S 9 RA 5498/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 RA 5498/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 471/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 4. November 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2003 wird abgeändert. Die Beklagte wird verpflichtet, die Anwendbarkeit des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes und die Zeit vom 16. Juli 1971 bis 30. Juni 1990 als solche der Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem der technischen Intelligenz und die in diesem Zeitraum tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu 9/10 zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Feststellung der Anwendbarkeit des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) sowie die Feststellung der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem der technischen Intelligenz für die Zeit vom 16. Juli 1971 bis 30. Juni 1990 und die Feststellung der in diesem Zeitraum tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte.

Der am xxx 1940 geborene Kläger hatte in der DDR nach einem Studium an der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik B. in der Fachstudienrichtung "Geräte und Anlagen der Nachrichtentechnik" am 16. Juli 1971 das Recht erhalten, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen. Seit dem 2. September 1968 war der Kläger bei dem VEB B. als Programmierer tätig. Ab 1. April 1970 war er als Problemanalytiker beim VEB K. R. Z. Betriebsteil B. tätig. Zum 1. Januar 1974 wurde dieser Betriebsteil selbständig unter dem Namen VEB R. V. B. (im Folgenden: RVB). Dort arbeitete der Kläger auch noch am 30. Juni 1990, und zwar als Projektant. Eine Versorgungszusage zu einem Zusatzversorgungssystem war dem Kläger in der DDR nicht erteilt worden.

Mit Bescheid vom 4. November 2002 lehnte die Beklagte die Feststellung der Zeit vom 2. September 1968 bis 30. Juni 1990 als solche der Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem mit der Begründung ab, dass der Kläger am 30. Juni 1990 nicht dem Kreis der obligatorisch Versorgungsberechtigten zugeordnet gewesen sei. Eine Versorgungsanwartschaft im Sinne von § 1 Abs. 1 AAÜG sei nicht entstanden.

Zur Begründung seines am 22. November 2002 bei der Beklagten eingegangenen Widerspruches trug der Kläger vor, dass der Bescheid zu allgemein abgefasst sei. Es sei ihm bekannt, dass einige seinem Fall gleich gelagerte Angelegenheiten von Kollegen in Bearbeitung seien.

Mit Bescheid vom 17. Juli 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie führte aus, dass der Kläger zwar im Juni 1990 als Ingenieur eine seiner Qualifikation entsprechende Beschäftigung im RVB ausgeübt habe, es habe sich hierbei jedoch nicht um einen volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens und auch nicht um einen gleichgestellten Betrieb gehandelt.

Mit der am 20. August 2003 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hat vorgetragen, dass ihm nicht verständlich sei, warum der RVB anders behandelt werde als der VEB R. A. B. Der VEB K. R. sei zweifelsohne ein Produktionsbetrieb gewesen, wie später auch der RVB. Er verwies auf die Vernehmungen des Generaldirektors des K. R., Herrn W., und des Betriebsdirektors des RVB, Herrn Dr. Sch., beim Landesozialgericht Potsdam zum Az.: L 2 RA 14/03 sowie auf die Aussage des Herrn Dr. Sch. in dem Verfahren S 9 RA 398/03 des Sozialgerichts Berlin. Der RVB sei 1974 gegründet worden als Nahtstelle zum Anwender, wobei der Begriff "Vertrieb" als "Absatz" zu verstehen sei. Der RVB sei das letzte Glied in der Produktionskette des K. R. gewesen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 15. März 2005 verwiesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 4. November 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2003 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, die Anwendbarkeit des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes und die Zeit vom 16. Juli 1971 bis 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit zu dem Versorgungs- system der technischen Intelligenz und die in diesem Zeitraum tat- sächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist nach wie vor der Auffassung, dass der RVB kein Produktionsbetrieb im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) gewesen ist. Zu den Produktionsbetrieben zählten nur solche Betriebe, deren Hauptzweck die industrielle Fertigung, Herstellung, Anfertigung, Fabrikation bzw. Produktion von Sachgütern gewesen sei.

