B 6 KA 25/99 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 6 KA 25/99 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision des Beklagten und der Beigeladenen zu 1) und zu 5) wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. Februar 1999 geändert, soweit es die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen zu 1), 2), 4), 5), 7), 8) gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Januar 1998 zurück- gewiesen hat. Auf die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen zu 1), 2), 4), 5), 7), 8) wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Januar 1998 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Die Klägerin hat dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Umstritten sind Honorarkürzungen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung.

Die Klägerin ist in Frankfurt als Kinderärztin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den streitbefangenen Quartalen I/1995 und II/1995 unterschritt ihre Fallzahl mit 557 und 488 die durchschnittliche Fallzahl der Kinderärzte von 1210 bzw 1126 um 53,97 % bzw 56,66 %. Der Fallwert der Klägerin überschritt den Durchschnitt der Vergleichsgruppe um 34 % bzw 83 %. Mit dem Ansatz der im Revisionsverfahren allein noch streitbefangene Leistungsnummer 4 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für ärztliche Leistungen - EBM-Ä - ("Beratung, einschließlich symptombezogener klinischer Untersuchung", 120 Punkte) überschritt die Klägerin den Durchschnitt der Vergleichsgruppe um 664 % bzw 456 %. Pro Behandlungsfall verursachte die Klägerin durch die Abrechnung der Nr 4 EBM-Ä Kosten von 15,66 DM bzw 11,73 DM in Relation zum Fachgruppendurchschnitt von 2,05 DM bzw 2,11 DM.

Der Prüfungsausschuß kürzte - soweit im Revisionsverfahren noch von Bedeutung - das Honorar der Klägerin für Leistungen nach Nr 4 EBM-Ä im Quartal I/1995 um 10,00 DM pro Fall (5.570,00 DM) und im Quartal II/1995 um 5.00 DM pro Fall (2.2440,00 DM).

Mit ihrem Widerspruch verwies die Klägerin auf den hohen Ausländeranteil in ihrer Praxis und eine Zunahme der Betreuung von Patienten aus "den Krisengebieten". Der beklagte Beschwerdeausschuß wies den Widerspruch zurück. Die Durchsicht der Abrechnungsunterlagen durch einen Fachkollegen der Klägerin habe den als Ergebnis der statistischen Vergleichsprüfung begründeten Verdacht einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise bestätigt. Hinweise auf ein besonders gelagertes Patientenklientel oder auf einen überproportionalen Anteil schwerer Behandlungsfälle hätten sich nicht ergeben. Im Hinblick auf die Abrechnung der Nr 4 EBM-Ä sei auffällig, daß auf den Behandlungsunterlagen eine Vielzahl von Diagnosen angegeben sei, die sich zum Teil auf die Geburtssymptomatik beziehe. Diese Position der Gebührenordnung würde bei Kontrolluntersuchungen insgesamt zu engmaschig angesetzt (Bescheid vom 5. März 1997).

Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid des Beklagten aufgehoben und diesen verpflichtet, den Widerspruch der Klägerin neu zu bescheiden (Urteil vom 14. Januar 1998). Auf die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen zu 1), 2), 4), 5), 7) und 8) hat das Landessozialgericht (LSG) das sozialgerichtliche Urteil dahin klargestellt, daß der Widerspruchsbescheid des Beklagten lediglich insoweit aufgehoben sei, "als dieser die Honorarkürzung in Bezug auf die Leistungsnummer 4 EBM-Ä betrifft". Im übrigen - dh hinsichtlich von Honorarkürzungen bei bestimmten Sonderleistungen - sei die Klage abzuweisen bzw vom SG zu Recht abgewiesen worden. Hinsichtlich der Nr 4 EBM-Ä hat es die Berufungen für nicht begründet gehalten. Der mit 90 % zu veranschlagende Anteil von ausländischen Patienten in der Praxis der Klägerin stehe einem statistischen Vergleich mit der Gruppe aller Kinderärzte aus dem Bereich der zu 1) beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) entgegen. Dem hätte der Beklagte durch die Bildung einer besonderen Vergleichsgruppe Rechnung tragen müssen. Als ausreichend sei der Vergleich mit Kinderarztpraxen anzusehen, bei denen der Anteil ausländischer Patienten mindestens 70 % betrage (Urteil vom 3. Februar 1999).

Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen der beklagte Beschwerdeausschuß, die Beigeladene zu 1) und die zu 5) beigeladene Krankenkasse übereinstimmend eine Verletzung der Grundsätze der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäß § 106 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Das Berufungsgericht habe mit der Vorgabe der Bildung einer Vergleichsgruppe lediglich derjenigen Kinderärzte, bei denen der Ausländeranteil mindestens 70 % betrage, den Beurteilungsspielraum, der den Prüfgremien nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zukomme, hinsichtlich der Bildung einer geeigneten Vergleichsgruppe verletzt. Zudem sei der Anteil ausländischer Patienten in einer vertragsärztlichen Praxis im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung kein generell zu berücksichtigender Umstand. Der Ausländeranteil wirke sich in jeder vertragsärztlichen Praxis in Abhängigkeit von den Sprachkenntnissen des Arztes, derjenigen der Patienten, von den Krankheitsbildern und vom Altersdurchschnitt der Patienten unterschiedlich aus. Zudem könne nur im Einzelfall beurteilt und ggf nachgewiesen werden, ob infolge eines überdurchschnittlichen Ausländeranteils mehr Kosten anfallen müßten. Im übrigen seien weder die Prüfgremien noch die KÄV in der Lage, die kinderärztlichen Praxen mit einem Ausländeranteil von mehr als 70 % zu ermitteln. Die der jeweiligen Statistik zugrundeliegenden Abrechnungsunterlagen enthielten keine Angaben zur Staatsangehörigkeit der Patienten, sondern lediglich deren Namen sowie die für die Abrechnung erforderlichen Daten. Schließlich sei das Berufungsurteil in sich widersprüchlich, weil es die Vergleichsprüfung hinsichtlich der Leistung nach Nr 4 EBM-Ä verworfen, die auf derselben Prüfmethode und der Heranziehung der Abrechnungswerte derselben Vergleichsgruppe beruhende Kürzung der Leistungsgruppe 8 (Sonderleistungen) aber nicht beanstandet habe.

Der Beklagte und die Beigeladenen 1), 5), 7) und 8) beantragen,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. Februar 1999 und des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. Januar 1998 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

Sie hält das Berufungsurteil - soweit es von den Revisionsklägern angegriffen wird - für zutreffend. Der angefochtene Bescheid des Beklagten entbehre einer hinreichenden Begründung iS des § 35 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Er enthalte hinsichtlich der Kürzung des Honorars für Leistungen nach Nr 4 EBM-Ä keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte für das Vorliegen von Unwirtschaftlichkeit. Selbst den bekannten und unbestrittenen Umstand eines erheblich erhöhten Anteils ausländischer Patienten in ihrer Praxis habe der Beklagte übersehen und unzulässigerweise lediglich pauschal einen Überschreitungswert von 50 % zugebilligt, um "eventuellen Gegebenheiten der Praxis" Rechnung zu tragen. Im übrigen verstoße das Vorgehen das Beklagten gegen die Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X. Ihm hätte sich aufdrängen müssen, daß ihre - der Klägerin - Abrechnung nicht mit den Abrechnungen der übrigen Kinderärzte verglichen werden könne. Die Vorgabe des Berufungsgerichts, den Vergleich auf diejenigen Kinderarztpraxen zu beschränken, bei denen der Anteil der ausländischen Patienten mindestens 70 % betrage, sei entgegen der Auffassung der Revisionskläger umsetzbar. Ein geeigneter Weg hierzu sei die Befragung der kinderärztlichen Kollegen, die in anderem Zusammenhang - etwa zur Ermittlung der Bedarfssituation in einem Planungsbereich - durchgeführt werde und sich bewährt habe. Im übrigen hätte der Beklagte ihre Abrechnung mit den Abrechnungsergebnissen vergleichbarer Praxen aus anderen KÄV-Bezirken vergleichen können.

Die Beigeladenen zu 7) und 8) schließen sich der Rechtsauffassung der Revisionskläger an. Die Beigeladene zu 6) hält die Rechtsauffassung der Revisionskläger für zutreffend, ohne einen Antrag zu stellen.

II

Die Revisionen des beklagten Beschwerdeausschusses, der zu 1) beigeladenen KÄV und der zu 5) beigeladenen Krankenkasse haben Erfolg. Sie führen zur Abänderung der vorinstanzlichen Entscheidungen und Abweisung der Klage gegen den angefochtenen Bescheid in vollem Umfang.

