L 7 VS 4/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 16 (12) VS 26/94
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 VS 4/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 VS 2/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 04.12.1998 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 28.04.1994 und 10.01.1995, beide in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.03.1995, verurteilt, dem Kläger Versorgung nach § 80 SVG für die Zeit von März 1983 bis Februar 1993 nach einer MdE um 50 % nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte trägt ein Drittel der Kosten des Verfahrens. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Versorgung nach § 80 Soldatenversorgungsgesetz (SVG).

In der Zeit vom 02.10.1967 bis 31.12.1973 war der 1945 geborene Kläger Soldat in der Bundeswehr, zuletzt als Leutnant.

In der Zeit von Mai 1972 bis Dezember 1973 wurde er mehrmals vorübergehend in der Abteilung Neurologie und Psychiatrie des Bundeswehrkrankenhauses K. sowie in der Abteilung Psychiatrie der Medizinischen Fakultät an der RWTH A. behandelt.

Wegen mehrerer Dienstpflichtverletzungen wurde 1972 ein Disziplinarverfahren gegen den Kläger eingeleitet. Mit Urteil vom 14.10.1977 stellte das Truppendienstgericht Mitte fest, dass der Kläger eines Dienstvergehens schuldig sei; im übrigen stellte es das Verfahren wegen erheblicher Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers ein.

Mit Wirkung zum 31.12.1973 wurde der Kläger wegen mangelnder Eignung als Berufsoffizier gemäß § 46 Soldatengesetz aus der Bundeswehr entlassen. Das hiergegen eingeleitete Beschwerde- und Klageverfahren sowie spätere Wiederaufnahmeverfahren blieben erfolglos.

Der Kläger wurde in der Zeit vom 24.05. bis 25.05.1974, 04.06. bis 21.06.1974 sowie vom 12.08.1975 bis 30.07.1976 in der Rheinischen Landesklinik D. wegen einer Alkoholabhängigkeit stationär behandelt. Anschließend unterzog er sich in der Zeit von Juli 1976 bis Dezember 1978 einer psychotherapeutischen Behandlung durch die Nervenärztin Dr. R ... In einem Bericht vom 23.12.1977 führte diese aus, dass der Kläger nicht mehr alkoholabhängig sei und empfahl eine berufliche Wiedereingliederung. 1979 begann der Kläger ein Medizinstudium, das er 1984 abbrach. Durch Bescheid vom 11.01.1978 wurde der Kläger wegen Wehrdiensunfähigkeit ausgemustert. Auf den hiergegen erhobenen Widerspruch widerrief das Kreiswehrersatzamt J. mit Bescheid vom 08.06.1980 den Ausmusterungsbescheid.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheid aus Oktober 1982 hob das Kreiswehrersatzamt den Bescheid vom 03.06.1980 auf und stellte fest, dass der Kläger nicht wehrdienstfähig sei.

Nach eigenen Angaben war der Kläger von 1977 bis 1980 abstinent. Ab 1981 wiederholten sich Alkoholexzesse. Von November 1983 bis September 1985 führte der Kläger eine Psychotherapie durch, die wegen häufiger Alkoholisierung abgebrochen wurde. Der Kläger wurde zwischen 1985 bis 1987 wiederholt notfallmäßig wegen Alkoholmißbrauchs stationär behandelt. Seit 1987 treten beim Kläger sporadische (3 - 4mal im Jahr) Alkoholexzesse mit der Dauer von einigen Tagen auf.

Im Verfahren S 9 (3/8) J 216/88, SG A., verpflichtete sich die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz ab Antragstellung im Dezember 1986, ausgehend von einem Versicherungsfall am 30.06.1984, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Mit Schreiben vom 07.03.1983, adressiert an den Bundesminister für Verteidigung, beantragte der Kläger u.a., bei ihm rückwirkend zum 01.07.1973 eine Wehrdienstbeschädigung (WDB) festzustellen.

Mit Bescheid vom 09.08.1985 lehnte das Wehrbereichsgebührnisamt V (WBGA V) einen Anspruch auf Ausgleich nach § 85 SVG ab.

In dem anschließenden gerichtlichen Verfahren, Az.: S 12 (7) V 160/85, verurteilte das SG A. mit Urteil vom 26.09.1990 die Beigeladene, beim Kläger eine Alkoholkrankheit als Wehrdienstschädigungsfolge anzuerkennen und ihm für die Zeit vom 01.07.1973 - 31.12.1973 einen Ausgleich gemäß § 85 SVG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50% zu gewähren.

Zur Begründung führte es aus, dass die beim Kläger bestehende Alkoholkrankheit durch eine ungünstige Verbindung frühkindlicher Traumatisierungen, die zu einer schizottymen Persönlichkeitsstruktur geführt habe, mit der spezifischen Belastung des militärischen Dienstes, besonders unter den Umständen im Verantwortungs- und Aufgabenbereich des Klägers, entstanden sei. Bereits nach Erkennung dieser Erkrankung hätte der Kläger von der Dienstleistung in der Bundeswehr zumindest vorübergehend dispensiert und einer in tensiven Therapie zugeführt werden müssen. Er sei durch seine Dienstleistung in der Bundeswehr nicht rechtzeitig und nicht zu reichend behandelt worden. Der Beklagte war zu dem Verfahren nicht beigeladen.

Mit Bescheid vom 13.02.1991 erkannte das WBGA V in Ausführung des Urteils beim Kläger die Gesundheitsstörung "Alkoholkrankheit" als Schädigungsfolge, hervorgerufen durch schädigende Einwirkung i.S. v. § 81 SVG, mit einer MdE um 50% ab 1.7.1973 an und gewährte einen Ausgleich für die Zeit vom 01.07. - 31.12.1973.

Im Oktober 1990 beantragte der Kläger beim Beklagten die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach § 80 SVG ab 01.01.1974 nach einer MdE um 100 %. Er machte geltend, die Alkoholkrankheit und Depression seien durch eine unzureichende und verspätete Behandlung durch die Bundeswehr und fehlender Dispensierung vom Dienst entstanden. Er nahm Bezug auf das Urteil des SG A. vom 26.09.1990.