Das Gericht hat dem Kläger die Niederschriften über die Vernehmung ehemaliger Mitarbeiter des RVB, nämlich Herrn K., Herrn E. und Herrn Dr. Sch. aus den Verfahren S 9 RA 3399/01 und S 9 RA 398/03 des Sozialgerichts Berlin übergeben. Der Vertreter der Beklagten hat auf die Aushändigung dieser Niederschriften verzichtet, da diese bei der Beklagten bekannt sind. Die Zeugenaussagen wurden im Termin zur mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten erörtert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Akteninhalt verwiesen.

Die Akten der Beklagten den Kläger betreffend haben dem Gericht vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 4. November 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 2003 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als die Beklagte es abgelehnt hat, die Anwendbarkeit des AAÜG und die Zeit vom 16. Juli 1971 bis 30. Juni 1990 als solche der Zugehörigkeit zu dem Versorgungssystem der technischen Intelligenz und die in diesem Zeitraum tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte festzustellen.

Das AAÜG ist für den Kläger anwendbar, da er die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 AAÜG erfüllt. Nach dieser Vorschrift gilt das AAÜG für Ansprüche und Anwartschaften, die auf Grund der Zugehörigkeit zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen (Versorgungssysteme) im Beitrittsgebiet (§ 18 Abs. 3 Sozialgesetzbuch IV) erworben sind. Der Kläger ist entsprechend der Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. Urteil vom 9. April 2002, Az.: B 4 RA 41/01 R; Urteil vom 18. Dezember 2003, Az.: B 4 RA 20/03 R) auf Grund verfassungskonformer Auslegung des § 1 Abs. 1 AAÜG den Einbezogenen gleichzustellen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist § 1 Abs. 1 AAÜG ausdehnend so auszulegen, dass eine Versorgungsanwartschaft auch bei Nicht-Einbezogenen in Betracht kommt, jedoch nur dann, wenn jemand auf Grund der am 30. Juni 1990 gegebenen Sachlage einen fiktiven "Anspruch auf Versorgungszusage" rückschauend nach den zu Bundesrecht gewordenen Regelungen der Versorgungssysteme gehabt hat. Dies ist dann der Fall, wenn jemand am 30. Juni 1990 eine Beschäftigung ausgeübt hat, auf Grund welcher ihm nach Bundesrecht zwingend eine Versorgungszusage zu erteilen gewesen ist, die dann - aus bundesrechtlicher Sicht rückschauend - keine rechtsbegründende, sondern nur noch rechtsfeststellende Bedeutung hat (vgl. hierzu auch die Urteile des BSG vom 9. April 2002, Az.: B 4 RA 41/01 R und B 4 RA 36/01 R).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für die Feststellung von Ansprüchen der Altersversorgung der technischen Intelligenz. Maßgeblich ist die Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. August 1950, Gesetzblatt der DDR I Nr. 93 Seite 844 (im Folgenden: VO AVItech) in Verbindung mit der 2. Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 24. Mai 1951, Gesetzblatt der DDR Nr. 62 Seite 487 (im Folgenden: 2. DB). Nach diesen Vorschriften hängt ein Anspruch von drei (persönlichen, sachlichen und betrieblichen) Voraussetzungen ab. Das System war eingerichtet für

1. Personen, die berechtigt waren eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen und

2. die entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausgeübt haben, und zwar

3. in einem volkseigenen oder diesem gleichgestellten Produktionsbetrieb der Industrie- oder des Bauwesens.

Der Kläger erfüllt die erste Voraussetzung, da er seit dem 16. Juli 1971 berechtigt war, die Berufsbezeichnung "Ingenieur" zu führen. Der Kläger übte am 30. Juni 1990 auch tatsächlich einen ingenieur-technischen Beruf, nämlich den des Projektanten, aus. Die Beklagte hat auch im Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2003 ausgeführt, dass der Kläger im Juni 1990 als Ingenieur eine seiner Qualifikation entsprechende Beschäftigung ausgeübt hat. Weitere Erläuterungen hierzu sind daher entbehrlich.

