B 4 RA 32/02 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 4 RA 649/01
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 32/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Im Rahmen der Anrechnung einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist ein einheitlicher Freibetrag für alle unfallverletzten Rentenberechtigten mit gleichem MdE-Grad einzustellen. Einen besonderen - reduzierten - Freibetrag für das Beitrittsgebiet sieht das Gesetz nicht vor.
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 7. März 2002 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welchem Umfang die Beklagte als Rentenversicherungsträger den monatlichen Zahlungsansprüchen des Klägers aus der gesetzlichen Rentenversicherung (RV) für Bezugszeiten ab Dezember 2000 den anspruchsvernichtenden Einwand entgegenhalten darf, er habe während desselben Zeitraumes Anspruch auf eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Der Kläger beanstandet, dass die Beklagte den Freibetrag, in dessen Höhe der Betrag der Verletztenrente unberücksichtigt zu bleiben hat, für Versicherte im Beitrittsgebiet niedriger als für Versicherte in den alten Bundesländern einstellt.

Der Kläger hat seit dem 1. Dezember 2000 gegen die Beklagte das Recht auf Altersrente (Bescheid vom 26. Februar 2001). Ferner bezieht er eine Verletztenrente aus der UV. Mit seinem Widerspruch machte er geltend, die Beklagte habe bei der Anrechnung der Verletztenrente den Freibetrag nicht korrekt festgestellt; nach einer Entscheidung des BVerfG sei die Grundrente nach dem BVG auch in den neuen Bundesländern zu "100 %" zu berücksichtigen. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 25. April 2001). Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Beklagte habe zutreffend einen reduzierten "Freibetrag Ost" angewandt; die Entscheidung des BVerfG vom 14. März 2000 (1 BvR 284/96) betreffe lediglich die Beschädigtenrente nach § 31 BVG, um die es vorliegend nicht gehe.

Mit seiner (Sprung-)Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI iVm den §§ 31 Abs 1 Satz 1, 84a BVG. Er trägt vor, dass nach der auch vom SG zitierten Entscheidung des BVerfG es mit Art 3 Abs 1 GG unvereinbar sei, dass die Beschädigtenrenten nach § 31 Abs 1 Satz 1 BVG auch nach dem 31. Dezember 1998 im Beitrittsgebiet anders berechnet würden als im übrigen Bundesgebiet. Dies sei auch im Rahmen des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 7. März 2002 sowie die Festsetzung des Anrechnungsbetrages im Bescheid vom 26. Februar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2001 aufzuheben und die Beklagte unter Zugrundelegung eines niedrigeren Anrechnungsbetrages zur Zahlung entsprechend höherer monatlicher Geldbeträge zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die angefochtene Entscheidung im rechtlichen Ergebnis nicht zu beanstanden sei.

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

1. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Aufhebung des Urteils des SG und eine Neufeststellung der monatlichen Zahlungsverpflichtungen der Beklagten. Streitgegenstand sind die in Kombination von Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) sinngemäß geltend gemachten prozessualen Ansprüche (§ 123 SGG), die Festsetzung des Anrechnungsbetrages und des - danach verbleibenden - monatlichen Zahlbetrages der Altersrente im Bescheid vom 26. Februar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2001 aufzuheben, die Beklagte zur Neufestsetzung eines niedrigeren Anrechnungsbetrags zu verpflichten und zur Zahlung entsprechend höherer monatlicher Geldbeträge zu verurteilen. Hierbei hat der Kläger den Streitgegenstand dadurch eingeschränkt, dass er die Neufestsetzung des Anrechnungsbetrages ausschließlich unter Zugrundelegung eines höheren Freibetrages begehrt.

