L 1 AL 30/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 4 AL 60/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 30/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 11.03.2004 in der Fassung des Beschlusses vom 26.03.2004 geändert und die Klage abgewiesen. Die Klägerin erstattet die Gerichtskosten in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um 90.553,60 EUR Kurzarbeitergeld (Kug).

Die Klägerin ist ein mittelständisches Unternehmen der Möbelindustrie. Für die Monate Juni bis August 2002 setzte sie für ihre Fabrik im Ort T Kurzarbeit fest und zeigte dies der Beklagten am 27. Juni 2002 an. Nach Betriebsprüfung vor Ort teilte die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 18. Juli 2002 mit, dass für die Arbeitnehmer des betroffenen Betriebes die Anspruchsvoraussetzungen für Kug gegeben seien. Wie auch schon die mündliche Belehrung zum Abschluss der Betriebsprüfung enthielt der Bescheid den (fettgedruckten) Hinweis, dass das Kug innerhalb einer Ausschlussfrist jeweils für einen Anspruchszeitraum (Kalendermonat) zu beantragen sei. Eine Zusammenfassung mehrer Monate zur Wahrung der Ausschlussfrist sei nicht möglich. Auf Grund von Anträgen, die nach Ablauf der maßgeblichen Ausschlussfrist eingingen, könnten keine Leistungen gewährt werden.

Mit Leistungsanträgen vom 11 November 2002 (Eingang bei der Beklagten) beantragte die Klägerin Kug für Juni, Juli und August 2002. Das lehnte die Beklagte für die Monate Juni und Juli 2002 mit Hinweis auf die dreimonatige Ausschlussfrist des § 325 Abs 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) mit Bescheid vom 5. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2003 ab.

Der dagegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) Detmold durch Gerichtsbescheid vom 11. März 2004 in der Fassung des Beschlusses vom 26. März 2004 stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Gesetzgeber habe bei der Neufassung der Bestimmungen über das Antragsverfahren zum Kug in § 325 Absatz 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) nicht von der alten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Vorgängerregelung im Arbeitsförderungsgesetz (AFG - Urteil vom 19. Februar 1986 - 7 RAr 47/84 ) abweichen wollen.

Mit ihrer rechtzeitigen Berufung trägt die Beklagte vor, der Wortlaut des Gesetzes lasse die vom SG zugrunde gelegte Auslegung nicht zu. § 323 Abs. 2 SGB III verlange die Beantragung des Kug innerhalb der dreimonatigen Ausschlussfrist. Der Beginn dieser Frist sei durch den Ablauf des Anspruchszeitraums, für den das Kug beantragt werde, bestimmt. Was unter dem gesetzlichen Anspruchszeitraum zu verstehen sei, ergebe sich ausdrücklich aus der gesetzlichen Definition des § 170 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB III. Abweichende Ansichten, die dazu auf die sogenannte Bezugsfrist des § 177 SGB III abstellten (Niesel in Niesel,. SGB III, 3. Auflage 2005, § 325 Randnummer - Rn - 8; Hünecke in Gagel, SGB III, Stand Oktober 2005, § 325 Rn 14) fänden im Gesetz keine Stütze. Gegen die Fristversäumung sei auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen.

Die Klägerin verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid und verweist ergänzend auf die Gesetzesmaterialien zu § 170 SGB III (Bundestagsdrucksache 13/4941, Seite 184), aus denen sich ihrer Ansicht nach ergibt, dass die frühere Rechtsprechung des BSG zu den Vorgängerregelungen der §§ 63, 64 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) durch die neue Fassung des § 170 SGB III nicht geändert werden sollte.

Wegen der Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens und des Beweisergebnisses wird auf die beigezogenen Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen, die dem Senat bei der geheimen Beratung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Sozialgericht hat die angefochtenen Bescheide zu Unrecht aufgehoben, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf das begehrte Kug.