Bei dem RVB handelte es sich auch um einen volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie. Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass nach den Regelungen des Versorgungssystems der technischen Intelligenz nur solche volkseigenen Betriebe einbezogen waren, die organisatorisch dem industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet waren und deren Hauptzweck auf die industrielle Fertigung, Fabrikation, Herstellung bzw. Produktion (fordistisches Produktionsmodell) von Sachgütern ausgerichtet war (vgl. Urteil des BSG vom 9. April 2002, Az. B 4 RA 41/01 R). Diese Definition hat das BSG in den Urteilen B 4 RA 14/03 R (vom 18. Dezember 2003) und B 4 RA 57/03 R (vom 8. Juni 2004) dahingehend modifiziert, dass der Hauptzweck die industrielle (serienmäßig wiederkehrende) Fertigung, Herstellung, Anfertigung, Fabrikation von Sachgütern oder die Errichtung (Massenproduktion) von baulichen Anlagen sein muss. Diese Voraussetzungen erfüllt der RVB. Die Kammer hat nach der im Verfahren S 9 RA 398/03 vorgenommenen Zeugenvernehmung des langjährigen Betriebsdirektors des RVB, Herrn Dr. M. Sch., die noch in den Urteilen S 9 RA 3399/01 und S 9 RA 2389/03 (beide vom 22. Juni 2004) vertretene Auffassung aufgegeben, dass der Hauptzweck des RVB nicht die Produktion gewesen sei (vgl. hierzu Urteil vom 9. November 2004, S 9 RA 1099/01). Die Vernehmung des Zeugen Dr. Sch., der von Januar 1974 bis 15. Mai 1990 Betriebsdirektor des RVB war, hat ergeben, dass der RVB in weit geringerem Umfang Wartungsarbeiten ausgeführt hat, als dies in der Aussage des Zeugen Herrn E., der nach der Wende Betriebsdirektor wurde, zum Ausdruck gekommen ist. Herr Dr. Sch. hat in seiner Aussage die Tätigkeiten des RVB genauer aufgeschlüsselt und für das Gericht nachvollziehbar dargelegt, dass der Hauptzweck nicht in der Wartung bestand, sondern in der Endproduktion von Datenverarbeitungsanlagen. Dabei lag die Aufgabe des RVB darin, zunächst das Finalprodukt auf die verschiedenen Bedürfnisse der Endabnehmer abzustimmen, z.B. wurden Geräte für die Kosmosforschung endproduziert und solche, die in der Medizin eingesetzt wurden. Nach dieser Abstimmung mit dem Endabnehmer schloss der RVB die entsprechenden Verträge, wobei Preisverhandlungen entfielen, da die Preise staatlich festgelegt waren. Der RVB bezog dann den größten Teil der Komponenten für die zu produzierende Anlage von den Kombinatsbetrieben, zum Teil aber auch aus dem sozialistischen Ausland, einige Komponenten produzierte er jedoch auch selber. Nach den Angaben von Herrn E. stellte der RVB Kabel und Bedienungselemente für die Bildverarbeitungssysteme her. Der Zeuge Dr. Sch. hat ausgesagt, dass für die Anlagen Stecker und Kabel vom RVB hergestellt wurden. Aus diesen Komponenten endproduzierte der RVB schließlich die entsprechenden Anlagen, insbesondere die Anlage "1840". Dabei handelte es sich um komplexe Anlagen von einiger Größe, die zum Teil ganze Räume füllten und an denen mehrere Operator arbeiteten.