2. Ob die zulässigen Klagen begründet sind, kann der Senat wegen ungenügender Feststellungen des SG nicht abschließend entscheiden. Denn insoweit ist lediglich erkennbar, dass der Kläger neben einer Altersrente aus der RV eine Verletztenrente aus der UV "bezieht" und die Beteiligten offenbar darüber streiten, ob bei der Anrechnung der Verletztenrente ein besonderer "Freibetrag Ost" zur Anwendung kommt oder insoweit von einem Mindestgrundrentenbetrag wie in den "alten" Bundesländern auszugehen ist. Wie und in welcher Höhe die Beklagte einen Anrechnungsbetrag festgesetzt und in welchem Umfang dadurch der monatliche Zahlungsanspruch des Klägers auf Altersrente beeinträchtigt worden ist, lässt sich auch nicht ansatzweise dem Urteil entnehmen. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das SG Folgendes zu beachten haben:

a) Gemäß § 93 Abs 1 Nr 1 SGB VI wird die Rente aus der RV insoweit nicht geleistet, als bei einem Zusammentreffen mit einer Verletztenrente aus der UV die Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge vor Einkommensanrechnung den jeweiligen Grenzbetrag übersteigt.

Diese Norm regelt die Voraussetzungen, unter denen der RV-Träger als Schuldner des Versicherten, der ihm gegenüber als Gläubiger ein Recht auf eine RV-Rente hat, den in Höhe des Wertes dieses Rechts entstandenen monatlichen Ansprüchen (ganz oder teilweise) anspruchsvernichtend durch Verwaltungsakt (Festsetzung des monatlichen Anrechnungsbetrages und des daraus resultierenden monatlichen Rentenzahlbetrages) entgegenhalten darf und muss, dieser habe jeweils für denselben Monat außerdem einen Anspruch auf eine Verletztenrente aus der UV, durch den bereits (ganz oder teilweise) der Nachteil ausgeglichen werde, den abzugelten die RV - insoweit nachrangig zur UV - versprochen habe. Im Einzelnen bestimmt sich der Anrechnungsbetrag ua nach der Freibetragsregelung des § 93 Abs 2 SGB VI und der Grenzbetragsregelung seines Abs 3. Diese normativen Ausgestaltungen sind mit Art 3 Abs 1 GG und Art 14 GG vereinbar (hierzu und zum weiteren Aufbau des § 93 SGB VI: Urteil des Senats vom 31. März 1998, BSGE 82, 83 ff = SozR 3-2600 § 93 Nr 7).

b) Um entscheiden zu können, ob das Aufhebungs- und Zahlungsbegehren des Klägers begründet ist, hätte das SG zunächst den von der Beklagten festgesetzten Anrechnungsbetrag feststellen müssen. Hierzu fehlen jegliche Angaben im angefochtenen Urteil.

Auch den Verfügungssätzen des vom SG benannten Bescheides vom 26. Februar 2001 lässt sich dieser Betrag nicht entnehmen. Dort werden auf den Seiten 1 und 2 lediglich monatliche Rentenzahlbeträge benannt, die das Ergebnis der von der Beklagten vorgenommenen Anrechnung wiederspiegeln. Es ist nicht Aufgabe des Senats, sich aus der Begründung zum Bescheid die uU nur möglicherweise maßgeblichen Fakten herauszusuchen. Diese Feststellungen hat das Tatsachengericht verbindlich für das Revisionsgericht zu treffen (§ 163 SGG).

c) Um im Übrigen überprüfen zu können, ob der Anrechnungsbetrag und der danach verbleibende monatliche Zahlbetrag ordnungsgemäß festgesetzt worden sind, hätte das SG den hierfür maßgeblichen Sachverhalt insgesamt feststellen müssen, auch wenn der Kläger den entsprechenden Verwaltungsakt nur teilweise, nämlich nur bzgl des Freibetrages, angefochten hat.

aa) Das SG hat es unterlassen, den monatlichen Wert des Rechts auf Altersrente festzustellen, der zugleich den Wert des Einzelanspruchs bestimmt. Abgesehen davon, dass der Versicherte ohnehin ein Recht auf eine ordnungsgemäße Festsetzung hat, ist eine solche Festsetzung unerlässliche Voraussetzung für die Durchführung einer Anrechnung.