1. In tatsächlicher Hinsicht wäre der einzige Ansatzpunkt, zu einem noch fristgerechten Antrag und damit zu einem für die Klägerin günstigen Ergebnis zu gelangen, schon die (noch innerhalb der Drei-Monatsfrist liegende) Kug-Anzeige vom 27. Juni 2002 als Antrag iSd § 235 SGB III auszulegen. In der Literatur wird dieser Weg im Einzelfall für gangbar gehalten (Feckler in Gemeinschaftskommentar zum SGB III - GK SGB III -, Stand Mai 2005, § 325 Rn 44; ebenso Wagner in GK SGB III, Stand Juli 2005, § 325 Rn 7 und Kaiser in Wissing/Mutscheler/Bartz/Schmidt- De Caluwe, SGB III, Stand August 1998, § 325 Rn 9; dagegen BSG Urteil vom 6.4.2002 - B 11 AL 81/99 R). Allerdings scheitert dies hier letztlich bereits daran, dass die damalige Anzeige auf dem amtlichen Vordruck der Beklagten eindeutig formuliert war und auch kein Begleitschreiben der Klägerin enthielt, das ggf weiterer Auslegung zugänglich wäre. Ebenso wenig bietet die beigefügte Betriebsvereinbarung einen Anhalt für eine erweiterte Auslegung - etwa durch bereits konkrete Benennung der betroffenen Arbeitnehmer.

2. Rechtlich ist daher allein an den Anträgen vom 11. November 2002 anzusetzen und zu fragen, ob diese den Anforderungen des § 235 Abs 3 SGB III iV. § 170 Abs 1 Nr. 4 SGB III in zeitlicher Hinsicht genügen.

Die Meinungen über den Beginn der Frist sind dabei in der Literatur geteilt. Neben den von der Klägerin genannten Autoren Feckler und Niesel wird auch von Leitherer in Eicher/Schlegel, SGB III, Stand August 2004 § 325 Rn 35, von Weber in Schönefelder/Kranz/Wanka, SGB III, Stand Dezember 2002, § 325 Rn 6 und von Wagner a.a.O. § 325 Rn 6 und 7 vertreten, dass es auf den gesamten Kug-Zeitraum und nicht auf den jeweiligen Monat ankommt. Allerdings nennt keiner dieser Autoren dafür eine Begründung oder setzt sich mit dem neuen Wortlaut des § 170 SGB III auseinander. Dagegen stellen Söhngen in Spellbrink/Eicher,Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 6 Rn 226 und 227 sowie Radüge in Hauck/Noftz, SGB III, Stand November 2003, § 325 Rn 13 und Kaiser a.a.O. Rn 7 auf § 170 SGB III ab und berechnen den Fristbeginn auf Basis des jeweiligen Kalendermonats. Im Ergebnis sprechen Wortlaut-, Entstehungs und Zweck-Gesichtspunkte für die letztgenannte Auffassung:

a) Wortaut der Regelung

Gemäß § 325 Abs 3 SGB III ist Kug für den jeweiligen Anspruchszeitraum innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten zu beantragen; die Frist beginnt mit Ablauf des Anspruchszeitraums, für den Kug beantragt wird. Was unter dem Anspruchszeitraum iSd § 325 SGB III zu verstehen ist, definiert § 170 Abs 1 Nr. 4 Satz 1 ausdrücklich als den jeweiligen Kalendermonat. Die Worte "jeweiliger Kalendermonat" sind sprachlich eindeutig und stehen einer Zusammenfassung mehrerer Monate zu einem Zeitraum ausdrücklich entgegen.

b) Entstehung der Regelung

Im Rahmen der historischen Auslegung ist der Klägerin zwar zuzugestehen, dass die Gesetzesmaterialien zu § 170 SGB III keinen Anhalt dafür bieten, dass die frühere Rechtsprechung des BSG zu §§ 63, 64 AFG mit der neuen Fassung des § 170 SGB III modifiziert werden sollte, denn dort heißt es tatsächlich lediglich, "die Vorschrift fasse verschiedene die Ursachen des Arbeitsausfalls betreffende Leistungsvoraussetzungen zusammen, die bislang in § 63 Absatz 1 und § 64 Absatz 1 AFG geregelt waren" (Bundestagsdrucksache 13/ 4941, Seite 184).

Das Fehlen einer Erläuterung in den Motiven lässt aber den eindeutigen Schluss auf ein Redaktionsversehen im Gesetzgebungsverfahren nicht zu (näher Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6. Auflage 1991 Seite 302 ff, 318). Es ist vielmehr nicht unüblich, dass auch uU weit reichende rechtliche und wirtschaftliche Folgen neuer Regelungen in den amtlichen Erläuterungen zum Gesetzentwurf nicht näher hervorgehoben werden, weil sie sonst nach politischen Sachgesetzlichkeiten im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzbar wären. Eine Grundregel des Inhalts, dass aus dem Schweigen in den Materialien auf einen entgegenstehenden politischen Willen zu schließen wäre, gibt es daher entgegen der Auffassung der Klägerin nicht.