Am 16.02.1991 hat der Kläger Untätigkeitsklage vor dem SG Aachen erhoben.

Mit Teil-Bescheid vom 28.04.1994 hat der Beklagte den Antrag des Klägers auf Versorgung gemäß § 80 SVG für die Zeit vom 01.01.1974 bis 30.09.1990 unter Berufung auf § 60 Bundesversorgungsgesetz (BVG) abgelehnt. Der Antrag auf Versorgung sei erst im Oktober 1990 gestellt worden. Zugunsten des Klägers greife die Vorschrift des § 60 Abs.1 S. 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) nicht ein. Hier gegen hat der Kläger Widerspruch eingelegt.

Nach Einholung eines Gutachtens vom dem Chefarzt des A. Krankenhauses in K., Prof. Dr. F., hat der Beklagte mit Bescheid vom 10.01.1995 dem Kläger Versorgung nach § 80 SVG für die Zeit ab Oktober 1990 versagt.

Dagegen hat der Kläger Widerspruch eingelegt.

Am 06.03.1995 hat der Beklagte die Widersprüche gegen die beiden Bescheide vom 28.04.1994 und 10.01.1995 zurückgewiesen.

Nach Erlass der Bescheide hat der Kläger die Untätigkeitsklage auf eine Leistungsklage umgestellt und die Gewährung von Beschädigten versorgung nach einer MdE um 100% ab 01.01.1974 und um 30 % ab 01.08.1976 begehrt. Er hat geltend gemacht, er habe Anfang 1974 die Sanitätsstaffel seiner ehemaligen Einheit aufgesucht mit dem Begehren, auf Kosten der Bundeswehr auch weiterhin psychiatrisch behandelt zu werden. Dieses Begehren sei als Antrag auf Gewährung einer Versorgung wegen einer WDB nach § 80 SVG auszulegen. Spätestens sein Schreiben vom 07.03.1983, adressiert an den Bundesminister der Verteidigung, stelle einen Antrag i.S.v. § 80 SVG dar. Hinsichtlich der Versäumung der Antragsfrist sei ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da er durch höhere Gewalt eine Antragstellung vor 1983 unterlassen habe. Durch das Verhalten der Sanitätsoffiziere bei der Entlassung und im Januar 1974 sowie des Kreiswehrersatzamtes bei der Feststellung seiner Wehrdienstunfähigkeit habe er keine Kenntnis von der Dauer haftigkeit seiner Erkrankung gehabt, sondern sei von dem Vorliegen einer vorübergehenden, behandelbaren Erkrankung ausgegangen. Des halb habe er keinen Versorgungsantrag gestellt. Er sei aufgrund seiner Erkrankung nur eingeschränkt handlungsfähig gewesen. Als Folge der unterlassenen Behandlung während der Bundeswehrzeit sei bei ihm eine dauerhafte Gesundheitsstörung eingetreten, die einen Anspruch auf Versorgung nach § 80 SVG begründe. Durch das Urteil des Sozialgerichts A. vom 26.09.1990 sei das Vorliegen einer WDB rechtskräftig festgestellt worden. Der Beklagte sei aufgrund der Bindungswirkung des Urteils gemäß § 88 Abs. 3 SVG verpflich tet, ihm Versorgung wegen der durch das Urteil anerkannten Schädigungsfolge zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 48 SGB X seien nicht gegeben. Eine wesentliche Änderung in seinen gesund heitlichen Verhältnissen sei weder aus medizinischer noch aus sonstiger Sicht eingetreten, insbesondere sei eine Besserung der Alkoholkrankheit aufgrund der einjährigen stationären Entziehungsmaßnahme und der sich anschließenden 2 1/2 jährigen Psychotherapie nicht erfolgt. Zwar habe er nach der Therapie zeitweise weitgehend auf Alkohol verzichtet. Daraus könne jedoch noch nicht auf einen Erfolg der Therapie geschlossen werden.

Das SG hat Entlassungsberichte des St. Augustinus Krankenhauses von 1986 und 1987 und des Rheinischen Landeskrankenhauses D. von 1974, 1976 und 1985 sowie Befundberichte von der Neurologin und Psychiaterin M., dem Internisten Dr. K. und Dr. F-M. beigezogen.

Anschließend hat das SG Gutachten von dem Dipl.-Psych. M. und dem Leitenden Arzt der Rheinischen Landesklinik Köln Dr. M. eingeholt. Dr. M. ist unter Auswertung der Feststellungen von dem Dipl.-Psych. M. zu dem Ergebnis gelangt, dass beim Kläger eine schizoide Persönlichkeitsstörung, verbunden mit einer assoziierten Alkoholerkrankung und einer ausgeprägten depressiven Stimmung und dem Auftreten wiederholter Angst- und Spannungszustände besteht. Diese Gesundheitsstörungen seien nicht auf schädigende Einwirkungen zurückzuführen. Beim Kläger habe spätestens 1973/74 nach der Entlassung aus der Bundeswehr das Vollbild des Gamma-Alkoholismus nach Jellinek bestanden. Die fast einjährige fachgerechte stationäre Entwöhnungsbehandlung von August 1975 bis Juli 1976 mit der sich anschließenden mehrjährigen Abstinenzphase und der Zuwendung der zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörung in einer 2 1/2 jährigen Psychotherapie sei als erfolgreich anzusehen. In Bezug auf die Alkoholkrankheit sei mit stationärer Entwöhnungsbehandlung und anschließender Psychotherapie das Behandlungsziel erreicht worden, welches bei zeitgerechter Behandlung während der Bundeswehrzeit zu erreichen gewesen wären. Auch bei frühzeitiger Behandlung hätte ein Rückfallrisiko von mindestens 50 % bestanden. Es könne nicht behauptet werden, dass das Rückfallrisiko bei frühzeitiger Behandlung geringer gewesen wäre, als nach der um etwa drei Jahre verspäteten erfolgreichen Behandlung. Insofern könne der zweiten Phase des exzessiven Alkoholmissbrauchs etwa von 1984 - 1987 nicht als Folge eines von der Bundeswehr zu verantwortenden Behandlungsversäumnisses während der oder im Anschluß der Dienstzeit angesehen werden. Die erneute Manifestation der Suchtkrankheit in den 80er Jahren sei auf die Verbindung zwischen der Persönlichkeitsstörung und den Belastungen in der Lebenssituation des Klägers zurückzuführen. Ein Zusammenhang zwischen der ersten Phase eines chronischen Alkoholmissbrauches mit der Rückfallhäufigkeit sei wissenschaftlich nicht belegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gutachten vom 07.10.1996 und vom 27.12.1996 sowie die ergänzende Stellung nahme vom 22.05.1997 verwiesen.