Die Beklagte hat den Wert des Rentenrechts und damit auch den der Zahlungsansprüche in dem vom SG benannten Bescheid vom 26. Februar 2001 offenkundig falsch festgesetzt. Sofern die entsprechende Aussage der Beklagten auf Seite 2 des genannten Bescheides als wertfestsetzender Verwaltungsakt anzusehen ist, hat sie dort einen Betrag angegeben, der der Höhe eines Einzelanspruchs nach der - rechtswidrig - durchgeführten Anrechnung entspricht. Auch der auf Seite 1 des Bescheides angegebene Betrag entspricht nicht dem Wert des Rentenrechts; hierbei handelt es sich um einen nach Verrechnung mit dem Kranken- und Pflegeversicherungsanteil verbliebenen Auszahlungsbetrag. Der Wert des Stammrechts auf Altersrente muss in jedem Fall höher sein als die von der Beklagten angegebenen beiden Beträge.

bb) Ferner hat das SG es unterlassen, den Wert des Rechts auf Verletztenrente aus der UV und damit den Wert der aus diesem Recht fließenden monatlichen Einzelansprüche festzustellen. Darüber hinaus hat das SG nicht festgestellt, ab wann dem Kläger das Recht auf eine Verletztenrente zuerkannt worden ist und die entsprechenden Rentenzahlungen zustanden. Somit ist nicht erkennbar, für welche Zeiträume Zahlungsansprüche aus dem Recht auf Altersrente und Verletztenrente zusammentreffen.

cc) Darüber hinaus hat das SG nicht festgestellt, welchen Grenzbetrag die Beklagte zu Grunde gelegt hat. Zwar hat der Kläger insoweit den Verwaltungsakt nicht angefochten, der Anrechnungsbetrag wird jedoch auch durch den Grenzbetrag (mit)bestimmt. Dessen ordnungsgemäße Festsetzung lässt sich nur bei Kenntnis auch des Grenzbetrages überprüfen.

dd) Schließlich hat das SG nicht festgestellt, mit welchem MdE-Grad der unfallbedingte Schaden des Klägers bindend bewertet worden ist. Auch deshalb lässt sich der zu berücksichtigende Freibetrag nicht ermitteln.

Nach § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI bleibt bei der Verletztenrente aus der UV der Betrag unberücksichtigt, der bei gleichem Grad der MdE als Grundrente nach dem BVG geleistet würde, bei einer MdE um 20 vH zwei Drittel der Mindestgrundrente, bei einer MdE um 10 vH ein Drittel der Mindestgrundrente. Um überprüfen zu können, ob die Beklagte sachlich-rechnerisch den zutreffenden Freibetrag eingestellt hat, hätte das SG den unfallbedingten MdE-Grad angeben müssen. Eine solche Feststellung fehlt. Den Ausführungen im Urteil kann allenfalls entnommen werden, dass die Mindestgrundrente der maßgebliche Ausgangspunkt für die Ermittlung des Freibetrages ist. Dies allein erlaubt keine konkrete betragsmäßige Festsetzung.

§ 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI definiert nicht die Bedeutung des Ausdrucks "Mindestgrundrente". Aus der vorangestellten Bezugnahme auf die Grundrente nach dem BVG folgt, dass insoweit das Begriffsverständnis dieses Gesetzes zu Grunde gelegt wird. Allerdings nimmt § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI keine konkrete Norm des BVG in Bezug. Mit Blick auf die Normadressaten, die unfallverletzten Rentenberechtigten, ist an den Personenkreis des BVG anzuknüpfen, der ebenfalls eine Schädigung erlitten hat. Somit wird auf die Grundrente des Beschädigten im Sinne des § 31 BVG Bezug genommen. Für eine Anknüpfung an die Grundrente für Hinterbliebene fehlt jeglicher Sachgrund.

Nach § 31 Abs 1 BVG bestimmt sich der monatliche Geldbetrag der Grundrente nach dem Grad der schädigungsbedingten MdE, und zwar in Stufen von jeweils 10 vH, beginnend mit einer MdE um 30 vH. § 31 BVG verwendet nicht den Ausdruck "Mindestgrundrente", sondern nur den der Grundrente. Entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch kennzeichnet § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI mit dem Ausdruck "Mindestgrundrente" und der Bezugnahme auf das BVG die "niedrigste" Grundrente iS des § 31 BVG, also die Grundrente, die nach einer MdE um 30 vH gewährt wird.

