L 6 SB 4702/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 1285/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 4702/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. September 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Höherbewertung des Grads der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF".

Die Klägerin ist 1936 geboren. Zuletzt wurde mit Bescheid vom 20. April 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 1989 ein GdB von 80 festgestellt, dem als Erkrankungen ein depressives Syndrom, psychosomatische Beschwerden, bronchiales Reizsyndrom (Teil-GdB 50), degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Reizerscheinungen (Teil-GdB 20), beginnende Hüft- und Kniegelenksarthrose beidseits (Teil-GdB 20), Kreislaufstörungen mit Migräneneigung (Teil-GdB 20), venöse und arterielle Durchblutungsstörungen der Beine, Senkspreizfuß, Arthrose der Großzehengrundgelenke (Teil-GdB 10), Harninkontinenz (Teil-GdB 20), rezidivierende Epicondylitis im Bereich des rechten Ellenbogens bei Arthrose (Teil-GdB 10) und Hämorrhoiden (Teil-GdB 10) zugrunde lagen. Die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF" wurde abgelehnt.

Am 31. März 2003 beantragte die Klägerin die Erhöhung des GdB wegen Verschlimmerung der bereits festgestellten Behinderungen sowie die Feststellung der Merkzeichen "G" und "B". Sie führte zur Begründung u.a. aus, die Blasenschwäche sei mittlerweile so stark, dass sie keinerlei Kontrolle mehr darüber habe. Im übrigen leide sie an starken Drehschwindelanfällen und starken Depressionen.

Das Versorgungsamt Stuttgart (VA) holte den Befundbericht des Orthopäden Dr. S. vom 8. April 2003, den Befundschein vom 28. Juli 2003 bei der Fachärztin für Allgemeinmedizin K. sowie den Befundschein beim Arzt für Allgemeinmedizin Dr. Dr. W. vom 12. August 2003 ein, denen jeweils zahlreiche Arztbriefe beigefügt waren.

Nach Einholung einer versorgungsärztlichen (vä) Stellungnahme lehnte das VA mit Bescheid vom 17. September 2003 den Neufeststellungsantrag sowie die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" ab.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und brachte vor, sie könne wegen der chronischen Bronchitis mit Hustenanfällen bis zur Erschöpfung nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Sie beantrage die Merkzeichen "RF" und "G". Darüber hinaus verwies sie auf die Probleme mit der Blasenschwäche sowie dem Drehschwindel. Beides hätte schon zu Zusammenbrüchen geführt.

Das VA holte den Befundschein des Internisten und Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. M. vom 19. Oktober 2003 ein (lungenfunktionsanalytisch habe sich bei der Untersuchung am 16. Juni 2003 ein geringfügig erhöhter Atemwegswiderstand in Ruhe ohne Zunahme nach bronchialer Provokation, bei der letzten Untersuchung am 17. September 2003 eine normale Lungenfunktion gezeigt ohne bronchiale Hyperreagibilität bei Auftreten eines starken Reizhustens bei der Provokationstestung). Der Neurologe Dr. G. berichtete unter dem 31. Oktober 2003 über Beschwerden im Rahmen eines degenerativen Lendenwirbelsäulen(LWS)-Syndroms mit radikulären Reizerscheinungen sowie Kollapszustände, für deren Ursache sich keine Anhaltspunkte gefunden hätten. Dr. S. führte im Befundschein vom 21. November 2003 aus, die Klägerin habe sich am 28. Mai 2003 wegen einer Blasenschwäche vorgestellt. Es bestehe Harninkontinenz im Sinne einer Stressinkontinenz II.-III. Grades (Benutzung von 3 bis 5 Einlagen pro Tag). Bei der Untersuchung habe sich eine geringgradige Senkung des Blasenbodens bei altersentsprechender Harnröhrenweite gefunden. Bei der Aufforderung zum Pressen oder Husten im Liegen bei voller Blase sei es zur Urinentleerung im Sinne einer Stressinkontinenz gekommen. Er habe eine Suspensionsplastik PVT-Band als Therapie vorgeschlagen. Seitdem habe er die Klägerin nicht mehr gesehen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und lehnte die Feststellung des Nachteilsausgleichs "RF" ab.