Auf Antrag des Klägers hat das SG gemäß § 109 SGG ein Gutachten von der Ärztin der Rheinischen Landeskliniken in D., der Psychiaterin Dr. L., eingeholt.

Die Sachverständige hat beim Kläger eine schizothyme, schizoide und/oder narzistische Persönlichkeit, eine Alkolabhängigkeit sowie eine neurotische Depression festgestellt. Die schizothyme, schizoide und/oder narzistische Persönlichkeit und die bestehende Alkoholkrankheit seien nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes oder einer unterlassenen psychiatrischen Behandlung während der Bundeswehrzeit zurückzuführen. Desweiteren bestehe beim Kläger ein chronifiziertes depressives Syndrom, das nicht Folge- oder Begleiterscheinung der Alkoholabhängigkeit, sondern ein eigenständiges Krankheitsbild sei. Wegen der dokumentierten depressiven Symptome und des Suizidversuches sei während der Bundeswehrzeit eine psychiatrische Betreuung indiziert gewesen. Die fehlende Behandlung, die Durchführung von Disziplinarmaßnahmen sowie die Entlassung aus der Bundeswehr habe zu einer narzistischen Traumatisierung und damit zur Verschlimmerung und Chronifizierung der neurotischen Symptome beim Kläger geführt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 29.05.1998 und der ergänzenden Stellungnahme vom 18.08.1998 verwiesen.

Mit Urteil vom 04.12.1998 hat das SG A. die Klage abgewiesen.

Es hat u.a. ausgeführt, dass der Beklagte das Begehren des Klägers zu Recht für den Zeitraum von Januar 1974 bis Februar 1983 unter Berufung auf § 80 Abs. 1 S. 1 SVG i. V. m. § 60 Abs. 1 S. 1 BVG wegen fehlender Antragstellung abgelehnt habe. Erst mit Schreiben vom 07.03.1983, habe der Kläger sein Begehren auf Gewährung einer Versorgung wegen einer WDB bei einer zuständigen Stelle i.S.v. §§ 80, 88 Abs. 5 S.2 Nr. 2 SVG zum Ausdruck gemacht. Es könne dahin stehen, ob die vom Kläger behauptete Vorsprache bei der Sanitätsstaffel des Flugkörpergeschwaders II in Geilenkirchen im Januar 1974 mit dem Begehren, auf Kosten der Bundeswehr weiterbehandelt zu werden, als Antrag auf Gewährung einer Versorgung nach § 80 SVG aufgefasst werden könne. Jedenfalls sei ein solcher Antrag bei einer unzuständigen Stelle i. S. v. § 6 Abs. 2 KOV/VfG und § 16 Abs. 1 S. 2 SGB AT gestellt worden und damit unwirksam. Ein Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 80 SVG i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 3 BVG liege nicht vor. Dem Kläger müsse das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten in den 70er Jahren zugerechnet werden. Ein Anspruch auf Versorgung nach § 80 SVG sei ab März 1983 wegen Fehlens von Schädigungsfolgen nicht gegeben. Der Beklagte sei berechtigt gewesen, gemäß § 88 Abs. 3 SVG von der Bindungswirkung des Urteils des Sozialgerichts A. vom 26.09.1990 abzuweichen. In der als Schädigungsfolge anerkannten "Alkoholkrankheit " sei eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gemäß § 48 SGB X eingetreten. Weitere Schädigungsfolgen lägen nicht vor.

Gegen das am 18.12.1998 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15.01.1999 beim LSG Nordrhein-Westfalen Berufung eingelegt.

Er verfolgt sein Begehren weiter. Ergänzend trägt er vor, die fehlende Antragstellung bis 1983 sei auf das Unterlassen einer sachgerechten Beratung durch die zuständigen Stellen der Bundeswehr zurückzuführen. Die Bundeswehr sei aufgrund der ihr obliegen den Fürsorgepflicht verpflichtet gewesen, ihn umfassend über die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Versorgung nach dem SVG aufzuklären, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er als Alkoholkranker nicht mehr in der Lage gewesen sei, seine Interessen sachgerecht wahrzunehmen. Die Alkoholkrankheit und ihre Auswirkungen seien der Bundeswehr bekannt gewesen. Das SG sei auch nicht berechtigt gewesen, von der Bindungswirkung des Urteils des Sozialgerichts A. vom 26.09.1990 gemäß § 88 Abs. 3 S.3 SVG abzuweichen. Die stationäre Entwöhnungsbehandlung und Psychotherapie in den Jahren 1974 - 1978 und ihre Auswirkungen seien schon Gegenstand des vorausgegangenen Sozialgerichtsverfahrens gewesen. Nach der Adäquanztheorie wie auch der Theorie der wesentlichen Bedingungen sei ein Kausalzusammenhang zwischen der fehlerhaften (unterlassenen) Behandlung während der Bundeswehrzeit und der Entwicklung einer depressiven Symptomatik i.S. einer Dysthymie zumindest i.S. einer Verschlimmerung gegeben. Insoweit nimmt der Kläger Bezug auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr. L ...