Der Bescheid des Beklagten ist - worüber im Revisionsverfahren allein zu entscheiden ist - hinsichtlich der festgesetzten Kürzungen des Honorars der Klägerin für Leistungen nach Nr 4 EBM-Ä in den Quartalen I/1995 und II/1995 rechtmäßig. Die vom Beklagten angewandte Prüfmethode ist ebensowenig zu beanstanden wie die ausgesprochene Honorarkürzung.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 106 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 12266). Nach § 106 Abs 2 Nr 1 SGB V erfolgt die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten. Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Prüfung die Regelprüfmethode (hierzu zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 45 S 243 und Nr 42 S 233). Danach werden die Abrechnungswerte des Arztes mit denjenigen der Fachgruppe im selben Quartal verglichen. Falls der Mehraufwand bei dem Gesamtfallwert, bei Spartenwerten oder bei Einzelleistungswerten im Vergleich zum Durchschnittswert der Vergleichsgruppe in einem offensichtlichen Mißverhältnis steht, kann das Honorar gekürzt werden (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 43 S 238). Dieser Methode liegt eine gesetzliche Fiktion zugrunde, nach der davon auszugehen ist, daß der Durchschnitt der Fachgruppe insgesamt wirtschaftlich handelt (zB BSGE 74, 70, 70 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 124). Ergänzt durch die sog intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt (BSGE 77, 53, 58 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 33 S 189 f; zuletzt BSGE 84, 85, 86 = SozR 3-2500 § 106 Nr 47 S 250).

Der Prüfung nach Durchschnittswerten ist allerdings die Grundlage entzogen, wenn der Vergleich mit den durchschnittlichen Abrechnungswerten der Vergleichsgruppe zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit ungeeignet ist. Deshalb muß bei ihr die jeweilige Vergleichsgruppe aus Ärzten bestehen, die ein annähernd gleichartiges Patientengut versorgen und im wesentlichen dieselben Erkrankungen behandeln, weil nur unter dieser Voraussetzung der durchschnittliche Behandlungsaufwand der Arztgruppe ein geeigneter Maßstab für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungstätigkeit eines Angehörigen dieser Arztgruppe ist. Beschränkt sich die Prüfung auf einzelne Leistungspositionen, muß die Vergleichsgruppe so gewählt werden, daß aufgrund gemeinsamer Tätigkeitsmerkmale der ihr angehörenden Ärzte ein vergleichbarer Bedarf gerade bei den in Rede stehenden Leistungen zu erwarten ist. Das bedeutet nicht, daß jede abweichende Behandlungsausrichtung oder sonstige individuelle Besonderheit einer Arztgruppe stets zur Bildung einer engeren Vergleichsgruppe nötigt. Auf die Bildung einer besonderen, engeren Vergleichsgruppe kann jedoch dann nicht verzichtet werden, wenn die jeweils maßgebenden Leistungsbedingungen so verschieden sind, daß von einem statistischen Vergleich von vornherein keine verwertbaren Aussagen über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit einer Leistung oder eines Leistungskomplexes zu erwarten sind (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 36 S 202 f). Die letztgenannte Voraussetzung hat das Berufungsgericht hier unter dem Gesichtspunkt als erfüllt angesehen, daß der Anteil von Patienten ausländischer Herkunft in der Praxis der Klägerin 90 % betrage und damit erheblich höher sei als in der Vergleichsgruppe. Daraus hat es geschlossen, die Abrechnung der Klägerin dürfe nur mit den Abrechnungsergebnissen derjenigen Kinderärzte verglichen werden, in deren Praxen der Ausländeranteil mindestens 70 % betrage. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

Das Berufungsgericht hat unter Hinweis auf Angaben im Prüfbericht angenommen, der Anteil "ausländischer Patienten" in der Praxis der Klägerin belaufe sich auf 90 %. Feststellungen zu dem entsprechenden Anteil innerhalb der aus allen Kinderärzten im Bereich der beigeladenen KÄV bestehenden Vergleichsgruppe hat das LSG nicht getroffen. Es hat sich vielmehr auf die Wertung beschränkt, wegen des hohen Ausländeranteils sei die Kinderarztpraxis der Klägerin mit Kinderarztpraxen mit "normal hohem Ausländeranteil" nicht vergleichbar. Das ist so lange nicht nachvollziehbar, wie nicht zumindest annäherungsweise feststeht, wie hoch der Ausländeranteil in der "normalen" Kinderarztpraxis ist und insbesondere, wie sich der Ausländeranteil auf typische Kinderarztpraxen (Praxen im großstädtischen Ballungsraum, Praxen in Mittelstädten, Praxen im ländlichen Raum) verteilt. Die insoweit fehlenden Feststellungen des Berufungsgerichts nötigen indessen nicht zur Zurückverweisung des Rechtsstreits (§ 170 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), weil auch ein tatsächlich gegenüber der Vergleichsgruppe signifikant erhöhter Anteil von Patienten ausländischer Herkunft kein Umstand ist, der die Prüfgremien generell zur Bildung einer engeren Vergleichsgruppe, bestehend lediglich aus Ärzten derselben Fachgruppe mit überdurchschnittlich hohem Anteil ausländischer Patienten, zwingt. Ein solches Vorgehen wäre allenfalls geboten, wenn sich aus dem Umstand der ausländischen Staatsangehörigkeit bzw der ausländischen Herkunft eines Patienten von vornherein, dh ohne Berücksichtigung der jeweils zu behandelnden Gesundheitsstörungen und der zum Einsatz kommenden Behandlungsmethoden, ein gegenüber der Behandlung von Patienten inländischer Herkunft deutlich erhöhter Leistungsbedarf für eine Beratung nach Nr 4 EBM-Ä ableiten ließe. Das ist indessen nicht der Fall.