Hiervon ausgehend würde der Hinweis des SG, Beurteilungsmaßstab für den Freibetrag sei die Mindestgrundrente, bedeuten, dass der Unfallschaden des Klägers mit einer MdE um 30 vH (mindestens mit 25 vH) bewertet worden ist. Denn die Ausführungen des SG zum "reduzierten Grundrentenfreibetrag" beziehen sich offenkundig nur darauf, dass die Beklagte für das Beitrittsgebiet einen niedrigeren Betrag der Mindestgrundrente zu Grunde gelegt hat als in den alten Bundesländern, nicht aber auf die in § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI vorgesehene - konsequente - Reduzierung auf zwei Drittel bzw ein Drittel der Mindestgrundrente bei einer unfallbedingten MdE von 20 vH bzw 10 vH. Das SG hat nicht festgestellt, dass die unfallbedingte MdE des Klägers weniger als 25 bzw 30 vH beträgt. Da insoweit der vom SG festgestellte Sachverhalt nicht im Einklang mit dem Vorbringen der Beteiligten steht, wird die Vorinstanz im Rahmen ihrer erneuten Entscheidung die notwendigen Feststellungen zu treffen haben.

d) Ausschlaggebend wird das SG rechtlich zu beachten haben, dass es mit seinen Behauptungen Bundesrecht verletzt hat, § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI und § 84a BVG ordneten eine Ungleichbehandlung unfallverletzter Rentenberechtigter mit gleich hohem MdE-Grad an. Bei Festsetzung des Geldwertes des Freibetrages ist nicht zwischen Normadressaten in den sog alten und neuen Bundesländern zu unterscheiden. Einen besonderen - reduzierten - Freibetrag für das Beitrittsgebiet (umgangssprachlich: Freibetrag Ost) kennt das Gesetz nicht.

aa) Schon der Wortlaut des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI verbietet eine solche Differenzierung.

Der Gesetzestext stellt allein auf einen Betrag ab, der bei gleichem Grad der MdE als Grundrente nach dem BVG geleistet würde. Ihm lässt sich eine Differenzierung nach einem bestimmten Wohnsitz des Rentenberechtigten im Bundesgebiet nicht entnehmen. Ein weitere Interpretation unter Zugrundelegung teleologischer, historischer und systematischer Auslegungskriterien bestätigt das Ergebnis der grammatischen Auslegung. Es ist das einzig verfassungsgemäße.

bb) Zweck der Freibetragsregelung ist es, im Rahmen einer Gleichbehandlung unfallverletzter Rentenberechtigter diejenigen Rentenanteile von der Anrechnung auszunehmen, die dem Ausgleich immaterieller Schäden dienen.

§ 93 SGB VI trägt - wie seine Vorgängerregelungen (§§ 1278 RVO, 55 AVG) - der sozialpolitischen Überlegung Rechnung, dass das Renteneinkommen des Versicherten, das Lohnersatzfunktion hat, nicht höher sein soll als das Nettoerwerbseinkommen bei voller Arbeitsleistung. Die Anrechnungsregelung verfolgt den verfassungsmäßigen Zweck, Nachteilsüberkompensationen (sog Überversorgung) aus der Summierung teilweise zweckähnlicher Versicherungsleistungen aus zwei Zweigen der Sozialversicherung des SGB zu begrenzen. Die Verletztenrente aus der UV deckt teilweise den Bedarf mit ab, dessen Absicherung auch die Rente aus der RV bezweckt. Diese hat in einem weiteren Sinn Einkommensersatzfunktion (sog Alterslohnprinzip; dazu: Urteil des Senats vom 29. Juni 2000, BSGE 86, 262, 300 f = SozR 3-2600 § 210 Nr 2). Eine solche Funktion hat zum Teil auch die Verletztenrente; zugleich kompensiert sie aber auch den immateriellen Schaden, den das Unfallopfer erlitten hat (zum Ganzen: Urteil des Senats vom 31. März 1998, BSGE 82, 83, 84, 90, 92 ff = SozR 3-2600 § 93 Nr 7).