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 04.12.1998 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 28.04.1994 und 10.01.1995, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.03.1995, zu verurteilen, ihm Versorgung nach § 80 SVG nach einer MdE um 100 % für die Zeit ab 01.01.1974 und nach einer MdE um 30 % für die Zeit ab 01.08.1976 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Auch unter Berücksichtigung der Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 BVG sei er berechtigt gewesen, dem Kläger Leistungen ab 1983 zu versagen. Es sei eine wesentliche Besserung im Gesundheitszustand des Klägers im Sinne von § 48 SGB X eingetreten und der leistungsversagende Bescheid nach Ablauf der in § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG genannten Frist, gerechnet vom Beginn der Ausgleichsleistungen, erteilt worden. Insoweit entfalte die vom Sozialgericht A. mit Urteil vom 26.09.1990 festgestellte MdE keine Bindungswirkung.

Der Senat hat die Bundesrepublik Deutschland beigeladen.

Die Beigeladene hat sich den Ausführungen des Beklagten angeschlossen.

Der Senat hat die Krankenhausunterlagen des St. Augustinus Krankenhauses und der Rheinischen Kliniken in D., die Akte des Verwaltungsgerichts A. 1 K 878/90, Unterlagen der AOK Rheinland, Regionaldirektion D.-J., über den Kläger sowie Unterlagen des Instituts für Berichtswesen und Wehrmedizinalstatistik bei gezogen und eine Auskunft der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der RWTH A. und des Kreiswehrersatzamtes J. eingeholt. Anschließend hat er den Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des St. Antonius-Krankenhauses K., PD Dr. B., mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt.

Auf den Inhalt des Gutachtens vom 05.07.2000 wird verwiesen.

Durch Art. 1 § 3 Satz 1 des 2. Gesetzes zur Modernisierung von Regierung und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen (2. ModernG) ist das Landesversorgungsamt mit Wirkung zum 31.12.2000 aufgelöst worden. Die dem Landesversorgungsamt durch Gesetz und Rechtsverordnung übertragenen Aufgaben sind gemäß Art. 1 § 3 Satz 1 des 2. ModernG auf die Bezirksregierung Münster übertragen worden, die in der Abteilung 10 "Soziales und Arbeit, Landesversorgungsamt" (Rderl. des Innenministeriums vom 13.12.2000) wahrgenommen werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten des Beklagten und der Beigeladenen sowie der beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte entscheiden.

Die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Prozessvertretung des Beklagten i.S.d. § 71 Abs. 5 SGG sind gewahrt. Als Folge der Auflösung der bisherigen Landesoberbehörde "Landesversorgungsamt" ist ab 01.01.2001 der bisherige gesetzliche Vertreter des Beklagten ausgewechselt worden. Die Bezirksregierung Münster tritt nunmehr für das Land Nordrhein-Westfalen (NW) auf.

Diese Behörde erfüllt als die auf dem Gebiet des sozialen Entschädigungsrechts und des Schwerbehindertenrechts fachkundigste Stelle der Verwaltung des Landes - jedenfalls in der jetzigen Ausgestaltung (Einsatz der Bediensteten des bisherigen Landesversorgungsamts in der Abteilung 10 der Bezirksregierung) - die in § 71 Abs. 5 SGG statuierten Voraussetzungen für den gesetzlichen Vertreter des Landes NW in Angelegenheiten des Soldatenversorgungsgesetzes unabhängig davon, ob die Auflösung des Landesversorgungsamtes und die Übertragung seiner Aufgaben auf die Bezirksregierung Münster - wofür einiges spricht - gegen die bundesgesetzlichen Bestimmungen verstößt (LSG NW, Urteile vom 25.01.2001, L 7 V 54/99 u. L 7 SB 47/99, vom 30.01.2001, L 6 SB 100/99, vom 31.01.2001, L 10 VS 28/00).

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise begründet.

Dem Kläger steht für die Zeit vom März 1983 bis Februar 1993 ein Anspruch auf Gewährung einer Versorgungsgrundrente nach § 80 S.1, 85 Abs. 4 S.1 SVG i. V. m. § 62 Abs. 2 BVG nach einer MdE um 50 % gegenüber dem Beklagten zu.

Nach § 80 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung (WDB) erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstes wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der WDB auf Antrag Versorgung.