In einem zur kassenzahnärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung ergangenen Urteil vom 10. Mai 1995 (6 RKA 2/94 = MedR 1996, 136 ff) hat der Senat die Auffassung des Beschwerdeausschusses gebilligt, wonach bei Aussiedlern/Ausländern nicht generell ein erhöhter zahnmedizinischer Behandlungsbedarf gegeben sei. Dem hat sich das LSG Baden-Württemberg für den ärztlichen Bereich mit Urteil vom 20. August 1998 - L 5 KA 1464/98 - mit der Begründung angeschlossen, es gebe keinen Erfahrungssatz, daß bei Ausländern generell ein erhöhter Behandlungsbedarf bestehe. Zahlreiche Ausländer, die schon lange in der Bundesrepublik Deutschland leben, seien hier integriert und unterschieden sich im Krankheitsverhalten deshalb nicht von Deutschen. Auch bei erst kürzerer Zeit in der Bundesrepublik lebenden Ausländern sei nicht ersichtlich, warum pro Patient ein höherer Behandlungsbedarf bestehen sollte als bei deutschen Kranken. Dies wird im Schrifttum, soweit es sich mit dem Gesichtspunkt eines erhöhten Ausländeranteils als Praxisbesonderheit im Rahmen der vertrags(zahn)ärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung befaßt, ebenso gesehen (vgl Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht, 1994, RdNr 678; Gräfin von Strachwitz-Helmstadt, in: Ehlers (Herausgeber), Praxis der Wirtschaftlichkeitsprüfung, 1996, Kap 6, RdNr 57; Engelhard, in: Hauck, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Stand: 1999, K § 106 RdNr 184). Zutreffend weisen die zitierten Autoren insbesondere darauf hin, daß die Bildung einer verfeinerten Vergleichsgruppe allenfalls geboten wäre, wenn der Ausländer-Status eines Patienten generell mit anderen, vor allem schwerwiegenderen Gesundheitsstörungen als bei Patienten deutscher Herkunft verbunden wäre, die wiederum aus medizinischen Gründen regelmäßig einen erhöhten Behandlungsaufwand erfordern müßten. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, daß bei ausländischen Patienten typischerweise ein medizinisch indizierter Mehrbedarf - hier an Beratungsleistungen - gegenüber deutschen Patienten derselben Arztgruppe besteht, liegen jedoch nicht vor.

Zunächst ist das an das Staatsangehörigkeitsrecht anknüpfende Merkmal "Ausländer" als Kriterium für einen erhöhten, medizinisch indizierten Bedarf für die Erbringung der Leistung nach Nr 4 EBM-Ä wenig geeignet. Ausländer in diesem statusrechtlichen Sinne sind einerseits Personen, die als Flüchtlinge oder als Asylbewerber eingereist sind, erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben und keinen Bezug zur deutschen Sprache und den Lebensgewohnheiten hier haben. "Ausländer" im statusrechtlichen Sinne sind andererseits ebenfalls Personen, die seit Jahren oder Jahrzehnten in Deutschland leben, deren Kinder bzw Kindeskinder bereits in Deutschland geboren und/oder hier aufgewachsen sind, und die - auch in sprachlicher Hinsicht - in die hiesige Wohnbevölkerung und die deutschen Lebensumstände integriert sind. Bei Staatsangehörigen von Ländern der Europäischen Union (EU) zB kann aus dem Umstand, daß diese trotz möglicherweise langjährigen Aufenthaltes in Deutschland nicht deutsche Staatsangehörige sind oder werden wollen, schlechterdings nicht auf eine nicht vollzogene Integration in die hiesige Wohnbevölkerung geschlossen werden. Angesichts der vollständigen Freizügigkeit innerhalb der EU besteht für diesen Personenkreis vielfach kein Motiv, die ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufzugeben und die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, weil davon - abgesehen vom Wahlrecht - keine Veränderung der Lebensmöglichkeiten in Deutschland (mehr) ausgeht.

