L 13 R 1865/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 13 RJ 2699/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 R 1865/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 31. März 2003 wird zurückgewiesen

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1949 geborene Klägerin zog am 16. Februar 1980 aus R. kommend in die Bundesrepublik Deutschland zu. Im Herkunftsland hatte sie in der Zeit vom 15. September 1963 bis 16. Juni 1966 eine Ausbildung zur Konfektionsschneiderin absolviert. Anschließend hatte sie - unterbrochen durch eine Zeit der Kindererziehung (1. April 1975 bis 28. September 1979) - in diesem Beruf gearbeitet. Daneben hatte sie das Abendgymnasium besucht und 1971 mit dem Abitur abgeschlossen. Nach ihrem Zuzug bezog die Klägerin zunächst Arbeitslosengeld (Alg) und arbeitete anschließend in der Zeit vom 4. Mai 1981 bis 13. April 1984 als Näherin. Nach erneuter Arbeitslosigkeit nahm sie am 13. Februar 1989 eine Beschäftigung als Löterin in einer Firma für Präzisionsmesstechnik auf. Dieses Beschäftigungsverhältnis wurde zum 31. Januar 1995 beendet. Die Klägerin meldete sich in der Folge beim Arbeitsamt R. (ArbA) arbeitslos und bezog vom 1. Februar bis 10. Dezember 1995 wieder Alg.

Am 15. Januar 1996 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Zur Begründung gab sie an, sie leide unter einer psychischen Erkrankung und Problemen der Atmungsorgane. Diese Gesundheitsstörungen seien durch einen ärztlichen Kunstfehler verursacht worden. Die Beklagte zog daraufhin die medizinischen Unterlagen des ArbA, u.a. ein Gutachten von Arbeitsamtsärztin Dr. F.-B. und ein Gutachten von Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. bei. Letzterer hatte in seinem Gutachten vom 14. November 1995 ausgeführt, bei der Klägerin habe im Juli 1992 eine linksseitige Ovarialzyste entfernt werden sollen. Dabei sei dem Operateur ein folgenschwerer Irrtum unterlaufen. Er habe die gesuchte Ovarialzyste mit dem Colonsigmoideum verwechselt und irrtümlicherweise ein Darmstück reseziert. Da der Dickdarm unverschlossen blieb, sei es innerhalb von zwei Tagen zu einer schwersten kotigen Peritonitis mit Ileus, Schockzustand, Bewusstseinsverlust und fünfwöchiger intensiv-medizinischer Behandlung mit mehrfachen Re-Laporotomien und zeitweiligem Anlegen eines Anus Praeter gekommen. Die erforderliche Langzeitbeatmung über ein Tracheostoma habe zu Lungenfibrosen geführt, die schon bei geringen Anstrengungen Dyspnoe-Erscheinungen verursachten. Als weitere Folge sei eine Hirnleistungsschwäche aufgetreten, die bislang nicht habe gebessert werden können. Aktuell sei die Klägerin weder arbeits- noch vermittlungsfähig. Bei konsequenter Durchführung erforderlicher Behandlungsmaßnahmen könne die Arbeitsfähigkeit innerhalb eines Jahres wiederhergestellt werden. Zu diesem Ergebnis war auch Dr. F.-B. in ihrem Gutachten vom 2. Dezember 1995 gelangt. Das aktuelle Leistungsvermögen der Klägerin hatte sie auf unter halbschichtig eingeschätzt. Nach Auswertung dieser Unterlagen durch Internist Dr. C. (Stellungnahme vom 22. April 1996) gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 19. Juni 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Juni 1996 bis 31. Dezember 1997.

