S 36 SB 132/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
36
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 36 SB 132/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 21.02.2001 und des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 50 ab Oktober 2000 festzustellen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen).

Mit Abhilfebescheid vom 24.07.2000 hatte das Versorgungsamt bei dem 1958 geborenen Kläger einen Grad der Behinderung von 30 festgestellt. Dem lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde: BG-Leiden: Knöchern fest verheilter Bruch des linken Schien- und Wadenbeines mit Außenfehlstellung des Fußes, endgradiger Bewegungseinschränkung des oberen und unteren Sprunggelenkes, Minderung der Muskulatur des Beines, Gang- und Standbehinderung, Kalksalzminderung der Knochen im Bruchbereich sowie subjektiven Beschwerden (Einzel-GdB 20); Wirbelsäulenbeschwerden, Bandscheibenleiden (Einzel-GdB 20).

Die weitere Widerspruchsbegründung des Klägers ging im damaligen Verwaltungsverfahren erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides ein, sodass der Beklagte dieses Schreiben des Klägers vom Oktober 2000 als Antrag auf Feststellung eines höheren GdB auslegte und dem Kläger ein Änderungsantragsformular übersandte. In diesem teilte der Kläger eine neu aufgetretene Gesundheitsstörung (Diabetes mellitus) mit. Das Versorgungsamt zog den aktuellen Bescheid der Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft bei, ausweislich dessen die MdE für die Folgen des Berufsunfalls nach wie vor 20 betrug und holte Befundberichte von den Allgemeinmedizinern Dr. N. und Dr. H. ein. Der versorgungsärztliche Berater erkannte als weitere Funktionsbeeinträchtigung einen Diabetes mellitus an, den er mit einem GdB von 30 bewertete, sodass mit Bescheid vom 21.02.2001 der Gesamt-GdB auf 40 festgestellt wurde. Hiergegen erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch und bat um Überprüfung der Bewertung. Dieser Anregung kam der Beklagte nicht nach, sondern wies mit Widerspruchsbescheid vom 27.03.2001 den Widerspruch als unbegründet zurück.

Der Kläger hat am 27.04.2001 Klage erhoben, mit der er zunächst die Feststellung eines GdB von 50 und des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleich "G" beantragt hat. Er sieht unter Berücksichtigung seiner orthopädischer Beeinträchtigung und besonders der Folgen des Diabetes die Schwerbehinderteneigenschaft als erreicht an.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 21.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2001 einen Gesamt-Grad der Behinderung von 50 ab Oktober 2000 festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält den Gesamt-Behinderungszustand von 40 für angemessen und verweist auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten von dem Arzt H. und von dem Allgemeinmediziner und Diabetologen Dr. N. Sodann hat es zur Frage, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger vorliegen, die die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigen und welcher GdB dadurch bedingt wird, Sachverständigengutachten von dem Internisten und Diabetologen Dr. F. vom April 2002 und dem Orthopäden Dr. P. vom Februar 2002 eingeholt. Wegen des Inhalts der Gutachten wird auf Bl. 44 ff. und 68 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.

Dr. F. als Hauptgutacher hat den Gesamt-GdB auf 50 geschätzt und dabei als Funktionsbeeinträchtigungen einen Diabetes mellitus Typ II mit intensivierter Insulinbehandlung mit einem Einzel-GdB von 40, ein rechts betontes Lumbalsyndrom mit einem Einzel-GdB von 20, das BG-Leiden mit einem Einzel-GdB von 20 und eine ekzematöse Veränderung der rechten Hand mit einem Einzel-GdB von 10 berücksichtigt. Der Beklagte hat zwar mitgeteilt, dass den Feststellungen in den beiden Gutachten überwiegend gefolgt werden könne, dass allerdings bei der Beurteilung des Diabetes von den Feststellungen von Dr. F. abgewichen werde und stattdessen nach wie vor ein GdB von 30 zugrundegelegt werde. Es handele sich um eine Typ II Diabetes. Aus der Tagung der Sektion Versorgungsmedizin am 07./08.11.2001 gehe als begutachtungsrelevanter Beschluss hervor, dass die Bewertung des Diabetes mellitus primär vom Typ und der jeweiligen Ausprägung und Auswirkung der Stoffwechselstörung und nur sekundär von der Art der Behandlung abhängig sei. Werde ein Typ II Diabetes mellitus allein mit Insulin behandelt und sei er unter dieser Behandlung ausreichend eingestellt, komme nur ein GdB von 30 in Betracht. Dies sei nach dem Gutachten der Fall, sodass der Gesamt-GdB nur 40 betrage.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Bescheid ist rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40 wegen wesentlicher Änderungen der gesundheitlichen Verhältnisse im Vergleich zu den Feststellungen vom 24.07.2000 nach §§ 48 Abs. 1 SGB X, 2 Abs. 1, 69 Abs. 3 SGB IX.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen sind bei dem Kläger gegeben, und zwar in einem höheren Maße, als der Beklagte durch den angefochtenen Bescheid mit einem GdB von 40 Rechnung getragen hat.