Dagegen erhob die Klägerin am 25. Februar 2004 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG). Das SG befragte die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen. Dr. M. berichtete unter dem 19. August 2004 über ein bei der Klägerin bestehendes nicht allergisches Asthma bronchiale bei leichter obstruktiver Ventilationsstörung mit wechselnder bronchialer Hyperreagibilität und schlug für die Atemwegserkrankung einen Teil-GdB von maximal 20 vor. Es seien ihm keine Behinderungen bekannt, die sich wesentlich auf die Gehfähigkeit auswirken würden. Die Klägerin könne 2 km innerhalb einer halben Stunde zurücklegen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" wurden verneint. Dr. G. führte unter dem 25. August 2004 aus, die von der Klägerin geklagten Beschwerden seien im wesentlichen als Folgeerscheinungen eines degenerativen LWS-Syndroms als auch eines Cervikalsyndroms zu bewerten und als leichtgradig einzustufen. Über eine eingeschränkte Gehstrecke habe die Klägerin nicht berichtet. Auch er verneinte die Zugehörigkeit der Klägerin zu dem für das Merkzeichen "RF" berechtigenden Personenkreis. Die Ärztin für Psychiatrie B. schilderte unter dem 7. September 2004, bei der Klägerin liege eine bipolare Psychose vor mit vorwiegend depressiven Phasen. Sie behandle die Klägerin seit Juni 2003, seit Dezember 2003 seien eher sporadische Verlaufsuntersuchungen erfolgt, bei der sie eine durchgehende depressive Symptomatik mit Antriebsstörung, äußerer Verwahrlosung, Affektverflachung, Anhedonie, Schlafstörungen und einer Denkhemmung diagnostiziert habe. Eine fehlende Kontinuität bzw. Krankheitseinsicht erschwere die kontinuierliche Behandlung. Es liege eine schwere psychische Erkrankung vor, für die sie einen GdB von 70 vorschlage. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" wurden verneint. Die Ärztin führte allerdings ergänzend aus, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung in ihrer sozialen Integrationsfähigkeit eingeschränkt sei und deshalb kaum in der Lage sei, das Haus zu verlassen und öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen. Die Klägerin sei aber in der Lage, eine Wegstrecke von 2 km in einer halben Stunde zurückzulegen. Die Frauenärztin Dr. W. berichtete unter dem 20. August 2004 über Unterbauchbeschwerden aufgrund von Adhäsionen. Dr. S. (Orthopäde) führte in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 21. September 2004 aus, die Klägerin leide unter einer muskulären Dysfunktion der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule mit Verdacht auf Fibromyalgie sowie Coxarthrose und Gonarthrose beidseits. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit wurde verneint und der vä Beurteilung des GdB der Erkrankungen zugestimmt. Der Gastroenterologe Dr. A. teilte unter dem 1. Oktober 2004 mit, man habe die Klägerin nicht behandelt, sondern nur im Auftrag des Hausarztes Dr. Dr. W. ergänzende Untersuchungen durchgeführt.

Im Auftrag des SG erstellte unter dem 24. Juni 2005 der Facharzt für Psychiatrie Dr. G. ein psychiatrisches Gutachten. Dieser führte aus, bei der Klägerin liege eine anhaltende depressive Störung im Sinne einer Dysthymia vor sowie eine Somatisierungsstörung mit Schmerzen auch unter Berücksichtigung eines chronisch rezidivierenden, im Wesentlichen therapieresistenten Wirbelsäulensyndroms mit Kopf-, Nacken- und Rückenbeschwerden. Hinweise auf eine bipolare Störung, wie von der Ärztin B. berichtet, habe man nicht gefunden. Typische maniforme Phasen wie z.B. Größenideen oder deutliche Antriebssteigerung seien nicht geschildert worden bzw. seien nicht erinnerlich gewesen. Die zum Großteil reaktive Störung trete im engen Zusammenhang mit situativen Belastungen auf. Die Behinderungen seien mittelgradig ausgeprägt und rechtfertigten einen GdB von 50. Eine Einschränkung der Gehfähigkeit bestehe nicht. Zwar habe die Klägerin angegeben, keinen Kilometer laufen zu können. Andererseits sei sie aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Untersuchung angereist.