Am 15. September 1997 beantragte die Klägerin die Weiterzahlung dieser Rente über den Wegfallmonat hinaus. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch Facharzt für Psychiatrie L. und Fachärztin für Chirurgie Dr. L ... In ihrem Zusatzgutachten vom 18. November 1997 diagnostizierte Dr. L. Verwachsungsbeschwerden und eine Bauchwandschwäche bei Zustand nach viermaligen abdominellen Eingriffen wegen einer eitrigen Bauchfellentzündung 1992 und eine initiale Coxarthrose links ohne Funktionseinschränkung bei aktuell gering ausgeprägter Beschwerdesymptomatik. Leichte körperliche Arbeiten könne die Klägerin weiterhin vollschichtig verrichten. Facharzt für Psychiatrie L. hielt die Klägerin in seinem Gutachten vom 10. Dezember 1997 für fähig, sowohl eine Tätigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf als Löterin als auch sonstige leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seit 1. Januar 1998 wieder vollschichtig zu verrichten. Die von ihm erhobenen Befunde (Zustand nach Abdominal-OP-Zwischenfall mit Schockzustand, Koma und Langzeitbeatmung 1992, Lungenfibrose, Zustand nach hirnorganischem Psychosyndrom und Anpassungsstörung mit hypochondrischen, hysterischen und angstneurotischen Tendenzen) stünden dem nicht entgegen. Mit Bescheid vom 7. Januar 1998 lehnte die Beklagte den Antrag auf Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente ab. Den hiergegen seitens der Klägerin erhobenen Widerspruch wies die Beklagte nach Beiziehung weiterer Befundunterlagen und Auswertung durch ihren sozialmedizinischen Dienst (Stellungnahme von Arzt für Allgemeinmedizin/Sozialmedizin/Sportarzt Dr. H. vom 4. August 1998) mit Widerspruchsbescheid vom 4. September 1998 zurück.

Mit ihrer am 30. September 1998 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage (S 13 RJ 4009/98) hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie leide nach wie vor erheblich unter den Folgen des bei der Operation am 22. Juli 1992 unterlaufenen Kunstfehlers. Sie sei deshalb nicht mehr in der Lage, Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes zu verrichten; ein Arbeitsversuch habe aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden müssen. Die Klägerin hat die in einem Arzthaftungsprozess gegen den behandelnden Operateur vom Landgericht K. eingeholten Gutachten der Neurologischen Universitätsklinik U. vom 28. Juli 1999 (Neurologe und Psychiater Prof. Dr. A. und Dr. U.-S.; Bl. 42 bis 64 der SG-Akte (S 13 RJ 4009/98)), der Urologischen Universitätsklinik U. vom 10. Januar 2000 (Prof. Dr. Dr. H., PD Dr. G. und Dr. P.; Bl. 72 bis 78 der SG-Akte (S 13 RJ 4009/98)) und der Chirurgischen Universitätsklinik U. vom 26. April 2000 (Prof. Dr. S.-P. und PD Dr. O.; Bl. 85 bis 90 der SG-Akte (S 13 RJ 4009/98)) vorgelegt. Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage sozialmedizinischer Stellungnahmen von Arzt für Innere Medizin/Gastroenterologie/Sozialmedizin PD Dr. M.-R. (Stellungnahmen vom 11. Dezember 1998 und vom 26. Mai 2000), Internist/Sozialmediziner MDR L. (Stellungnahme vom 19. Oktober 2001) sowie Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. (Stellungnahme vom 31. Januar 2003) entgegengetreten. Wegen des Inhalts dieser Stellungnahmen wird auf Bl. 27 und 95 der SG-Akte S 13 RJ 4009/98 sowie auf Bl. 13 und 116 der SG-Akte S 13 RJ 2699/01 Bezug genommen. Das SG hat schriftliche sachverständige Zeugenaussagen von Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B. (Aussage vom 6. Dezember 1998) und von dem Arzt für Psychiatrie S. (Aussage vom 7. Dezember 1998) eingeholt. Beide haben die Klägerin nicht mehr für fähig erachtet, eine leichte körperliche Tätigkeit vollschichtig zu verrichten. Im Hinblick auf das beim Landgericht K. anhängige Verfahren hat das SG auf Antrag der Beteiligten mit Beschluss vom 29. September 2000 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach Wiederaufnahme des Rechtsstreits durch die Klägerin (Az. nunmehr S 13 RJ 2699/01) hat das SG den Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie/Klinische Geriatrie Dr. B. mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 1. September 2002 (unter Einbeziehung einer von Dipl.-Psych. K. durchgeführten testpsychologischen Zusatzuntersuchung) ausgeführt, die Klägerin leide an einer leichten kognitiven Störung, an einer Persönlichkeitsveränderung mit Panikattacken und depressiv-neurasthenischem Bild, an Verwachsungsbeschwerden und an einer Wirbelsäulenfehlhaltung mit myostatischer Insuffizienz und degenerativen Wirbelsäulenveränderungen sowie wiederkehrenden Cervicalgien und Lumbalgien. Nach Aktenlage bestehe ferner eine Harninkontinenz Grad II und zusätzlich eine angegebene leichte Stuhlinkontinenz. Ohne unmittelbare Gefährdung ihrer Gesundheit könne die Klägerin leichte körperliche Arbeiten unter Beachtung zahlreicher qualitativer Einschränkungen zumindest sechs bis acht Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche verrichten. Mit Gerichtsbescheid vom 31. März 2003 hat das SG die Klage abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig verrichten könne.