Der Schaden des Verletzten wird in der UV abstrakt bemessen. Der Grad der durch den Unfall bedingten MdE ist danach zu beurteilen, welche Erwerbsmöglichkeiten dem Verletzten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verbleiben, unfallbedingte konkrete Vermögenseinbußen werden (grundsätzlich - §§ 56 Abs 2 bis 58 SGB VII) nicht berücksichtigt. Das Gesetz ist seit Einführung der UV im Jahre 1884 davon ausgegangen, dass der abstrakt berechneten MdE typischerweise ein entsprechender Verdienstausfall gegenübersteht. Dies entsprach im Wesentlichen den tatsächlichen Gegebenheiten in den ersten Jahrzehnten nach Inkrafttreten der UV. Die weitere Entwicklung (Automatisierung, verbesserte Arbeitsplatzausgestaltung, Rehabilitation, tarifliche Absicherungen bei Arbeitsunfällen) hat jedoch dazu geführt, dass eine MdE bei leichten oder mittelschweren Unfällen keine oder fast keine Lohneinbußen (BVerfG, Beschluss vom 7. November 1972, BVerfGE 34, 118, 132 f), aber auch bei schweren Unfällen in der Regel nur teilweise Lohneinbußen verursacht (BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 1995, SozR 3-2200 § 636 Nr 1). Demzufolge werden im Rahmen der abstrakten Schadensberechnung sowohl immaterielle Schäden (bei leichten und mittelschweren Unfällen sogar überwiegend) und materielle Schäden kompensiert.

Im Rahmen der Anrechnung nach § 93 SGB VI können nur die Rentenanteile aus der UV einbezogen werden, die Lohnersatzfunktion (in einem weiteren Sinn) haben. Der Gesetzgeber hat mit Blick darauf, dass das (Gesamt-)Renteneinkommen nicht höher als das Nettoerwerbseinkommen bei voller Arbeitsleistung sein soll, das Renteneinkommen in Höhe des Grenzbetrages anrechnungsfrei belassen (der allerdings mit 70 vH unter dem des Vorgängerrechts mit 80 vH liegt; zur Entwicklung: Urteil des Senats vom 31. März 1998, BSGE 82, 83, 92 = SozR 3-2600 § 93 Nr 7); zugleich hat er - insoweit anders als im Vorgängerrecht - die Anteile der UV-Rente herausgenommen, die keine Lohnersatzfunktion haben (BT-Drucks 11/4124, Begründung zu § 92 des Entwurfs (= § 93 SGB VI), S 174). Dies bewirkt die Freibetragsregelung des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI. Durch Anknüpfung an die unfallbedingte MdE soll der in der UV-Rente mit ausgeglichene immaterielle Schaden unberücksichtigt bleiben, der betragsmäßig anzurechnende Wert der Verletztenrente also auf den abgegoltenen materiellen Schaden (abstrakt bemessener Verdienstausfall) beschränkt werden. Dadurch soll eine Gleichbehandlung aller unfallverletzten Rentenberechtigten gesichert werden.

Eine solche Gleichbehandlung kann die UV nicht gewährleisten. Sie ermöglicht es nicht, allein durch Anknüpfung an den MdE-Grad den immateriellen Schaden betragsmäßig zu beziffern. Dieser ist nur einer der Multiplikatoren bei der Festsetzung einer Teilrente. Nach § 56 Abs 3 SGB VII (früher: § 581 Abs 1 RVO) wird bei vollem Verlust der Erwerbsfähigkeit (MdE von 100 vH) eine Vollrente in Höhe von zwei Dritteln des Jahresarbeitsverdienstes (im Sinne des § 82 Abs 1 SGB VII) geleistet. Bei einer geringeren MdE ist eine Teilrente in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festzusetzen, der dem Grad der MdE entspricht. Der immaterielle Schaden lässt sich nach diesen Rentenformeln nicht beziffern.