Bei der eben geschilderten Tätigkeit handelt es sich um Produktion im Sinne der Definition des BSG. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des 2. Senats des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Brandenburg in dem Urteil vom 14. Dezember 2004 (Az.: L 2 RA 14/03) handelte es sich bei der Haupttätigkeit des RVB nicht um Dienstleistungen. Nach der Definition im Ökonomischen Lexikon (der DDR), 3. Auflage, Verlag die Wirtschaft, Stichwort "Dienstleistungen" waren diese Ergebnis der Tätigkeit von Betrieben und Wirtschaftseinheiten, die zwar keine materiellen Güter schaffen, z.B. Wäschereien, Bügelanstalten, Betriebe des Friseurhandwerks, des Fremdenverkehrs usw., jedoch einen wichtigen Beitrag für die allseitige Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung leisten. Nach Duden, Wirtschaft von A bis Z, 2. Auflage, Dudenverlag Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, Stichwort"Dienstleistung" ist diese eine besondere Art wirtschaftlicher Güter, bei der eine Leistung erbracht wird, die nicht lagerfähig ist und bei der Herstellung und Verbrauch gleichzeitig stattfinden. Unterschieden werden personenbezogene Dienstleistungen (z. B. Arztbehandlung) und sachbezogenen Dienstleistungen (z. B. Reparatur einer Tür). Unter Zugrundelegung dieser Definitionen handelte es sich bei dem Hauptzweck des RVB nicht um die Erbringung von Dienstleistungen. Im Gegenteil war die Tätigkeit des RVB Teil des Produktionsprozesses, weil ein "lagerfähiges Gut" endproduziert wurde. Nach den Bekundungen der vernommenen Zeugen war es die Aufgabe des RVB, in dem Produktionsprozess Einzelteile (in geringerem Umfang) herzustellen und die Endproduktion zu erbringen. Es handelte sich deshalb um Fertigung und nicht um eine Dienstleistung, weil die zu einer Anlage zusammenzufügenden Geräte nicht genormt waren und es spezifischer Prüfmittel bedurfte, um die Anlage nutzbar zu machen. Zusätzlich wurden, wie die Zeugen übereinstimmend ausgesagt haben, auch Komponenten, d.h. Einzelteile, vom RVB selber produziert. Dabei handelte es sich entgegen der Auffassung des LSG für das Land Brandenburg nicht nur um Hilfsgeschäfte, sondern die Herstellung der Komponenten war Teil des Produktionsprozesses. Das vom LSG für das Land Brandenburg zitierte Urteil des Bundessozialgerichtes vom 18. Dezember 2003, Az.: B 4 RA 14/03 R handelt von einem anderen Sachverhalt, nämlich dass Hauptzweck des dort behandelten Betriebes, nämlich des VEB DEWAG, tatsächlich die Erbringung von Dienstleistungen war, nämlich in Form von Werbung, Agitation und Propaganda. In diesem Zusammenhang ist es schlüssig, wenn die Herstellung von Sachgütern, etwa Werbematerialien bzw. -artikel, als Hilfsgeschäfte oder Tätigkeiten angesehen werden. Beim RVB handelt es sich jedoch, wie oben geschildert, um eine andere Sachlage.

Die Tätigkeiten des RVB entsprachen damit auch denjenigen von in der Marktwirtschaft vorhandenen Produktionsbetrieben, wie z.B. der Firma S., die zum Teil ähnliche Anlagen herstellt bzw. (entsprechend dem damaligen Stand der Technik) hergestellt hat. Auch in der Autoindustrie werden heutzutage die Fahrzeuge im Wesentlichen nur noch "endproduziert". Die Fertigungstiefe (auch Produktionstiefe oder Produktionsprozesstiefe) ist dabei sehr gering. "Die Fertigungstiefe gibt an, wie viele einzelne Produktionsschritte bei der Produktion eines Gutes notwendig sind und wie viele davon innerhalb einer Unternehmung stattfinden bzw. von Zulieferbetrieben stammen. Die unter den modernen Schlagworten Lean Organisation und Lean Production bekannt gewordenen Strategien der Unternehmens(re)organisation, Produktionsdurchführung und/oder Produktionsumgestaltung stellen die Veränderung – meistens:Verringerung – der Fertigungstiefe in den Mittelpunkt der Betrachtung" (Rürup, Sesselmeier, Enke, Fischer Wirtschaftslexikon, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt/Main 2002, Stichwort "Fertigungstiefe"). Auch im Automobilbau werden heute ganz überwiegend die einzelnen Komponenten von anderen Firmen produziert. Trotzdem handelt es sich bei der Herstellung von Kraftfahrzeugen eindeutig um Produktion im Sinne der o.g. Definition des BSG.