Vor diesem Hintergrund spricht die alte Rechtsprechung des BSG nicht für, sondern gerade gegen ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers. Denn das BSG hatte für seine Auffassung ausdrücklich darauf abgestellt, dass die alte Fassung des § 72 Abs 2 Satz 3 und Satz 4 AFG (d.h. der Vorläuferregelung des § 323 Abs. 3 SGB III) unklar war und die Frage des Fristbeginns nicht eindeutig im Sinne einer auf den Anspruchsmonat bezogenen Fristberechnung entschieden hatte (Urteil vom 14. Februar 1978 - 7/12 RAr 73/76). Wenn das Gesetz vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung nun in § 170 SGB III explizit vom "jeweiligen Kalendermonat (Anspruchszeitraum)" spricht und diese Definition in § 325 SGB III mit dem Wort "Anspruchszeitraum" in Bezug nimmt, bleibt kaum Raum für andere entstehungsgeschichtliche Interpretationshypothesen, auf die sich die Klägerin stützt. Zutreffend weist Söhngen a.a.O. daher darauf hin, dass die alte Rechtsprechung des BSG zu § 64 AFG mit der Neufassung des § 170 SGB III überholt ist (a.A. Hünecke a.a.O. Rn 6).

c) Zweck und Zusammenhang der Regelung

Auch teleologisch sprechen die besseren Gründe für die Auffassung der Beklagten. Das gilt ebenfalls vor allem deswegen, weil das Gesetz für den Antrag auf Kug in in § 325 SGB III ausdrücklich auf den Anspruchszeitraum abstellt. Gerade die gesetzliche Unterscheidung zwischen Anspruchszeitraum (definiert in § 170 SGB III) und Bezugszeitraum (definiert in § 177 SGB III) belegt nämlich, dass hinter den Begriffen auch gesetzliche Überlegungen stehen können, die vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Funktion des straffen Antragsverfahren für das Kug auch Sinn machen. Denn die kurzen Fristen des Antragsverfahrens dienen nicht nur der Vermeidung von Beweisschwierigkeiten, die sonst nach längerer Zeit eintreten können (so schon Bundestagsdrucksache 5/2291 Seite 73 zu § 67 Absatz 2 AFG). Die kurzen Fristen verschaffen der Arbeitsagentur darüber hinaus auch eine zeitnahe Information über die tatsächliche Lage in den Betrieben und geben ihr so einen Überblick, welche haushaltsmäßige Belastung für das Kug auf sie zukommt, damit sie - falls erforderlich - rechtzeitig haushaltsrechtliche Maßnahmen (Bewilligung von Liquididätshilfen nach § 365 SGB III) einleiten kann (so zutreffend Feckler a.a.O.). Das ist bei einer an den Gesamtzeitraum anknüpfenden Fristberechnung bei mehrmonatiger Kurzarbeit nicht gewährleistet.

3. Für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch oder eine Zulassung verspäteter Anträge im Wege des Ermessens nach § 324 SGB III fehlt es schon an tatsächlichen Ansatzpunkten, denn die Klägerin war sowohl durch die Belehrung bei der Betriebsprüfung wie auch durch die fettgedruckten Hinweise der Beklagten frühzeitig und zutreffend über die Antragspflichten sowie ihr sonst drohende Rechtsnachteile informiert. Auf die später von ihr angeführten Literaturmeinungen von Feckler und Wagner konnte sie angesichts dieser klaren Informationen der Beklagten nicht vertrauen. Eine unverschuldete Fristversäumnis oder eine besondere Härte kommen insofern in tatsächlicher Hinsicht nicht in Betracht.

Die Frage, ob die entsprechenden Bestimmungen im Fall des Kug-Antragsverfahrens auch rechtlich ausgeschlossen sind, bedarf daher keiner Entscheidung durch den erkennenden Senat (verneinend zum alten Recht des AFG BSG Urteil vom 19.2.1987 - 7 RAr 47/84 - und vom 10.12.1980 - 7 RAr 76/79 - ebenfalls verneinend zum neuen Recht BSG Urteil vom 5.2.2004 - B 11 AL 47/03 R - demgegenüber bejahend zum neuen Recht Söhngen a.a.O. Rn 228 und Leitherer a.a.O. Rn 38).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung, die Zulassung der Revision auf § 169 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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