Dies ermöglicht jedoch die Anknüpfung an die Beschädigtengrundrente des § 31 Abs 1 BVG. Auch die Grundrente hatte ursprünglich neben einer immateriellen auch eine materielle Komponente. Sie stellte eine Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität dar und sollte "Mehraufwendungen" ausgleichen. Zugleich wurde durch die Neufassung des § 30 Abs 1 Satz 1 BVG durch das 5. BVG-ÄndG vom 6. Juni 1956 (BGBl I 463) die immaterielle Komponente deutlich. Die Norm ordnete nunmehr ausdrücklich an, dass bei der Festsetzung der MdE "seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen" in ihren Auswirkungen zu berücksichtigen sind. Da der Wert der Grundrente des § 31 BVG allein durch den MdE-Grad bestimmt wird, sollte die Grundrente ursprünglich sowohl einen immateriellen als auch einen materiellen Schaden ausgleichen.

Die weitere Ausgestaltung des Leistungsrechts des BVG hat dazu geführt, dass durch die kontinuierliche Erweiterung des Leistungskatalogs in den Verordnungen über die Versorgung mit Hilfsmitteln und über Ersatzleistungen nach dem BVG in zunehmendem Maße fast jeder schädigungsbedingte Mehraufwand abgedeckt worden ist, sodass er nicht mehr aus der Grundrente zu begleichen ist (BVerfG, Urteil vom 14. März 2000, BVerfGE 102, 41, 59 f). Diese deckt praktisch nur noch den immateriellen Schaden ab. Die "Genugtuungsfunktion" der Beschädigtengrundrente zeigt sich im Übrigen ua auch darin, dass sie bei der Bemessung anderer staatlicher Leistungen (zB Arbeitslosen- und Sozialhilfe) sowie bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit eines Unterhaltsverpflichteten im Unterhaltsrecht unberücksichtigt bleibt (BVerfG, aaO, S 60 f).

Die Anknüpfung in § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI an die Beschädigtengrundrente des BVG sichert die Gleichbehandlung der unfallverletzten Rentenberechtigten. Bei gleichem MdE-Grad und damit gleichem immateriellen Schaden gewährleistet sie einen gleichen Freibetrag. Bei unterschiedlichen MdE-Graden und damit unterschiedlichen immateriellen Schäden erlaubt sie die gebotene sachliche Differenzierung, und zwar auch bei gleichem Bruttoverdienst. Sie trägt damit der Tatsache Rechnung, dass diese Schäden bei leichten, mittelschweren und schweren Unfällen unterschiedlich zu bemessen sind und damit die Festsetzung unterschiedlicher Freibeträge erfordern (vgl hierzu auch: BT-Drucks 11/4124, Begründung zu § 92 des Entwurfs (= § 93 SGB VI), S 174; ferner BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 1995, SozR 3-2200 § 636 Nr 1).

Die Anknüpfung in § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI an § 31 BVG beinhaltet eine Rechtsfolgen-, nicht aber Rechtsgrundverweisung. Sie ordnet zum Zwecke der Gleichbehandlung allein die Übernahme der dort für Beschädigtengrundrenten bei gleichem MdE-Grad festgesetzten Rentenbeträge als Freibeträge an, um den anrechnungsfreien und damit letztlich den verbleibenden anrechnungsfähigen Betrag der Verletztenrente bestimmen zu können. Auf den Leistungsgrund im Sinne des BVG kommt es nicht an. Dies wäre für die Mehrzahl der Fälle, in denen die unfallverletzten Rentner nicht Kriegsopfer sind, sogar widersinnig. Auch die Annahme, der Leistungsgrund des BVG sei fiktiv in Bezug genommen worden, lässt sich nicht aus dem Gesetzeswortlaut ("geleistet würde") herleiten. Die Wahl des Konjunktiv war mit Blick auf die Mehrzahl der Rentenberechtigten, die nach dem BVG nicht leistungsberechtigt sind, geboten. Dem Zweck des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI, einen anrechnungsfreien Betrag der Verletztenrente ermitteln zu können, wird sachgerecht durch die Rechtsfolgenverweisung bewirkt.

cc) Die in § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI angeordnete Gleichbehandlung von unfallverletzten Rentenberechtigten ist im Rahmen der Überleitung der bundesdeutschen Rentenversicherung auf das Beitrittsgebiet am 1. Januar 1992 nicht zum Nachteil der dortigen Versicherten verändert worden.