Entgegen der Auffassung des LSG Brandenburg in dem oben genannten Urteil ist der Hauptzweck des RVB auch nicht deshalb in der Erbringung von Dienstleistungen zu sehen, weil der RVB, wie das LSG meint, sein Gepräge durch die kundenspezifische Konfigurierung der Computeranlagen erhalten habe. Das LSG hat ausgeführt, dass, wenn das zu fertigende Endprodukt maßgeblich durch die individuellen Kundenwünsche geprägt werde, das herzustellende Endprodukt nicht als industrielle (serienmäßige wiederkehrende) Fertigung angesehen werden könne. Dem ist nicht zuzustimmen. Die Abstimmung auf Kundenwünsche macht aus der Produktion keine Dienstleistung. Es kommt vielmehr darauf an, ob eine "Einzelanfertigung" oder "Massenfertigung" bzw. "Serienfertigung" vorliegt. "Serienfertigung oder Serienproduktion ist ein Typ der industriellen Fertigung, bei dem konstruktiv und technologisch gleichartige oder ähnliche Erzeugnisse, Baugruppen oder Einzelteile zeitlich zusammenhängend im Wechsel mit anderen Produkten auf den gleichen Produktionsanlagen in begrenzten Stückzahlen (Serien) hergestellt werden. Je nach Seriengröße, d.h. entsprechend der zu fertigenden Stückzahl, unterscheidet man Klein-, Mittel- und Groß-Serien. ( ) Oft wird bei dem jeweiligen Produkt eine Grundausführung festgelegt, sodass in gewissen Grenzen entsprechend den Kundenwünschen produziert werden kann ( )" (Brockhaus, Die Enzyklopädie, 20. Auflage 1996, Stichwort "Serienfertigung, Serienproduktion"). Die geringfügige Veränderung einer Anlage, deren Komponenten serienmäßig (vor-) produziert wurden und die selbst im Wesentlichen serienmäßig endproduziert wird, ist Produktion. Dieser Sachverhalt liegt beim RVB vor. Wie der Zeuge Dr. Sch. ausgeführt hat, wollten die Anwender zwar eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Anlage erwerben, und das Finalprodukt wurde auch auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Trotzdem handelte es sich noch um die im Wesentlichen gleiche Anlage. Auch hier ist der Vergleich zur Autoproduktion heranzuziehen, auch serienmäßig hergestellte Automobile sind nicht in allen Einzelheiten technisch gleich, z.B. werden unterschiedliche Motoren eingebaut und andere unterschiedliche technische und ausstattungsmäßige Veränderungen vorgenommen, trotzdem bleibt die Automobilherstellung (Serien)Produktion und wird nicht zur Dienstleistung.

Der Annahme, dass der Hauptzweck des RVB Produktion im Sinne der Definition des BSG war steht auch nicht entgegen, dass keine großen Stückzahlen der Bildverarbeitungsanlagen hergestellt wurden. Nach Angabe von Herrn Dr. Sch. wurde die Anlage "1840" ca. 250 Mal im Jahr hergestellt. Je nach Produktzweig werden natürlich unterschiedliche Mengen eines Gutes produziert. So liegt es auf der Hand, dass z. B. ein Mixer in großen Stückzahlen hergestellt wird. Je größer und komplexer das Produkt, umso geringer ist die produzierte Stückzahl. Wesentliches Abgrenzungskriterium ist, wie oben bereits erläutert, ob die Anlage serienmäßig erstellt wird oder ob es sich um Einzelanfertigung handelt.

Die Kammer bezieht sich bezüglich der Beurteilung der Frage, ob "Produktion" vorlag, auf eigenen Sachverstand. Einer der ehrenamtlichen Richter arbeitet bei der Firma B. in der Abteilung Personal und Wirtschaft und ist daher mit den Abläufen und Begriffen der industriellen Produktion vertraut. Die Kammerbesetzung in der hier zu entscheidenden Sache entspricht auch (zufällig) derjenigen in dem Verfahren S 9 RA 398/03, in dem der Zeuge Dr. Sch. vernommen wurde. Die ehrenamtlichen Richter haben daher aus eigener Anschauung eine Beurteilungsgrundlage bezüglich der Aussage des Zeugen Dr. Sch.

Nach alldem war der Hauptzweck des RVB die Produktion im Sinne der Definition des BSG. Neben der Produktion von Konsumgütern, die im Werk S. getätigt wurde, war die wesentliche Aufgabe des RVB die Endproduktion von Bildverarbeitungsanlagen, wie oben erläutert. Diese Produktionsvorgänge haben dem Betrieb das Gepräge gegeben.