Das SG hat zutreffend den Anspruch des Klägers auf Versorgung nach § 80 SVG für die Zeit vom Januar 1974 bis Februar 1983 wegen fehlender Antragstellung abgelehnt. Bei den in § 80 S. 1 SVG statuierten Antragserfordernis handelt es sich um eine materiellrechtliche (rechtsbegründende) Voraussetzung für den Versorgungsanspruch aus § 80 SVG. Nach § 80 S. 1 SVG i.V.m. § 60 Abs. 2 S. 1 BVG beginnt die Versorgung aus § 80 SVG mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Erst mit Schreiben vom 07.03.1983, adressiert an den Bundesminister für Verteidigung, hat der Kläger einen wirksamen Antrag i. S. v. § 80 SVG gestellt. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des SG, die er sich nach eigener Überprüfung zu eigen macht. Entgegen der Auffassung des Klägers ist der 1974 gestellte Antrag auf Heilbehandlung bei der zuständigen Krankenkasse nicht als Antrag auf Versorgung zu werten. Der Antrag auf Gewährung von Heilbehandlung umfaßt das Begehren auf Behandlung einer Krankheit, jedoch nicht zwangsläufig das Begehren, wegen einer Gesundheitsstörung Versorgung zu erhalten. Zu Gunsten des Klägers greifen die Vorschriften des § 60 Abs. 1 S.2 und S.3 BVG nicht ein. Der Antrag des Klägers ist weder innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung - der Alkoholkrankheit - gestellt worden noch ist er ohne sein Verschulden an eine Antragstellung vor Februar 1983 gehindert gewesen. Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand im Falle der Versäumung einer materiellrechtlichen Antragsfrist - hier der Frist des § 80 S. 1 SVG i.V.m. § 60 Abs. 1 S. 1 und 2 BVG - wird gewährt, wenn der Verfahrensbeteiligte diejenige Sorgfalt eingehalten hat, die einem gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles zumutbar ist. Dabei ist ein subjektiver auf die konkrete Person bezogener Maßstab, insbesondere unter Berücksichtigung seines Erkenntnisvermögens, anzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 15.08.2000, B 9 VG 1/99 R). Unverschulden liegt vor, wenn ein außerhalb des Willens eines Verfahrensbeteiligten liegender Umstand die Einhaltung einer Antragsfrist verhindert hat. Hierzu werden nicht nur Naturereignisse, höherer Gewalt oder andere unabwendbare Ereignisse gerechnet, sondern auch der Umstand, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der ihm zumutbaren Sorgfalt das Vorliegen von Tatsachen, die einen Anspruch möglicherweise begründen können, nicht erkannt hat (vgl. LSG NW, Urteil vom 04.06.1998, L 7 VJ 70/97 m. w. N.). Rechtsunkenntnis und Rechtsanwendungsunkenntnis sind nicht als Verhältnisse anzusehen, die außerhalb des Willens eines Berechtigten liegen (vgl. Urteil des BSG vom 15.08.2000, B 9 VG 1/99 R; LSG NW, Urteil vom 04.06.1998, L 7 VJ 70/97 m.w.N.). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen mit ihrer Veröffentlichung bekannt sind. Auch hat der Kläger spätestens mit Zustellung des Urteils des Truppendienstgerichts Mitte am 09.11.1977 Kenntnis der Tatsachen erlangt, die einen Anspruch auf Versorgung nach § 80 SVG möglicherweise begründen können - das wahrscheinliche Vorliegen einer Alkoholkrankheit als krankhafte Gesundheitsstörung seit 1972 sowie Umfang und Ausmaß der truppenärztlichen Versorgung. Das Truppendienstgericht Mitte hat seine Einschätzung hinsichtlich einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers bei der Begehung der Dienstpflichtverletzung im wesentlichen auf die Feststellungen der Sachverständigen Dr. S. gestützt, deren Ausführungen wie folgt in den Urteilsgründen wiedergegeben worden sind: "Der Gesamtkomplex sei im Jahre 1975 als Alkoholkrankheit aufgefasst worden. Dieses Krankheitsbild habe nach Zusammenfassung aller früheren ärztlichen Feststellungen sowie der jetzigen Angaben des früheren Soldaten, die vorstehend dargestellt worden sind, mit größter Wahrscheinlichkeit im Jahre 1972 vorgelegen. Die Fehlhandlungen des früheren Soldaten seien demnach Ausfluß aus seiner krankhaften Gesundheitsstörung". Desweiteren ist in den Entscheidungsgründen der Verlauf der truppenärztlichen Behandlung des Klägers seit April 1971 auf neurologisch-psychatrischem Gebiet einschließlich der dabei gestellten Diagnosen detailliert dargestellt worden. Im November 1977 ist der Kläger auch wieder handlungsfähig gewesen, wenn unterstellt wird, dass der Kläger auf Grund seiner Alkoholkrankheit nach der Entlassung aus der Bundeswehr im Dezember 1973 vorübergehend handlungsunfähig gewesen ist. Dies folgt aus dem Bericht der behandelnden Nervenärztin Dr. R. vom 23.12.1977, wonach der Kläger nicht mehr alkoholabhängig war und eine berufliche Wiedereingliederung empfahl. Auch die im Verfahren gehörten Sachverständigen gehen davon aus, dass die Alkoholkrankheit des Klägers durch die stationäre Entgiftungsmaßnahme erfolgreich behandelt worden ist und beim Kläger seit Januar 1977 keine Alkoholexzesse mehr aufgetreten sind. Damit sind spätestens im November 1977 die Hindernisse weggefallen, die einer Antragstellung entgegengestanden haben. Das daraufhin erfolgte Unterlassen einer Antragstellung muss sich der Kläger zurechnen lassen.

Seit Antragstellung im März 1983 besteht nach der übereinstimmenden Feststellung aller im Verfahren gehörten Sachverständigen beim Kläger eine Persönlichkeitsstörung, eine depressive Symptomatik und eine Alkoholkrankheit.