Gegen das ihr gemäß Empfangsbekenntnis am 4. April 2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. Mai 2003 schriftlich beim SG Berufung eingelegt. Sie stehe unter einem starken Leidensdruck und sei selbst einfachsten Anforderungen des täglichen Lebens nicht mehr gewachsen. Sie sei deshalb auf die andauernde Fürsorge ihrer Familie angewiesen. Eine Erwerbstätigkeit könne sie nicht mehr ausüben. Jedenfalls liege in ihrem Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Insbesondere die bestehende Stuhl- und Harninkontinenz mache es ihr unmöglich, einen Arbeitsplatz zu erhalten.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 31. März 2003 sowie den Bescheid vom 7. Januar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. September 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 31. Dezember 1997 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig und den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend. Unter den heute üblichen Bedingungen stelle die Notwendigkeit, häufiger Toiletten aufzusuchen, kein Hindernis für eine normale betriebliche Einsatzfähigkeit dar. Darüber hinaus sei die Benutzung von Hilfsmitteln wie z.B. Einlagen zumutbar. Das Bestehen eines vollschichtigen Leistungsvermögens werde durch die vom SG und vom Landessozialgericht (LSG) durchgeführte Beweisaufnahme bestätigt. Zur Begründung legt die Beklagte weitere sozialmedizinische Stellungnahmen von Dr. G. vom 20. Dezember 2004 und vom 16. August 2005 (Bl. 67 und 178 der LSG-Akte) vor.

Der Senat hat auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) den Internisten und Rheumatologen Prof. Dr. L. sowie den Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Dr. Dr. B. mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Darüber hinaus ist von Amts wegen ein Sachverständigengutachten von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. B. eingeholt worden. Prof. Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 15. Oktober 2004 die Auffassung vertreten, die Klägerin könne auch für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vollschichtig eingesetzt werden. Selbst bei einem unter halbschichtigen Einsatz sei problematisch, ob die erforderlichen qualitativen Einschränkungen eingehalten werden könnten. Prof. Dr. B. hat in seinem Gutachten vom 1. Februar 2005 die Klägerin demgegenüber noch für fähig erachtet, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein. Das Vorliegen einer psychiatrischen Krankheit im eigentlichen Sinn könne ausgeschlossen werden. Dr. Dr. B. hat dieser Beurteilung in seinem Gutachten vom 5. Juni 2005 widersprochen und bei der Klägerin u.a. einen Zustand nach hirnorganischer Schädigung mit leichten kognitiven Störungen, eine Persönlichkeitsveränderung mit intermittierenden Panikattacken und latenten Suizidideen, ein depressiv-neurasthenisches Syndrom, eine postoperative endokrine Depression und eine Reihe neurologischer Ausfallerscheinungen diagnostiziert. Nach seiner Einschätzung ist die Klägerin nur noch in der Lage, ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für drei bis weniger als sechs Stunden zu verrichten.

Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Klageakten des SG (S 13 RJ 4009/98 und S 13 RJ 2699/01) sowie die Berufungsakten des Senats (L 13 R 1865/03) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 und 2 SGG) eingelegt worden. Die Berufungsfrist ist gewahrt. Das Urteil vom 31. März 2003 ist der Klägerin gemäß Empfangsbekenntnis am 4. April 2003 zugestellt worden. Damit wäre die Berufungsfrist am 4. Mai 2003 abgelaufen. Da es sich hierbei jedoch um einen Sonntag gehandelt hat, endete die Frist erst mit Ablauf des nächsten Werktages (§ 64 Abs. 3 SGG). Die am darauf folgenden Montag, dem 5. Mai 2003, beim SG eingegangene Berufung war dementsprechend fristgerecht.

Die Berufung ist jedoch unbegründet; das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl. § 54 Abs. 4 SGG; Bundessozialgericht )BSG( SozR 3-2600 § 44 Nr. 7) ist der den Antrag der Klägerin vom 15. September 1997 auf Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente ablehnende Bescheid vom 7. Januar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. September 1998. Dieser erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit über den 31. Dezember 1997 hinaus. Des weiteren besteht auch kein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach dem seit 1. Januar 2001 geltenden Recht.