Im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses (1989) hatte der Gesetzgeber des SGB VI (Rentenreformgesetz 1992) nicht zwischen Rentenberechtigten im Bundesgebiet und dem Gebiet der damals noch existierenden DDR unterscheiden können und auch nicht unterschieden. Das Gesetz bezweckte eine Gleichbehandlung aller unfallverletzten Rentenberechtigten, die seinem Geltungs- und Anwendungsbereich unterfielen. Mit der Überleitung des bundesdeutschen Rentenversicherungsrechts auf das Beitrittsgebiet durch das Rentenüberleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606) sind der Gesetzestext und seine Bedeutung nicht verändert worden. Auch das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz vom 24. Juni 1993 (BGBl I 1038) sowie weitere nachfolgende Gesetze, die Änderungen im SGB VI vorgenommen haben, haben den Text und rechtlichen Inhalt des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI unverändert gelassen. Demzufolge hat der Gesetzgeber seine Entscheidung aus dem Jahre 1989, alle unfallverletzten Rentenberechtigten, die dem Geltungs- und Anwendungsbereich des Gesetzes unterfallen, gleich zu behandeln, nicht geändert.

Auch der systematische Aspekt gebietet diese Auslegung. § 93 SGB VI ist eine Norm des 2. Kapitels des SGB VI, dessen Regelungen einheitliche Geltung im gesamten Bundesgebiet beanspruchen. Soweit hiervon - in der Regel übergangsrechtlich - abweichende Bestimmungen im RV-Recht getroffen werden, sind diese im 5. Kapitel des SGB VI oder in Spezialgesetzen verankert. Dort findet sich keine Regelung, die eine differenzierende Anwendung der Freibetragsregelung des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI für das Beitrittsgebiet anordnet.

Zu Unrecht beruft sich die Beklagte auf § 84a BVG, der schon nach seinem Wortlaut keine Regelung enthält, die für unfallverletzte Rentenberechtigte gilt. Die Leistungen nach dem BVG sind zum 1. Januar 1991 auf das Beitrittsgebiet erstreckt worden. Gemäß § 84a BVG iVm Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 1 Buchst a zum EinigVtr wurden Versorgungsberechtigte, die am 18. Mai 1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten, gegenüber Berechtigten in den alten Bundesländern schlechter gestellt; sie erhielten ua eine geringere Grundrente als diese (zur Verfassungswidrigkeit seit dem 1. Januar 1999: BVerfG, Urteil vom 14. März 2000, BVerfGE 102, 41). Die Ungleichbehandlung der Kriegsopfer in "Ost und West" betraf allein das Leistungsrecht des BVG, nicht aber des SGB VI. § 84a BVG lässt sich nicht andeutungsweise entnehmen, er wolle zugleich die Freibetragsregelung des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI zu Lasten der Versicherten im Beitrittsgebiet abändern.

dd) Das im Rahmen der grammatischen, teleologischen, historischen und systematischen Interpretation gefundene Auslegungsergebnis ist das einzig verfassungsgemäße.

Das vom Kläger durch eigene Vorleistungen erworbene Recht auf Altersrente unterliegt dem Eigentumsschutz des Art 14 Abs 1 GG. § 93 SGB VI ist eine Schrankenbestimmung im Sinne des Art 14 Abs 1 Satz 2 GG; er schränkt für die - vom Normalfall abweichende - besondere Situation des Zusammentreffens von RV-Renten und UV-Renten in einer Person deren Recht ein, vom RV-Träger monatlich - ungekürzt - Zahlung eines Betrages in Höhe des Wertes ihres Rechts auf RV-Rente zu verlangen. Ein solcher Eingriff in das Eigentumsgrundrecht muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem Gesetz verfolgten Zweck stehen; darüber hinaus bedürfen Schrankenbestimmungen immer eines Sachgrundes (materiellen Differenzierungskriteriums), der Art und Ausmaß der Abweichung vom Normalfall rechtfertigt (Urteil des Senats vom 31. März 1998, BSGE 82, 83, 88 f = SozR 3-2600 § 93 Nr 7).