Allerdings ist bezüglich der orthopädischen Beeinträchtigung keine wesentliche Änderung eingetreten. Das BG-Leiden ist nach den Feststellungen des orthopädischen Sachverständigen Dr. P. mit einem GdB von 20 entsprechend der Bewertung der GroLa-BG angemessen eingeschätzt. Als Folge des BG-Unfalls bestehen am linken Unterschenkel deutlich sichtbare Verschmächtigungen der Wadenmuskulatur mit einem geringfügig gestörten Hautkolorit, einer Druckempfindlichkeit der Sprunggelenksregion, einer geringen Druckempfindlichkeit der Achillessehne, einer geringfügigen Instabilität des kollateralen Bandapparates am Sprunggelenk und einer eingeschränkten aktiven und passiven Hebe-/Beugefähigkeit des Sprunggelenkes. Auch die Weichteile des linken Fußes wirken verschmächtigt, der Knochenbau geringfügig deformiert, sodass sich eine deutlich erhöhte Beschwielung am Großzehenballen zeigt. Die Röntgenaufnahmen zeigen eine Verplumpung des distalen Schienbeins und des distalen Wadenbeins sowie eine geringfügige Unregelmäßigkeit der Malleolengabel mit eben beginnenden Arthrosezeichen und einem Aufbrauch des unteren Sprunggelenkes. Der Sachverständige wertet dies insgesamt als zwar knöchernd fest ausgeheilte Unterschenkelfraktur allerdings mit Entwicklung einer oberen und unteren Sprunggelenksarthrose links. Auch wenn die Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk nicht das in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996" (im Folgenden AHP genannt) in Ziffer 26.18, Seite 152 f, genannte Maß einer Bewegungseinschränkung stärkeren Grades erreicht, ist für die Einschränkung beider Sprunggelenke i.V.m. der vorliegenden Arthrose die Gesamtwürdigung analog der Bewertung einer Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk stärkeren Grades mit einem GdB von 20 zutreffend. Dabei wird auch die Beinverkürzung von 1,8 cm hinreichend berücksichtigt.

Auch bezüglich der Einschätzung der Wirbelsäule mit dem GdB von 20 ist keine Änderung eingetreten. Der Sachverständige Dr. P. weist darauf hin, dass es sich um Einschränkungen ausschließlich im Lendenwirbelsäulenbereich handelt. Zum Zeitpunkt der Untersuchung bestand ein akutes Krankheitsbild ohne sicheren Nachweis neurologischer Ausfälle aber mit ständiger Schmerzausstrahlung in das rechte Bein. Der Finger-Boden-Abstand war wenig pathologisch (5 cm), der Schober-Index mit 10/15 cm normwertig. Das Aufrichten erfolgte aber unter Abstützung beider Hände an den Oberschenkeln (Klettergriff). Das Zeichen nach Lasègue ist negativ, das Berührungsempfinden beider Beine seitengleich und ungestört. Die Röntgenaufnahmen zeigen einen mäßigen degenerativen Aufbrauch der unteren Lendenwirbelsäule bei deutlicher praesacraler Discopathie und Facettenarthrose. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die röntgenologisch sichtbaren Veränderungen das Krankheitsbild erklären und rezidivierende Beschwerden wahrscheinlich machen. Insgesamt sind die Veränderungen als mittelgradige funktionelle Beeinträchtigungen anzusehen, für die die AHP in Ziffer 26.18 (S. 140) einen GdB von 20 vorsehen.

