch fachübergreifend, der gerichtliche Sachverständige Dr.L. ausgesprochen, der unter Heranziehung der Vorgaben der AP Nr.26.3 zutreffend argumentiert hat.

Hinsichtlich der GdB-Höhe hat Dr.K. für den Beklagten überzeugend ausgeführt, dass in Anbetracht der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers, der als Maschinenbau- und Elektrotechniker nach wie vor als Konstrukteur in der Autobranche eine verantwortungsvolle berufliche Position innehat, weite Dienstreisen unternimmt und bisher keine längerfristige psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung in Anspruch nimmt, noch keine wesentliche Beeinträchtigung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit angenommen werden kann. Somit liegen die Voraussetzungen für einen GdB von 30 gem. AP Nr.26.3 nicht vor. Dr. A. musste sich zu Recht vom Beklagten und vom Sozialgericht entgegenhalten lassen, dass sie durch ihre Aufsplitterung der verschiedenen Diagnosen zu einer ungerechtfertigten Doppelbewertung gelangt ist. Andererseits überzeugt das Urteil des Sozialgerichts München nicht ganz, soweit es die Lipomatose nur wegen einer mit ihr verbundenen Neurasthenie im Sinne einer allgemeinen Unsicherheit, Besorgtheit und Ängstlichkeit des Klägers für relevant hielt und einen GdB von 10 für ausreichend erachtete. Damit werden die beim Kläger vorliegende ausgedehnte benigne Lipomatose (ohne Beteiligung der Hände und des Gesichts) und das damit verbundene psychovegetative Beschwerdebild unterschätzt. Immerhin sind die zahlreichen Fettgeschwulste des Klägers teilweise druckschmerzhaft und - bei genauem Hinsehen, im Gegenlicht (vgl. Gutachten von Dr.L. S.21) - äußerlich auch erkennbar. Die organisch nicht erklärbaren zahlreichen körperlichen Mißempfindungen und Ängste des Klägers sind - wenn auch hypochondrisch verstärkt - glaubhaft; sie könnten allerdings durch eine dem Kläger mehrfach medizinisch empfohlene, für ihn ungefährliche Biopsie verringert werden.

Verschiedentlich vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Sektor sind insbesondere nach den Feststellungen von Dr.L. nicht nachgewiesen.

Die zuletzt geltend gemachte akute Hauterkrankung, deretwegen sich der Kläger am 16.04.2005 in die I.klinik begab, bei der es sich laut Bescheinigung von Dr.G. vom 17.02.2005 eventuell um eine Rosacea oder einen subakuten kutanen Lupus erythematodes handelt, konnte noch nicht GdB-wirksam berücksichtigt werden. Der Beklagte hat durch Dr.K. am 26.07.2005 nachvollziehbar dargelegt, dass bisher Klarheit weder über die Diagnose noch über die erforderliche Behandlung besteht. Nach den AP Nr.26.17 werden beide Hauterkrankungen abhängig von ihrer Ausdehnung und kosmetischen und funktionellen Auswirkung entweder gering mit GdB Null bis 10 oder bei stärkerer Ausdehnung und entstellender Wirkung mit GdB 20 bis 30 bzw. 20 bis 40 bewertet. Falls eine der beiden Erkrankungen beim Kläger eindeutig diagnostiziert ist und in einem erheblichen Ausmaß fortbesteht, sollte der Kläger einen Antrag auf Neufeststellung seines GdB beim Beklagten einreichen.

Somit hatte die Berufung lediglich teilweise Erfolg.

Die Kostenentscheidung erging gemäß §§ 183, 193 SGG und berücksichtigte sowohl den gegenüber dem angefochtenen Bescheid des Beklagten und dem Urteil des Sozialgerichts München eingetretenen teilweisen Erfolg des Klägers, aber auch das Vergleichsangebot des Beklagten vom 08.08.2002.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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