§ 93 SGB VI genügt in der vom Senat vorgenommenen Auslegung den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl dazu: Urteil des Senats vom 31. März 1998, aaO, S 86 ff). Die Festsetzung eines niedrigeren Freibetrages für unfallverletzte Rentenberechtigte im Beitrittsgebiet wäre dagegen verfassungswidrig. Sie würde vorab den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen. Die damit letztlich verbundene Zuerkennung eines niedrigeren monatlichen Zahlungsanspruchs trotz gleichhohen immateriellen Schadens ließe sich allenfalls mit einer geringeren Wirtschaftskraft und niedrigeren Löhnen und Gehältern im Beitrittsgebiet rechtfertigen. Diese tatsächlichen Unterschiede zu den alten Bundesländern werden aber bereits bei der Festsetzung des Wertes des Rentenrechts berücksichtigt; sie spiegeln sich im niedrigeren aktuellen Rentenwert wieder (§ 255a SGB VI). Ein nochmaliger "Abschlag" beim Freibetrag würde Versicherte im Beitrittsgebiet im Vergleich zu denen im alten Bundesgebiet unverhältnismäßig belasten.

Auch das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 GG verbietet im Rahmen des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI eine Differenzierung zwischen unfallverletzten Rentenberechtigten mit gleichhoher MdE in den alten und neuen Bundesländern. Demgegenüber führt die gesetzeswidrige Verwaltungspraxis der Beklagten dazu, dass zwischen vier Gruppen von unfallverletzten Rentenberechtigten mit gleichhoher MdE zu differenzieren ist, nämlich zwischen

- Versicherten aus den alten Bundesländern; diesen wird stets der volle Freibetrag zuerkannt;

- Versicherten aus dem Beitrittsgebiet, die nach dem BVG leistungsberechtigt sind und ihren Wohnsitz vor dem 18. Mai 1990 im alten Bundesgebiet genommen haben; auch diese erhalten den vollen Freibetrag;

- Versicherten, die nach dem BVG leistungsberechtigt sind und ihren Wohnsitz am 18. Mai 1990 im Beitrittsgebiet hatten; diesen will die Beklagte bis Ende 1998 nur den reduzierten "Freibetrag Ost" zugestehen, seither den vollen Freibetrag;

- Versicherten, die im Beitrittsgebiet wohnen und nicht nach dem BVG leistungsberechtigt sind; sie sollen immer unter die Kürzung des Freibetrages fallen.

Ein Sachgrund für eine solche Differenzierung ist nicht erkennbar. Hierbei ist in Erinnerung zu rufen, dass die Freibetragsregelung des § 93 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VI dazu dient, den immateriellen Schaden des Unfallopfers zu bestimmen und diesen von der Anrechnung freizustellen. Für die Annahme, der Wohnsitz des Opfers könne den immateriellen Schaden, also das Ausmaß der seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen, beeinflussen, können sachliche Gründe nicht ernsthaft geltend gemacht werden.

Auch im Lichte der Art 14 Abs 1 Satz 2 und Art 3 Abs 1 GG ist es somit geboten, allen unfallverletzten Rentenberechtigten mit gleichhoher MdE den gleichen Freibetrag zuzuerkennen. Deswegen ist nicht darzulegen, dass die Praxis der Beklagten auch gegen den grundrechtlichen Parlamentsvorbehalt verstößt.

3. Die vom SG vorgenommene Gesetzesanwendung verletzt Bundesrecht. Eine abschließende Entscheidung des BSG war jedoch nicht möglich. Wegen der fehlenden Feststellungen des SG war der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).

4. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten.
Rechtskraft
Aus
Saved