Hinsichtlich der beiden Gesundheitsstörungen "Persönlichkeitsstörung" und "depressive Symptomatik" greift zu Gunsten des Klägers nicht die in § 88 Abs. 3 SVG statuierte Bindungswirkung ein. Nach § 88 Abs. 3 SVG sind bekanntgegebene Entscheidungen einer Behörde der Bundeswehrverwaltung oder eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts der Sozialgerichtsbarkeit für den Beklagten bei der Entscheidung über den Versorgungsanspruch aus § 80 SVG verbindlich, wenn in der Angelegenheit über den Ausgleich über die Frage einer WDB, des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Tatbestand des § 81 SVG und die Höhe der MdE entschieden wor den ist. Insoweit entfalten solche Entscheidungen im Verfahren über die Gewährung von Versorgung nach § 80 SVG durch den Beklagten Tatbestandswirkung (vgl. BSG, Urteil vom 16.05.1995, 9 RV 1/94; vom 02.07.1997, 9 RV 21/95). Die Beklagte ist insoweit nur unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt, von solchen Entscheidungen abzuweichen. Die materielle Rechtskraft des Urteils des SG A. vom 26.09.1990 beschränkt sich auf die Anerkennung einer Alkoholkrankheit als Schädigungsfolge nach einer WDB mit einer MdE um 50 % und die Verpflichtung der Bundesrepublik zur Gewährung eines Ausgleiches. Die beiden Gesundheitsstörungen "Persönlichkeitsstörung" und "depressive Symptomatik" wurden vom SG A. nicht als Schädigungsfolge ausgeurteilt und werden damit von der Bindungswirkung nicht erfasst. Bei diesen Gesundheitstörungen handelt es sich nach den übereinstimmenden Feststellungen der drei im Verfahren gehörten Sachverständigen nicht um Folge- oder Begleiterscheinungen der Alkoholkrankheit, sondern um eigenständige Krankheitsbilder. Ebenso hat das WBGA V in dem Ausführungsbescheid vom 13.02.1991, der einen Verwaltungsakt i. S. v. § 31 SGB X darstellt, (vgl. BSG, Urteil vom 16.05.1995, 9 RV 1/94) nur die Gesundheitsstörung "Alkoholkrankheit" als Schädigungsfolge, hervorgerufen i.S.d. Entstehung von schädigenden Einwirkungen i. S. v. § 81 SVG, anerkannt.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist nicht erwiesen, dass die Gesundheitsstörungen "Persönlichkeitsstörung" und "depressive Symptomatik" durch eine WDB verursacht worden sind. Der Senat stützt sich dabei auf die Feststellungen der beiden Sachverständigen Dr. M. und PD Dr. B ... Die Gutachten sind in sich schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar begründet. Sie beruhen auf einer eingehenden ambulanten klinischen Untersuchung des Klägers sowie kritischen Auswertung der beigezogenen ärztlichen Unterlagen. Sie stimmen auch mit den Vorgaben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) 1996 überein. Die Feststellungen der beiden Sachverständigen stehen im wesentlichen auch nicht im Widerspruch zu denen der nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen Dr. L ...

Eine WDB ist gem. § 81 Abs. 1 SVG eine gesundheitliche Schädigung, die u. a. durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Zu den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zählen auch die Besonderheiten der truppenärztlichen Versorgung, insbesondere der Auschluss der freien Arztwahl (vgl. BSG, Urteil vom 12.04.2000, B 9 VS 2/99 R m. w. M.). Die geschützte Tätigkeit, die Schädigung und die Schädigungsfolgen müssen voll, d. h. mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer WDB genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges (§ 81 Abs. 6 Satz 1 SVG). Es muss mehr für als gegen ihn sprechen, die WDB muss i. S. einer zumindest annähernd gleichwertigen Bedingung für die Entstehung oder Verschlimmerung der Schädigungsfolge ursächlich sein. Daran fehlt es, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar gewesen ist, dass auch jedes andere täglich vorkommende Ereignis oder Belastung zu der selben Zeit die gesundheitliche Störung ausgelöst hätte, also die WDB für ihre Auslösung nicht unersetzbar, sondern mit anderen allgemeinen Ereignissen oder Belastungen austauschbar gewesen ist (Gelegenheitsursache).

Die Persönlichkeitsstörung des Klägers ist nach den übereinstimmenden Feststellungen aller im Verfahren gehörten Sachverständigen nicht auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zurückzuführen, sondern es handelt sich um eine frühkindlich erworbene Störung. Diese Kausalitätsbeurteilung stimmt überein mit den Vorgaben der AP 1996 zur Kausalitätsbeurteilung von abnormen Persönlichkeiten (Nr. 72). Die AP 1996 geben nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 27.08.1998 B 9 VJ 2/97 R; vom 28.07.1999 B 9 V 27/98 R) den der herrschenden medizinischen Lehrmeinung entsprechenden aktuellen Erkenntniss- und Wissenstand u.a. über die Ursachen von Gesundheitsstörungen nach versorgungsrechtlich geschützten Tatbeständen wieder. Die als medizinischen Sachverständigen tätigen Gutachter und Versorgungsverwaltungen sind an die in den AP enthaltenen Erkenntnisse für die Begutachtung bzw. Entscheidung der Anträge auf Versorgung gebunden.

Ebenfalls hat das SG zutreffend die Wahrscheinlichkeit zwischen wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen und der depressiven Symptomatik des Klägers verneint. Die depressive Symptomatik ist weder i. S. der Entstehung noch der Verschlimmerung durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse verursacht worden. Die Sachverständigen qualifizieren übereinstimmend die bei dem Kläger vorliegende depressive Symptomatik als neurotische Depression, das Vorliegen einer psychotischen Depression oder hirnorganisch begründeten Depression schliessen sie aus. Die neurotische Depression stellt nach den übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen keine Folge- oder Begleiterscheinung der Alkoholkrankheit da, sondern sie ist mit der Persönlichkeitsstörung des Klägers assosziiert. Die Entstehung der neurotischen Depression ist nicht auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zurückzuführen, sondern schicksalhaft bedingt. Ursache von neurotischen Depression sind nach Ausführungen von PD Dr. Bunse, die im wesentlichen mit denen der übrigen Sachverständigen übereinstimmen, psychische Konfliktspannungen (unbewusste Konflikte), die aus der frühkindlichen Traumatisierung des Klägers herrühren. Diese Ausführungen stehen in der Übereinstimmung mit den Vorgaben der AP 1996 zur Kausalitätsbeurteilung von Neurosen. Nach Nr. 70 AP 1996 sind Neurosen das Ergebniss einer bis in die Kindheit zurückgehende seelischen Fehlentwicklungen, wobei der pathogenetische Schwerpunkt auf der Entstehung der prämorbiden neurotischen Struktur liegt. Sie können nur dann in einem ursächlichen Zusammenhang mit schädigenden Einflüssen stehen, wenn diese in früher Kindheit über längerer Zeit im erheblichen Umfang waren. Daher kann auch den Ausführungen der Sachverständigen Dr. L. insoweit nicht gefolgt werden, wonach die Chronifizierung der depressiven Symptomatik i.S. einer Verschlimmerung auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse - eine unzureichende medizinische Behandlung durch den truppenärztlichen Dienst - zurückzuführen ist. Nach Auffassung dieser Sachverständigen hat die Einleitung eines Disziplinars- und Entlassungsverfahrens, die chronische Belastung des Klägers in den Jahren 1972/1973 - Einsatz unter Alkoholabhängigkeit und depressiver Verstimmung ohne therapeutische Begleitung - sowie die mangelnde medizinische - psychiatrische Behandlung durch den truppenärztlichen Dienst im Zusammenwirken mit der Persönlichkeitsstörung zu einer phatologischen Erlebnisverarbeitung und dadurch zu einer Chronifizierung der depressiven Symptomatik geführt. Die Einschätzung von Dr. L., dass wehrdiensteigentümliche Verhältnisse, insbesondere die unzureichende truppenärztliche Behandlung, zumindest eine annähernd gleichwertige Ursache für die Chronifizierung der depressiven Symptomatik ist, steht insoweit in Widerspruch zu den Vorgaben der AP 1996 zur Kausalitätsbeurteilung von Neurosen, wonach diese nur dann in einem ursächlichen Zusammenhang mit schädigenden Einflüssen stehen, sind diese in früherer Kindheit über längerer Zeit und in erheblichen Umfang wirksam waren. Solche schädigenden Einflüsse nimmt die Sachverständige nicht an, vielmehr Einflüsse auf den Kläger im Erwachsenenalter. Desweiteren hat PD Dr. B. dargelegt, dass beim Kläger während der Bundeswehrzeit eine so leicht ansprechende Krankheitsanlage zur Ausbildung einer chronischen depressiven Symptomatik bestanden hat, dass auch andere Ereignisse, wie z. B. die damals bestehende eheliche Problematik, jederzeit zu vergleichbaren Folgeerscheinungen hätten führen können.