Maßgeblich für den erhobenen Anspruch sind, da sich unter Zugrundelegung des klägerischen Begehrens ein Rentenbeginn vor dem 1. Januar 2001 ergeben würde, noch die Bestimmungen des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (a.F.). Soweit sich ein Rentenbeginn - bei einem erst später eingetretenen Leistungsfall - erst nach dem 31. Dezember 2000 ergeben würde, richtet sich der Anspruch nach §§ 43, 240 SGB VI in der seit 1.1.2001 geltenden Fassung (n.F.; vgl. §§ 300 Abs. 2, 302b Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000, BGBl. I S. 1827; Jörg in Kreikebohm, SGB VI, § 302b Rdnr. 3).

Gemäß § 44 Abs. 1 SGB VI a.F. haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sowie die allgemeine Wartezeit erfüllt haben und erwerbsunfähig sind; entsprechende Regelungen sind in § 43 Abs. 1 SGB VI a.F. für die Rente wegen Berufsunfähigkeit vorgesehen. Berufsunfähig sind nach allen Fassungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI - geändert erst durch die Einführung der neuen Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI ab 1. Januar 2001 - Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich geistig und seelisch Gesunden mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F. alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zu beachten ist außerdem die Vorschrift des § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGB VI vom 2. Mai 1996 (BGBl. I S. 659; vgl. BSGE 78, 207, 212; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 56); danach ist bei vollschichtigem Leistungsvermögen die jeweilige Arbeitsmarktlage grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (vgl. dazu allgemein BSG - Großer Senat - BSGE 80, 24 ff.).

Bereits die weniger weitgehenden Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit liegen nicht vor. Zwar ist die allgemeine Wartezeit (vgl. §§ 50 Abs. 1 Nr. 2, 51 Abs. 1 SGB VI) und die erforderliche Drei-Fünftel-Belegung mit Pflichtbeiträgen (§§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI a.F.) erfüllt, die Klägerin ist aber - jedenfalls seit 1. Januar 1998 - nicht berufsunfähig.

Seit diesem Zeitpunkt ist die Klägerin in der Lage, zumindest leichte körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Funktionseinschränkungen vollschichtig zu verrichten; eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens in quantitativer Hinsicht liegt nicht vor. Dies steht zur vollen Überzeugung des Senats fest aufgrund der im Ergebnis überzeugenden Gutachten von Dr. B. und Prof. Dr. B ... Letzterer hat auf neurologischem Fachgebiet lediglich ein leicht ausgeprägtes Wirbelsäulensyndrom diagnostiziert. Diese Einschätzung überzeugt, nachdem er keine sensiblen oder motorischen neurologischen Defizite, die auf ein Wirbelsäulensyndrom beziehbar wären, objektivieren konnte und aktuell auch Nervenwurzelreizsymptome ausgeschlossen werden konnten. Das Gangbild der Klägerin war, wie der Sachverständige durch das Ergebnis einer durchgeführten Belastungsuntersuchung nachgewiesen hat, objektiv nicht beeinträchtigt. Letztlich hat Prof. Dr. B. auch aus den Angaben der Klägerin zu ihrem Freizeitverhalten nachvollziehbar geschlussfolgert, dass auf neurologischem Gebiet relevante Einschränkungen mit Relevanz für das quantitative Leistungsvermögen nicht bestehen. Lediglich in qualitativer Hinsicht muss die Klägerin mittelschwere und schwere körperliche Arbeiten mit häufigem Bücken, Drehen und Wenden, Arbeiten in häufigen Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten sowie Tätigkeiten unter Einfluss von Kälte und Nässe ohne entsprechende Schutzkleidung vermeiden. Darüber hinaus liegen auch auf psychiatrischem Fachgebiet keine Erkrankungen vor, die eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens der Klägerin in rentenberechtigendem Umfang nach sich ziehen könnten. Prof. Dr. B. konnte bei der Klägerin keine psychiatrischen Krankheitssymptome objektivieren. Es fanden sich lediglich in den anamnestischen Angaben Hinweise auf eine zeitweise bestehende negativ getönte subjektive Befindlichkeit im Sinne einer Dysthymie, jedoch ohne daraus resultierende objektivierbare Symptome. Dies erscheint nachvollziehbar, nachdem sich auch aus den Schilderungen der Klägerin hinsichtlich ihres Tagesablaufes, privater Interessen und sozialer Kontakte keine Hinweise auf ein psychiatrisches Krankheitsbild klinisch-relevanten Ausmaßes ergaben. Demgegenüber hatte Dr. B. in diagnostischer Hinsicht neben einer leichten kognitiven Störung eine Persönlichkeitsveränderung mit Panikattacken und depressiv-neurasthenischem Bild angenommen. Es kann offen bleiben, ob diese Abweichung auf einer unterschiedlichen Bewertung des (gleichen) psychiatrischen Krankheitsbildes oder auf einer möglicherweise nach der Begutachtung durch Dr. B. eingetretenen Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin beruht, denn auch Dr. B. hat - selbst vor dem Hintergrund der von ihm gestellten Diagnosen - eine zeitliche Einschränkung des beruflichen Restleistungsvermögens im Ergebnis überzeugend verneint. Entscheidende Bedeutung misst der Senat darüber hinaus dem von Prof. Dr. B. schlüssig geführten Nachweis simulativer Tendenzen als Ausdruck einer bewusstseinsnahen Tendenzreaktion bzw. Zweckreaktion bei. Hierbei handelt es sich, wie der Sachverständige dargelegt hat, gerade nicht um unüberwindbare psychische Hemmungen, da keine Funktionsdefizite aus den von ihr angegebenen bzw. demonstrierten Funktionseinschränkungen resultieren.