Eine wesentliche Änderung ist jedoch in internistischer Hinsicht eingetreten. Hier ist nunmehr ein Diabetes mellitus vom Typ II zu berücksichtigen, der eine intensivierte Insulinbehandlung erforderlich macht. Zwar ist der Diabetes schon 1999 diagnostiziert worden, hat jedoch eine unterschiedliche medikamentöse Behandlung erfahren und wird seit 2001 ausschließlich mit Insulin behandelt. Hierzu hat Dr. F. ausgeführt, dass der zunächst eingeleitete medikamentöse Therapieversuch nur zu einer unbefriedigenden Blutzuckerlage geführt hat, sodass eine ernährungsangepasste Insulintherapie bei gleichzeitiger Verabreichung einer Tablette Metformin zur Nacht versucht wurde. Allerdings führte auch dieser Therapieversuch nicht zu einer ausreichenden Einstellung der Blutzuckerwerte. Es wurden nach wie vor nach den Mahlzeiten deutlich erhöhte Blutzuckerwerte gemessen; zudem waren die Nüchternblutzuckerwerte am Morgen in der Regel erhöht. Sodann wurde der Kläger auf eine weitere Insulingabe zur Nacht mit einem Langzeitinsulin eingestellt. Der Kläger spritzt seitdem im Rahmen der intensivierten Insulintherapie Normalinsulin mit einem BE-Faktor von 6 morgens, 6 mittags und 6 abends. Gegen 22 Uhr werden 8-10 BE Basalinsulin verabreicht. Unter dieser Therapie finden sich zwar immer noch deutlich erhöhte Nüchternblutzuckerwerte und auch praeprandiale Blutzuckerspitzen. Ausweislich des Blutzuckerpasses betragen allerdings die HbA1C-Werte zwischen 6,8 und 7,5 % und stellen somit eine ausreichend eingestellte Blutzuckerstoffwechsellage dar. Hypoglykämien liegen nicht vor. Auch Folgeschäden des Diabetes sind noch nicht eingetreten.

Nach den AHP Ziffer 26.15 (S. 119) wird ein Diabetes mellitus, der durch Diät und alleinige Insulinbehandlung gut einstellbar ist, mit einem GdB von 40 bewertet. Erst bei schwerer Einstellbarkeit oder gelegentlichen ausgeprägten Hypoglykämien erfolgt die Bewertung mit einem GdB von 50. Der Einzel-GdB von 40 für den Diabetes wirkt auch auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück, da die ausführlichen Schilderungen von Dr. F. zur Therapie gezeigt haben, dass die zuvor durchgeführten Therapiemaßnahmen unbefriedigend und unzureichend waren. Nach der Diktion der AHP kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Diabetes aufgrund der zuerst durchgeführten Therapien "ausreichend eingestellt" war; vielmehr hätte als geeignete Therapie von Anfang an die intensivierte Insulintherapie durchgeführt werden müssen. Der GdB von 40 gilt daher bereits ab dem Zeitpunkt der Antragstellung im Oktober 2000.

Die von den Vorgaben der AHP abweichende Bewertung des Beklagten kann die Kammer nicht nachvollziehen. Eine Änderung der Ziffer 26.15 AHP zur Einschätzung des Diabetes ist bislang nicht erfolgt. Auch den Bekanntmachungen im Bundesarbeitsblatt/Bundesversorgungsblatt der letzten Monate ist eine Änderung der AHP nicht zu entnehmen. Soweit der Beklagte ausweislich der Stellungnahme seiner ärztlichen Beraterin Dr. St. vom 31.05.2002 auf einen abweichenden Beschluss der "Sektion Versorgungsmedizin" vom November 2001 verweist, wird darauf hingewiesen, dass dieser Beschluss bei Gericht nicht bekannt ist. Die Kammer vermutet aber, dass es sich dabei um ein Protokoll des sogenannten Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung handelt, der gelegentlich tagt und dabei die Anpassung und Fortschreibung der AHP an die neueren wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse zum Gegenstand hat. Eine gesetzliche Grundlagen über Existenz oder Aufgabe für diese Einrichtung gibt es nicht, noch nicht einmal eine in rechtswirksamer Weise veröffentlichte Geschäftsordnung des Sachverständigenbeirats, die die Aufgaben, die Einberufung und die Zusammensetzung des Gremiums bestimmen würde. Der Sachverständigenbeirat kann daher lediglich als Faktum zur Kenntnis genommen werden. Aber während bislang die Gerichte von Einrichtung und Tagung des Sachverständigenbeirats Kenntnis durch Übersendung der entsprechenden Tagungsprotokolle erhielten, ist die Exekutive von dieser Praxis bedauerlicherweise abgerückt. Ergänzende Beiratsbeschlüsse erhalten die Gerichte seit 2001 nicht mehr. Für diese Vorgehensweise hat sich die Exekutive bewusst entschieden. Der Kammer liegt ein Schreiben der Bezirksregierung, Abteilung Soziales und Arbeit, Landesversorgungsamt, vom 17.05.2002 an die Versorgungsämter und andere vor, in dem es heißt:

"Nach Absprache mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen dürfen die ausführlichen Sachverständigenbeiratsprotokolle nur für den internen Dienstgebrauch an die Versorgungsämter weitergegeben werden. Ich weise jedoch nochmals darauf hin, dass diese Protokolle nicht an Dritte (Außengutachter, Sozialrichter ...) weitergeleitet werden dürfen."