Der Beklagte ist berechtigt gewesen, für die Zeit ab März 1993 die Anerkennung der Alkoholkrankheit als Schädigungsfolge und das Vorliegen einer messbaren MdE für die Alkoholkrankheit zu verneinen. Für den Zeitraum zwischen der Antragstellung im März 1983 und Februar 1993 greift die Schutzvorschrift des § 85 Abs. 4 Satz 1 SVG i. V. m. § 62 Abs. 2 S. 1 BVG zu Gunsten des Klägers ein.

Nach § 88 Abs. 3 SVG ist das rechtskräfte Urteil des SG A. vom 26.09.1990 über die Anerkennung einer Alkohlkrankheit als Schädigungsfolge nach einer WDB mit einer MDE von 50 % ab Juli 1973 bei der Prüfung des Anspruches nach § 80 SVG für die Zeit ab Januar 1974, dem Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Bundeswehr, für den Beklagten bindend. Er kann von dieser Entscheidung nur unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X zu Ungunsten des Klägers abweichen (§ 88 Abs. 3 S.3 SVG).

Gemäß § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung abzuändern, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung im Ausmaß der Schädigungsfolgen ist u. a. nur dann nach Nr. 24 Abs. 2 AP 1996, gegeben, wenn der Vergleich des gegenwärtigen mit dem verbindlich festgestellten Gesundheitszustand eines Klägers eine MdE-Differenz mindestens 10 v.H. ergibt. Dabei ist vorliegend auf die anerkannten Schädigungsfolgen und die dadurch bedingten Funktionsbehinderungen im Juli 1973 abzustellen und dieser Zustand mit dem ab Antrag stellung zu vergleichen. Die Voraussetzung des § 48 SGB X sind erfüllt.

Nach den übereinstimmenden Feststellungen aller im Verfahren gehörten Sachverständigen ist in der als Schädigungsfolge anerkannten "Alkoholkrankheit" nach erfolgreicher Durchführung der stationären Entgiftungsbehandlung und der anschließenden psychotherapeutischen Behandlung spätestens im Dezember 1978 eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen i.S. einer Besserung eingetreten. Die stationäre Entgiftungsbehandlung ist in den Jahren 1975/76 erfolgreich durch geführt worden. Der Kläger hatte bis 1981 die Fähigkeit zur Abstinenz. Die in den AP 1983 und 1996 vorgesehene Heilungsbewährung nach einer Entziehungsbehandlung bei Alkoholabhängigkeit mit einer Dauer im allgemeinen von 2 Jahren (Nr. 26. 3. S. 49; S. 61) lief im Dezember 1978 ab. Die funktionellen Auswirkungen der Alkoholabhängigkeit bedingten ab Dezember 1978 nach den Erfahrungssätzen der AP von 1983 und 1996 keine messbare MdE mehr. Alkoholbedingte Organschäden oder das Vorliegen einer dauerhaften suchtspezifischen Persönlichkeitsveränderung als Folge des ersten exessiven Alkoholmissbrauches haben die Sachverständigen nicht festgestellt. Die zweite Phase des exzessiven Alkoholmissbrauches von 1981 bis 1987 ist nach Darlegung sämtlicher Sachverständiger nicht auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zurückzuführen. Für diese Phase ist die Persönlichkeitsstörung im Zusammenwirken mit akuten äußeren Belastungen ursächlich gewesen. Die verzögerte Behandlung der Alkoholkrankheit während der Bundeswehrzeit hat das Rückfallrisiko nicht erhöht. Mit der stationären Entwöhnungsbehandlung und der anschließenden Psychotherapie ist das Behandlungsziel erreicht worden, welches bei zeitgerechter Behandlung während der Bundeswehrzeit zu erreichen gewesen wäre. Bei frühzeitiger Behandlung hätte ein Rückfallrisiko von mindestens 50 % bestanden. Es ist wissenschaftlich nicht erwiesen, dass das Rückfallrisiko bei frühzeitiger Behandlung der Alkohlkrankheit geringer gewesen wäre, als nach der um etwa 3 Jahre verspäteten erfolgreichen Behandlung.