Angesichts dieser überzeugenden Einschätzungen des beruflichen Leistungsvermögens durch die Sachverständigen Dr. B. und Prof. Dr. B. vermochte der Senat den abweichenden Beurteilungen der behandelnden Ärzte Dr. B. und S. ebenso wenig zu folgen, wie den auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG eingeholten Sachverständigengutachten von Prof. Dr. L. und Dr. Dr. B ... Facharzt für Allgemeinmedizin B. hat in seiner Aussage vom 6. Dezember 1998 die Symptomatik eines allgemeinen Psychosyndroms beschrieben und hierauf gestützt das Vorliegen einer vollschichtigen Leistungsfähigkeit verneint. Dies vermochte Dr. B. jedoch nicht mit aktuellen Befunden zu belegen, nachdem ausweislich seiner Angaben eine Behandlung wegen nervenärztlicher Erkrankungen im weitesten Sinne zuletzt im Dezember 1994 ("psychophysischer Erschöpfungszustand") erfolgt ist. Der Aussage des Arztes für Psychiatrie Schäfer vom 7. Dezember 1998 kann nicht entnommen werden, inwieweit die Einschätzung, die Klägerin sei den Belastungen des heutigen Arbeitsmarktes nicht mehr gewachsen, lediglich auf deren subjektiver Beschwerdeschilderung oder auf objektivierbaren, vom Behandler erhobenen Befunden beruht. Sie überzeugt bereits aus diesem Grund nicht. Auch das Sachverständigengutachten von Prof. Dr. L. ist nicht geeignet, die Beurteilungen von Dr. B. und Prof. Dr. B. in Zweifel zu ziehen. Das Schwergewicht der das berufliche Leistungsvermögen einschränkenden Erkrankungen der Klägerin liegt nach übereinstimmender Ansicht sämtlicher hierzu befragter Ärzte auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Prof. Dr. L. ist demgegenüber Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie; er steht dementsprechend einer Klinik für Innere Medizin als Ärztlicher Direktor vor. Da Prof. Dr. L. deshalb nicht über eine entsprechende Fachkompetenz verfügt, misst der Senat seiner Beurteilung einen erheblich geringeren Beweiswert zu als derjenigen von Dr. B. und Prof. Dr. B., die beide über eine Facharztausbildung auf nervenärztlichem Fachgebiet verfügen. Letztlich überzeugt den Senat auch die Einschätzung von Dr. Dr. B. in dessen Gutachten vom 5. Juni 2005 nicht. Dieser setzt sich zwar sehr kritisch mit dem Gutachten von Prof. Dr. B. auseinander, ist im Ergebnis jedoch nicht in der Lage, dieses nachvollziehbar zu entkräften. Dies gilt insbesondere für die bereits von Dr. B. angedeutete und von Prof. Dr. B. mit überzeugender Begründung dargelegte Simulationstendenz im Verhalten der Klägerin. Gerade auf nervenärztlichem Fachgebiet kann eine rentenberechtigende Einschränkung des beruflichen Restleistungsvermögens wegen regelmäßig fehlender objektivierbarer Befunde erst dann angenommen werden, wenn mit Sicherheit auszuschließen ist, dass die geschilderten und subjektiv empfundenen Beschwerden nicht vorgetäuscht werden und mit zumutbarer Willensanstrengung überwunden werden können. Für eine solche Feststellung bieten die Darlegungen von Dr. Dr. B. jedoch keine ausreichende Grundlage. Sein Gutachten ist deshalb nicht geeignet, die überzeugende Einschätzung von Prof. Dr. B. zu widerlegen. Das gleiche gilt für die im Rahmen des zivilgerichtlichen Verfahrens vor dem Landgericht K. eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten, insbesondere für das von Prof. Dr. A. und Dr. U.-S. erstattete Gutachten vom 28. Juli 1999. Diesem Gutachten lag eine abweichende, für die Beurteilung der von der Klägerin erhobenen zivilrechtlichen Ansprüche maßgebliche Fragestellung zugrunde. Dementsprechend haben Prof. Dr. A. und Dr. U.-S. sich lediglich zum Leistungsvermögen der Klägerin im zuletzt ausgeübten Beruf geäußert. Zuverlässige Rückschlüsse auf das Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt lassen die im Zivilprozess erstatteten Gutachten demgegenüber nicht zu. Letztlich liegen auch auf internistischem, lungenfachärztlichem oder orthopädischem Fachgebiet keine Erkrankungen von Relevanz für das berufliche Restleistungsvermögen im rentenversicherungsrechtlichen Sinn vor. Insoweit schließt sich der Senat der Beurteilung von Dr. L. und insbesondere derjenigen von MDR L. in dessen die im Zivilprozess erstatteten Gutachten sozialmedizinisch auswertender Stellungnahme vom 19. Oktober 2001, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden kann, an.