Die Tätigkeit des Sachverständigenbeirats findet damit im Verborgenen statt. Verborgene Aktivitäten entfalten allerdings keinerlei Rechtswirkung.

Eine derartige Wirkung kann auch nicht dadurch begründet werden, dass man in den AHP eine Art Verwaltungsvorschriften sieht, so dass in der Änderung der AHP letztlich eine Änderung der Verwaltungspraxis zu sehen wäre. Denn eine Änderung der Verwaltungspraxis mit Wirkung für die Zukunft ist grundsätzlich möglich. Das BSG wertet die Rechtsqualität der AHP in ständiger Rechtsprechung zwar noch nicht einmal als Verwaltungsvorschriften, da den AHP eine gesetzliche Grundlage fehle, so dass ihnen keinerlei Normqualität zukomme (BSG Urt.v. 23.06.1993, 9/9a RVs 1/91, BSGE 72, 285; Urt.v. 11.10.1994, 9 RVs 1/93, BSGE 75, 176; Urt.v. 09.04.1997, 9 RVs 4/95 Breithaupt 1998, 210 m.w. N.), sondern sieht in ihnen vielmehr "antizipierte Sachverständigengutachten", die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirkten, deshalb normähnliche Auswirkung hätten und im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen anzuwenden und wie solche auch auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen seien. In der Sache handelt es sich damit gleichwohl um Verwaltungsvorschriften, denn im Unterschied zu den in der Rechtsordnung bekannten "echten" antizipierten Sachverständigengut- achten wie TA-Luft und TA-Wasser fehlt es den AHP an einer Ermächtigungsgrundlage (s. aber § 48 BImSchG). Aber auch die Änderung von Verwaltungsvorschriften unterliegt Einschränkungen. Unabhängig davon, dass die Änderung von ermessenslenkenden und gesetzesvertretenden Verwaltungsvorschriften (allein dieser Kategorie kommen die AHP in ihrer Wirkung gleich) materiell-rechtlich aus willkürfreien, d.h. sachlichen Gründen geändert werden können (vgl. BVerwGE 104, 220, 223), bedarf es auch einer formell wirksamen Änderung. Die formell wirksame Änderung einer Verwaltungsvorschrift, der erhebliche Außenwirkung zukommt, setzt allerdings voraus, dass die ändernde Vorschrift in der Form ergehen muss, in der die abzuändernde Verwaltungsvorschrift ergehen musste (Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2000, § 24 Rn. 24; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 467). Die AHP 1996 sind 1996 vom herausgebenden Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung durch Drucklegung allgemein öffentlich zugängig gemacht worden und waren bislang als Buch beim Verlag Köllen Druck und Verlag GmbH zu erwerben; mittlerweile erfolgt die Abwicklung des Vertriebs über das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Des weiteren können sie in vollständiger Form als Broschüre vom Landschaftsverband Rheinland bezogen werden. Aus vielen Verfahren ist der Kammer bekannt, dass eine Vielzahl besonders unvertretener Kläger eine gedruckte Fassung der AHP vorliegen haben und sich in ihrer Argumentation auf diese beziehen. Es ist unzweifelhaft, dass die AHP in der Öffentlichkeit einen hohen Bekanntheitsgrad haben, der im Übrigen von Seiten der Exekutive aktiv und bewußt herbeigeführt worden ist. Dies zeigt, dass es sich bei den AHP also keineswegs um ausschließlich nach innen gerichtete Verwaltungsanweisungen handelt, die jederzeit durch rein interne Dienstanweisungen geändert werden könnten. Es gilt vielmehr, dass eine Änderung der in den AHP aufgestellten Bewertungskriterien öffentlich gemacht werden muss, wobei die Form der Veröffentlichung dem Umstand des hohen Bekanntheitsgrades der AHP selbst in angemessener Weise Rechnung tragen muss. Denn um eine Änderung der AHP handelt es sich hier, weil die AHP bei der Bewertung des Diabetes mellitus den Grad der Behinderung allein von der durchgeführten Medikation abhängig machen. Für einen durch Diät und alleinige Insulinbehandlung gut einstellbaren Diabetes sehen die AHP einen GdB von 40 vor; eine Unterscheidung nach dem Typ des Diabetes wird nicht getroffen und ist nach der Systematik der AHP in diesem Punkt auch sachfremd.