Zwar bedingt die anerkannte Schädigungsfolge "Alkoholkrankheit" spätestens seit Januar 1979 keine messbare MdE. Der Beklagte ist aber erst mit Wirkung ab März 1993 berechtigt, die MdE niedriger, d. h. vorliegend auf Null festzustellen. Die Höhe der MdE hat das WBGA V mit Bescheid vom 13.02.1991 mit 50 % ab 01.07.1973 verbindlich festgestellt. Eine zeitliche Begrenzung der Höhe der MdE für die Dauer des Wehrdienstes enthält der Bescheid nicht. Das WBGA V hat lediglich in einem weiteren Verfügungssatz gem. § 85 Abs. 4 SVG entschieden, dass die Ausgleichszahlungen in Höhe der anerkannten MdE vom 01.07. bis 31.12.1973 zu leisten ist. Damit entfaltet die MdE-Festsetzung generell Zukunftswirkung, d. h. sie gilt über den Zeitraum für die Leistung des Ausgleiches und damit über das Ende des Wehrdienstes hinaus. Insoweit entfaltet sie auch Bindungswirkung für den Beklagten. Dabei ist für die Bindungswirkung des Ausführungsbescheides unerheblich, dass das WBGA V die Entscheidung erst 18 Jahre nach dem Ausscheiden des Klägers aus dem Wehrdienst getroffen hat. Das WBGA V kann nach § 88 Abs. 2 SVG eine Entscheidung über Ausgleichszahlungen auch nach dem Ausscheiden des Soldaten aus dem Wehrdienst treffen (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VS 1/99 R). Nach § 85 Abs. 4 S.2 SVG findet die Schutzbestimmung des § 62 Abs. 2 S.1 BVG auf Feststellungsbescheide über Ausgleichszahlungen Anwendung. Danach darf die MdE eines rentenberechtigten Geschädigten nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Feststellungsbescheides der erstentscheidenden Behörde niedriger festgesetzt werden. Diese Schutzfrist gilt auch beim Übergang vom Ausgleich - auf den Versorgungsanspruch (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 B 9 VS 1/99 R; vom 12.12.1995, 9 RV 2/94). Insoweit geht § 62 Abs. 2 S. 1 BVG der Regelung des § 48 SGB X vor (Rohr/Sträßer, Bundesversorgungsgesetz, § 2 BVG K 29). Vorwiegend bedeutet dies, dass der Beklagte erst nach Ablauf der Schutzfrist befugt gewesen ist, die MdE auf Null festzusetzen. Die Schutzfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG beginnt zu Gunsten des Klägers mit Bekanntgabe des Feststellungsbescheides, also des Ausführungsbescheides vom 13.02.1991, d. h. ab 17.02.1991 zu laufen. Denn bei dem Ausführungsbescheid vom 13.02.1991 handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG um einen Verwaltungsakt i.S.v. § 31 SGB X, wobei seine Bindungswirkung keine andere ist, wie wenn das WBGA V entsprechende Leistung nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage ohne vorhergehende gerichtliche Auseinandersetzung und der Feststellung einer bindungsfähigen MdE gewährt hätte (vgl. BSG, Urteil vom 02.07.1997, 9 RV 21/95). Für den Beginn des Laufes der Schutzfrist ab Bekanntgabe des Feststellungsbescheides spricht auch die Regelung des § 60 Abs. 4 S.2 BVG, wonach eine Entziehung von Leistungen wegen Besserung des Gesundheitszustandes erst mit Ablauf des Monats eintritt, der auf die Bekanntgabe des die Änderung aussprechendes Bescheides folgt. Dies schließt eine rückwirkende Entziehung von Leistungen aus.

Die Schutzfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG endet nach Ablauf von zwei Jahren zum 16.02.1993. Die Schutzfrist wird nicht gem. § 62 Abs.1 S.2 BVG gekürzt. Zwar ist durch eine Heilbehandlung - der Durchführung einer stationären Entgiftungsbehandlung und einer anschließenden ambulanten psychotherapeutischen Behandlung - eine wesentliche nachhaltige Steigerung der Erwerbstätigkeit des Klägers erreicht worden. Diese Steigerung der Erwerbsfähigkeit ist aber nicht durch eine Heilbehandlung nach dem BVG oder nach Gesetzen, die das BVG für anwendbar erklären, erreicht worden. Die Kosten der Heilbehandlung sind weder von der Bundeswehrverwaltung noch vom Beklagten getragen worden. Die Neufassung des § 88 Abs. 2 SVG durch Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze vom 06.12.2000 betrifft die vorliegende Fallgestaltung, insbesondere den Beginn des Lauf der Frist nach § 62 Abs. 2 BVG ab Bekanntgabe einer Entscheidung der Wehrbereichtsverwaltung nicht.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger für die Zeit vom März 1983 bis Februar 1993 Versorgungsgrundrente nach eine MDE um 50 % aus § 62 Abs. 2 S.1 BVG zu gewähren.

Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich einen Anspruch auf Versorgung für die Zeit vor März 1983 auch nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten. Dabei kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches, insbesondere eine dem Beklagten zurechenbare Pflichtverletzung der Behörden der Bundeswehrverwaltung in Form einer unzureichenden Beratung gegeben sind. Nach gefestigter Rechtsprechung des BSG wirkt ein aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ableitbarer Versorgungsanspruch, ausgehend von dem Zeitpunkt der verspäteten Antragstellung, nur vier Jahre zurück (zuletzt BSG Urteil vom 28.04.1999 B 9 V 16 98 R m.d.m.) also vorliegend bis Januar 1979 zurück. In dem Zeitraum von Januar 1979 bis Februar 1983 haben beim Geschädigten keine Gesundheitsstörungen vorgelegen, die durch eine WDB verursacht worden sind. In der Schädigungsfolge "Alkoholkrankheit" ist nach Durchführung einer stationären Entgiftungsbehandlung eine wesentliche Besserung eingetreten, so das keine messbare MDE mehr vorgelegen hat. Weitere Schädigungsfolgen sind nicht hinzugetreten. Auf die obigen Ausführungen wird Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird gem. § 160 Abs. 2 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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