Die Klägerin hat zuletzt keine Tätigkeit verrichtet, die eine Ausbildungs- oder Anlernzeit von mehr als zwölf Monaten erfordert hätten. Dementsprechend ist sie nach dem vom BSG zur Bestimmung des qualitativen Werts des "bisherigen Berufs" entwickelten Mehrstufenschema (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 55; Niesel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 240 SGB VI Rdnr. 24 ff. m.w.N.) allenfalls der Gruppe der sog. "unteren Angelernten" zuzuordnen. Ausgehend hiervon ist sie auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verweisen, wofür - wie oben dargelegt - noch ein positives Leistungsbild besteht. Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf es nicht. Eine Benennungspflicht ergibt sich auch nicht aus dem Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsminderung (vgl. hierzu etwa BSG SozR 1246 Nr. 117; auch Großer Senat BSGE 80, 24, 33 ff.). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben. Bei den dargelegten, von der Klägerin einzuhaltenden Funktionseinschränkungen handelt es sich vielmehr um eine Summierung gewöhnlicher Einschränkungen, die den Rückschluss, dass entsprechende Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vorhanden sind, nicht zulässt (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 110). Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass die Klägerin wegen der bestehenden Harninkontinenz - eine Stuhlinkontinenz erachtet der Senat nicht als nachgewiesen - auch außerhalb der Pausen Gelegenheit haben muss, eine Toilette aufzusuchen. Arbeitsplätze, die diesem Anforderungsprofil entsprechen, stellen eher den Regel- als den Ausnahmefall dar. Deshalb hat der Senat keine Zweifel, dass solche auf dem Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl vorhanden sind. Außerdem kann diesem Krankheitsbild durch das Tragen entsprechender Einlagen wirksam begegnet werden. Dies hat Prof. Dr. Dr. H. in seinem gegenüber dem Landgericht K. erstatteten Gutachten vom 10. Januar 2000, das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, überzeugend nachgewiesen. Er hat bezüglich der Inkontinenz einen lediglich geringgradigen Leidensdruck beschrieben und Einschränkungen im Alltag ausdrücklich verneint.

Da die Klägerin somit nicht berufsunfähig ist, erfüllt sie erst recht nicht die noch strengeren Anforderungen für das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit. Auch ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung nach dem seit 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.) besteht nicht. Die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 43, 240 SGB VI n.F., die bei einem Rentenbeginn nach dem 31. Dezember 2000 maßgeblich wären, liegen angesichts des oben festgestellten Leistungsvermögens der Klägerin ebenfalls nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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