Die Argumentation der Beklagten, dass der RVB kein Produktionsbetrieb, sondern ein Handelsbetrieb gewesen sei, bezieht sich lediglich auf Indizien. So ist der Name VEB R.-Vertrieb nur ein Anhaltspunkt für die Tätigkeit des Betriebes, der aber widerlegbar ist und vorliegend auch durch die Zeugenaussagen, insbesondere die des Herrn Dr. Sch., aber auch durch die beiden anderen Zeugen, widerlegt wurde. Dass der Begriff "Vertrieb" im Bereich eines sozialistischen Wirtschaftssystems nicht mit dem im marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem gleichgestellt werden kann, zeigt schon die übereinstimmende Aussage der Zeugen dahingehend, dass in der DDR nicht vertrieben, sondern "verteilt" wurde, d.h., dass vom Ministerium festgelegt wurde, wer eine Bildverarbeitungsanlage erhalten sollte. Die Argumentation des Sozialgerichts (SG) Stralsund in seinem Urteil vom 14. Februar 2002 (Az. S 4 (1)- RA 93/00) überzeugt die Kammer daher nicht. Das SG Stralsund hat sein abweisendes Urteil im Wesentlichen damit begründet, dass bereits die Bezeichnung "Vertrieb" gegen die Annahme eines Produktionsbetriebes und für einen Handelsbetrieb spreche. Weiter hat es ausgeführt, dass der vom Gericht vernommene Zeuge von den drei Säulen des Betriebes gesprochen habe, dem Handel, der Produktion und dem technischen Kundendienst. Daraus schließt das SG Stralsund, dass die materielle Produktion nicht Hauptgegenstand, sondern nur ein Teilbereich des RVB gewesen sei. Die Zeugen K., E. und Dr. Sch. haben dagegen übereinstimmend ausgesagt, dass dem "Vertrieb" nur eine untergeordnete Rolle zukam. So hat Herr K. angegeben, dass etwa 15 % der Mitarbeiter die Verteilung der Anlagen vornahmen; nach den Angaben des Zeugen E. waren sogar nur ca. 200 von 4500 Mitarbeitern mit dem Verkauf beschäftigt.

Auch aus dem Urteil des BSG vom 27. Juli 2004 (Az. B 4 RA 11/04 R) zum VEB R. V. D. (RVD) folgt für den vorliegenden Fall kein anderes Ergebnis. Nach den Feststellungen des Sächsischen Landessozialgerichtes bestand der Hauptzweck des RVD im Vertrieb und dem technischen Kundendienst für Geräte der Datenverarbeitungs- und Rechentechnik (vgl. BSG, a.a.O., Umdruck S.7). Dies war beim RVB, wie oben erläutert, nicht der Fall. Im Übrigen hat der Zeuge Dr. Sch. angegeben, dass der RVD andere Aufgaben hatte als der RVB.

Auch die Tatsache, dass der RVB im Statistischen Betriebsregister der DDR als Betrieb der "Reparatur und Montage" geführt wird und nicht als Produktionsbetrieb, ist lediglich ein - widerlegbares – Indiz dafür, dass es sich nicht um einen Produktionsbetrieb handelte. Auch bei anderen Betrieben stimmen Name und Eingruppierung im statistischen Betriebsregister nicht mit dem tatsächlichen Hauptzweck des Betriebes überein.

Nach alldem waren die Voraussetzungen der Versorgungsordnung der technischen Intelligenz zum 30. Juni 1990 erfüllt und das AAÜG ist anwendbar.

Da das AAÜG für den Kläger anwendbar ist, hat die Beklagte auch gemäß § 8 Abs. 2 und 3 AAÜG die Entgelte festzustellen, und zwar für den Kläger bezüglich der Zeit vom 16. Juli 1971 bis 30. Juni 1990. Für diesen Zeitraum liegen die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 AAÜG vor. Nach dieser Vorschrift gelten Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem, in denen eine Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt worden ist, als Pflichtbeitragszeiten der Rentenversicherung. Wie oben erläutert, erfüllt der Kläger für die Zeit der Beschäftigung beim RVB, also für die Zeit vom 1. Januar 1974 bis 30. Juni 1990, die Voraussetzungen der VO AVItech.

Auch bezüglich der Zeit vom 16. Juli 1971 bis 31. Dezember 1973 sind die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 AAÜG erfüllt. Während dieser Zeit war der Kläger noch beim VEB K.R. beschäftigt. Da der Kammer bekannt ist, dass die Beklagte regelmäßig den VEB K.R. als Produktionsbetrieb anerkennt, sind weitere Ausführungen hierzu entbehrlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie berücksichtigt, dass der Kläger einen Teil seiner Klage, nämlich bezüglich der Zeit vor dem 16. Juli 1971, nicht weiter verfolgt hat.
Rechtskraft
Aus
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