Eine wirksame Änderung der AHP kann auch nicht darin gesehen werden, dass die AHP "antizipierte Sachverständigengutachten" darstellen und der Sachverständigenbeirat (möglicherweise) eine Änderung beschlossen hat. Als antizipierte Sachverständigengutachten stehen die AHP unter einer besonderen inhaltlichen Überprüfung. Denn wenn nach der Rechtsprechung des BSG davon auszugehen ist, dass die AHP dem aktuellen Stand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen, wird offensichtlich, dass es für eine Änderung der AHP zugleich der Darlegung der sich geänderten medizinisch-wissenschaftlichen Auffassung bedarf. Allein die Mitteilung, dass eine konkrete Behinderung numehr mit einem anderen GdB als zuvor bewertet wird, reicht diesen Anforderungen nicht aus (vgl. Sozialgericht Düsseldorf, Urt. v. 13.02.2002, S 31 SB 282/01 mit zutreffenden Erwägungen zur fehlenden Transparenz der AHP und der Beschlusspraxis des Sachverständigenbeirats). Denn es ist nicht nachvollziehbar, dass und inwiefern eine bestimmte Behinderung in der sozialmedizinischen Wissenschaft eine andere Bewertung erfahren hat.

Zu einer weiteren wesentlichen Änderung i.S.d § 48 Abs. SGB X ist es durch das Auftreten der ekzematösen Veränderung der rechten Hand gekommen. Hier bestehen schubweise auftretende Schuppungen, Rötungen und ein Juckreiz der rechten Handinnenfläche. Zur Therapie werden harnstoffhaltige Salben aufgetragen, die eine Besserung bewirken. Nach den AHP Ziffer 26.17 (S. 129) werden Kontaktekzeme mit geringer Ausdehnung und bis zu zweimal im Jahr für wenige Wochen auftretend mit einem GdB von 0 - 10 bewertet, bei häufigerem Auftreten mit einem GdB-Rahmen von 20 - 30. Im Hinblick auf die bislang gute Therapierbarkeit ist die Bewertung mit einem GdB in Höhe von 10 durch den Sachverständigen angemessen.

Unter Berücksichtigung sämtlicher bei dem Kläger bestehender Leiden ist der Gesamt-GdB mit 50 zu bewerten. Dabei werden folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:
Diabetes mellitus, intensivierte Insulinbehandlung (Einzel-GdB 40); Lumbalsyndrom, rechtsbetont (Einzel-GdB 20); unter leichter Verkürzung knöchern fest verheilte Unterschenkelfraktur links mit nachfolgend oberer und unterer Sprunggelenksarthrose mit Bewegungseinschränkung und Muskelverschmächtigung (Einzel-GdB 20); ekzematöse Veränderung rechte Hand (Einzel-GdB 10).

Nach den Grundsätzen der AHP ist der Gesamt-GdB nicht durch die Addition der einzelnen GdB-Werte sondern nach den Auswirkungen der Funktionsstörungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln. Dabei ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Gesamt-Behinderung größer wird. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, führen in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Gesamt-GdB. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Nr. 19 Ziffer 4 AHP).

Hiervon ausgehend sind bei dem Kläger drei relevante Behinderungen zu berücksichtigen, nämlich der Diabetes mit dem Einzel-GdB von 40 und das Wirbelsäulenleiden sowie die Folgen des BG-Unfalls mit einem Einzel-GdB von jeweils 20. Dabei hat der orthopädische Sachverständige Dr. P. ausgeführt, dass sich das Wirbelsäulenleiden und die Folgen der Unterschenkelfraktur mitunter ungünstig beeinflussen, weil die Gangasymmetrie wegen der Folgen der Unterschenkelfraktur einen Risikofaktor für ein vermehrtes und verstärktes Auftreten von Lendenwirbelsäulenbeschwerden darstellt. Andererseits kann der Kläger in der Phase der Lendenwirbelsäulenbeschwerden sein Körpergewicht und seine körperliche Balance nicht ausreichend und effektiv schmerzlindernd verlagern, da dies durch die Erkrankung des linken Beines limitiert wird. Der Diabetes mellitus ist von beiden orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen unabhängig zu sehen und zu bewerten. Ausgehend von dem höchsten Einzel-GdB von 40 sind die orthopädischen Beeinträchtigungen angemessen zu berücksichtigen, da sie zusammen im Hinblick auf ihre ungünstige Wechselwirkung nicht mehr eine nur noch leichte Funktionsbeeinträchtigung darstellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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