Soweit das Unterscheidungsmerkmal "Ausländer" bzw "ausländischer Herkunft" nach dem Verständnis der Klägerin auf Patienten angewandt wird, die nach ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und ihren Lebensverhältnissen in Deutschland nicht integriert sind, ist zunächst deren Anteil unter den Patienten einer Praxis von den Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ermittelbar. Da diese weder die Berechtigung noch die Möglichkeit haben, das Sprachvermögen und die Lebensumstände der Patienten eines Vertragsarztes zu überprüfen, wären sie vollständig auf die Angaben des Arztes angewiesen. Dieser hätte es deshalb in der Hand, die Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung wesentlich zu beeinflussen, wenn seine Angaben über den Anteil von in diesem Sinne nicht integrierten Ausländern zwingend zur Bildung einer engeren Vergleichsgruppe führen müßte. Im übrigen macht die Klägerin gerade geltend, zahlreiche Fremdsprachen zu beherrschen, was ihr im Rahmen der Behandlung von Kindern ausländischer Herkunft und der in diesem Rahmen notwendigen Kontakte mit den Eltern dieser Kinder in besonderer Weise zu Gute kommen dürfte. Wenn aber zwischen der Klägerin und zahlreichen ihrer ausländischen Patienten sprachliche Barrieren von vornherein nicht bestehen, ist um so weniger nachvollziehbar, weshalb der Ausländer-Status der Patienten zu einem erhöhten Bedarf an Beratungs- und Untersuchungsleistungen iS der Nr 4 EBM-Ä führen soll.

Soweit die Klägerin im Widerspruchsverfahren pauschal auf einen hohen Anteil von Patienten "aus den Krisengebieten" Bezug genommen hat, ist auch insofern ein Zusammenhang zu einem Mehrbedarf an Leistungen nach Nr 4 EBM-Ä nicht dargetan. Wenn die Klägerin geltend machen wollte, sie behandele aufgrund ihrer kinder- und jugendpsychiatrischen Zusatzqualifikation gezielt Kinder, die etwa durch Erlebnisse in Kriegsgebieten oder die Umstände, die sie zum Verlassen dieser Gebiete genötigt haben, hochgradig traumatisiert sind, hätte sie dies im Verwaltungsverfahren substantiiert patientenbezogen darlegen müssen. Im übrigen wäre damit wohl allenfalls ein Mehrbedarf hinsichtlich spezieller, eine besondere Qualifikation erfordernder kinderpsychiatrischer Leistungen und nicht ein Mehrbedarf nach Beratungs- und Untersuchungsleistungen nach Nr 4 EBM-Ä darzutun gewesen. Schließlich hat der Beklagte nach Auswertung der Behandlungsunterlagen der Klägerin kein besonders gelagertes Klientel festgestellt, das geeignet erscheine, Mehraufwendungen bei dem Ansatz der Nr 4 EBM-Ä zu rechtfertigen. Soweit die Klägerin mehrfach pauschal darauf hingewiesen hat, sie betreue vermehrt Kinder aus Problemgruppen, die durch Nikotin-, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit gekennzeichnet seien und vielfach eine "familiäre soziale Problematik" aufwiesen, handelt es sich dabei um Umstände, die in ihrer Allgemeinheit nicht geeignet sind, eine medizinische Rechtfertigung für einen den Vergleichsgruppendurchschnitt um mehrere 100 % übersteigenden Mehrbedarf an Beratungs- und Untersuchungsleistungen zu rechtfertigen. Weiterhin ist die Einschätzung der Klägerin, sie behandele "vermehrt" Kinder aus "Problemfamilien", mangels aussagekräftiger statistischen Unterlagen jeder Nachprüfung entzogen.

Bedenken dagegen, daß der Beklagte aus einer Überschreitung der Abrechnungshäufigkeit der Nr 4 EBM-Ä bei der Klägerin um 664 % bzw 456 % gegenüber der Vergleichsgruppe auf das Vorliegen eines offensichtlichen Mißverhältnisses hat schließen dürfen, sind weder ersichtlich noch von der Klägerin geltend gemacht worden. Dasselbe gilt für die festgesetzten Kürzungen von 10,00 DM pro Behandlungsfall im Quartal I/1995 und 5,00 DM im Quartal II/1995, wodurch das der Klägerin für Leistungen nach Nr 4 EBM-Ä zustehende Honorar auf 150 % des Fachgruppendurchschnitts zurückgeführt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Rechtskraft
Aus
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