Mit Gerichtsbescheid vom 28. September 2005 wies das SG die Klage ab, da eine wesentliche Änderung, verglichen mit den Feststellungen im Bescheid vom 20. April 1989, nicht eingetreten sei. Zur Begründung stützte sich das SG im psychiatrischen Fachgebiet im wesentlichen auf das Gutachten von Dr. G. sowie die im übrigen aktenkundigen Arztbriefe und Auskünfte der behandelnden Ärzte. Die bestehenden Erkrankungen seien mit einem Teil-GdB von 50 angemessen bewertet. Soweit die Ärztin B. einen höheren Teil-GdB vorgeschlagen habe, habe Dr. G. die diesem Vorschlag zugrunde liegende Diagnose nicht bestätigen können, so dass dem Vorschlag nicht gefolgt werden könne. Die Klägerin leide des weiteren unter einem hyperreagiblen Bronchialsystem, das einen Teil-GdB von 20 rechtfertige. Die Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule seien leichtgradig, auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich aufgetretenen Bandscheibenvorfälle, so dass ein Teil-GdB von 20 gerechtfertigt sei. Zwar sei nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 2004" (AP) ein GdB von 20 für mittelgradige funktionelle Auswirkungen in nur einem Wirbelsäulenabschnitt angezeigt. Allerdings bedinge der Umstand, dass bei der Klägerin zwei Wirbelsäulenabschnitte betroffen seien, keine abweichende Beurteilung, da die Auswirkungen nach Angabe des behandelnden Orthopäden Dr. G. nur geringgradig seien. Auch bei der Arthrose hätten sich keine Anzeichen einer wesentlichen Änderung ergeben. Gleiches gelte für die geklagten funktionellen Kreislaufstörungen und die Migräne. Auch wenn die Klägerin im Jahr 2003 zusätzlich noch über einen Drehschwindel geklagt habe, sei für all diese Behinderungen zusammenfassend ein Teil-GdB von 20 nach wie vor angemessen. Bezüglich der chronisch venösen Insuffizienz bzw. der arteriellen Verschlusskrankheit gehe das Gericht von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse aus, da im Gegensatz zu den Verhältnissen 1989 eine entsprechende Erkrankung im Jahr 2003 nicht mehr bescheinigt worden und daher von einer Besserung der Krankheit auszugehen sei. Weiterhin liege eine Harninkontinenz vor. Insoweit liege ebenfalls eine wesentliche Änderung vor, da sich der Zustand verglichen mit 1989 verschlechtert habe und nunmehr eine Harninkontinenz 2. bis 3. Grades vorliege. Der Teil-GdB für diese Erkrankung sei daher anstelle von 10 mit 30 zu bewerten. Bei den übrigen Erkrankungen (Epicondylitis und Hämorrhoiden) liege keine wesentliche Änderung vor. Auch unter Berücksichtigung der aufgeführten Änderungen sei jedoch in einer Gesamtbetrachtung der GdB von 80 angemessen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Erkrankungen auf psychischem Fachgebiet die anderen Erkrankungen teilweise erheblich überlagerten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "RF" und "G" lägen nach Auskunft aller behandelnden Ärzte nicht vor. Insbesondere hindere die Harninkontinenz die Klägerin nicht an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, da ihr zuzumuten sei, Einlagen zu tragen und diese zu wechseln. Die Klägerin sei auch noch in der Lage, regelmäßig ihre Ärzte aufzusuchen, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt eine Einschränkung nicht nachvollziehbar sei.

Gegen den ihr am 11. Oktober 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 7. November 2005 Berufung eingelegt und weiterhin die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF" begehrt. Sie führt ergänzend aus, sie sei nur nach entsprechender Medikamenteneinnahme in der Lage gewesen, zur Untersuchung bei Dr. G. zu fahren und leide neben den Beschwerden im Hinblick auf die Harninkontinenz und den Drehschwindel auch seit 15 Jahren schon an chronischer Erschöpfung.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid vom 28. September 2005 sowie den Bescheid vom 17. September 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Februar 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen "G" und "RF" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er im wesentlichen auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung ist unbegründet. Bei der Klägerin ist kein höherer GdB als 80 festzustellen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" und "RF" wurden zutreffend verneint.

In verfahrensrechtlicher Sicht bildet § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) den rechtlichen Maßstab. Danach ist ein Verwaltungsakt, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt, soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden (§ 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 SGB X).

Maßgebliche Rechtsgrundlagen in materiell-rechtlicher Hinsicht sind seit 01.07.2001 die Vorschriften des 9. Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX), die an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (Artikel 63, 68 des SGB IX vom 19.06.2001, BGBl. I S. 1046).

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag stellen die Behörden einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den Grad der Behinderung sowie über weitere gesundheitliche Merkmale aus.

Diese Vorschriften sind weitgehend inhaltsgleich mit den bis zum 30.06.2001 geltenden Vorschriften der §§ 3 und 4 SchwbG, weshalb die bisherigen Grundsätze zur GdB-Bewertung weiter angewandt werden können. Inwieweit in Einzelfällen Gesundheitsstörungen über die damit verbundenen Funktionseinschränkungen hinaus Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft haben und auch diese Auswirkungen insoweit bei der GdB-Einschätzung zu berücksichtigten sind (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2001 - B 9 SB 1/01 R), kann dahinstehen, denn solche Umstände sind vorliegend nicht ersichtlich. Die Feststellung des GdB ist eine rechtliche Wertung von Tatsachen, die mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen sind. Dabei orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, wie sie in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2004 (AP) niedergelegt sind (vgl. BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 4; SozR 3 - 3870 § 4 SchwbG Nr. 19 und Urteil vom 07.11.2001 aaO). Die AP besitzen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, und haben deshalb normähnliche Auswirkungen. Auch sind sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (vgl. BSGE 72, 285, 286; BSG SozR 3 - 3870 aaO; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R).

Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist nach den Grundsätzen zu verfahren, wie sie in den AP (Abschnitt 19) ihren Niederschlag gefunden haben. Danach sind bei der Festsetzung des Gesamt-GdB die Auswirkungen aller Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander maßgebend (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme der Gesamtbeeinträchtigung, auch wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Gesundheitsstörungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB verursacht. Dann ist im Hinblick auf weitere Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung insgesamt größer wird und deshalb dem höchsten Einzel-GdB ein Behinderungsgrad von 10 oder 20 oder mehr hinzuzufügen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Mathematische Methoden, insbesondere eine Addition der einzelnen GdB-Werte, sind hierbei ausgeschlossen (BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 4). Unter Berücksichtigung der in den Anhaltspunkten niedergelegten Grundsätze ist im Fall der Klägerin der GdB von 80 zutreffend festgestellt worden. Das SG hat in der angefochtenen Entscheidung auf Seiten 7 bis 13 oben der Entscheidungsgründe zutreffend und umfassend dargelegt, weshalb bei der Klägerin kein höherer GdB als 80 festzustellen ist. Das Gericht nimmt darauf auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin im Berufungsverfahren in vollem Umfang Bezug und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

Aber auch die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF" ist zutreffend abgelehnt worden.

Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, werden von Unternehmern, die öffentlichen Personennahverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich befördert (§ 145 Abs. 1 Satz 1, 1. SGB IX). In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Bei der Prüfung der Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein, d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen, noch zu Fuß zurück gelegt werden. Nach der Rechtsprechung gilt als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. AP 2004 Nr. 30).

Nach § 1 der Verordnung der Landesregierung von Baden-Württemberg über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 21. Juli 1992 (Ges.Bl. S. 573 ff) in Verbindung mit den Fernmeldegebührenvorschriften werden wegen einer Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht befreit bzw. erhalten Gebührenermäßigung beim Fernsprechhauptanschluss (Merkzeichen "RF") u.a Sonderfürsorgeberechtigte im Sinne des § 27 e des Bundesversorgungsgesetzes, Blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Personen, bei denen der GdB wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung beträgt, Hörgeschädigte, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist oder Behinderte, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Bei der Klägerin liegt keine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vor. Keiner der die Klägerin behandelnden Ärzte hat eine Diagnose oder einen Befund mitgeteilt, der eine entsprechende Annahme rechtfertigen könnte. Weder auf orthopädischem noch internistischem Fachgebiet bestehen - im übrigen auch nach Auffassung der behandelnden Ärzte selbst - solche Einschränkungen, die der Klägerin eine Wegstrecke im Umfang von 2 km innerhalb einer halben Stunde nicht ermöglichen würden. Auf orthopädischem Fachgebiet liegen im Bereich der unteren Extremitäten keine wesentlichen funktionellen Beeinträchtigungen vor. Die Behinderungen im Bereich der Wirbelsäule sind nur leichtgradig ausgeprägt. Auf internistischem Fachgebiet besteht mit Ausnahme des Asthma bronchiale mit Reizhusten keine relevante Erkrankung. Die Bewegungsfähigkeit ist durch das Asthma bronchiale allerdings nicht relevant einschränkt, jedenfalls nicht dergestalt, dass der Klägerin nicht mehr möglich wäre, eine Wegstrecke im entsprechenden Umfang in angemessener Zeit ohne Gefahr für sich oder andere zurückzulegen. Soweit die Klägerin vorbringt, wegen der Harninkontinenz nicht mehr in der Lage zu sein, eine Wegstrecke von 2 km zurückzulegen, da für diese Zeit die von ihr verwendete Einlage nicht ausreichen würde, ist dieser Vortrag vom behandelnden Arzt nicht bestätigt worden.

Soweit die Klägerin auch das Merkzeichen "RF" begehrt, hat das SG auch insoweit zu Recht die Klage abgewiesen, da bei der Klägerin keinerlei Erkrankungen vorliegen, die es nicht zulassen würden, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Klägerin zählt schon nicht zu den in den AP S. 141 Nr. 33 aufgeführten Behinderten. Darüber hinaus ist weder aufgrund der psychischen Erkrankung der Klägerin noch der Harninkontinenz die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" gerechtfertigt. Soweit die behandelnde Ärztin B. in ihrer sachverständigen Zeugenaussage gegenüber dem SG ausführte, die Klägerin sei wegen ihrer psychischen Erkrankung kaum in der Lage, das Haus zu verlassen und öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen, hat Dr. G. - den Senat überzeugend - eine solche Schlussfolgerung nicht gezogen. Aber auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin regelmäßig das Haus verlässt, um ihren Haushalt zu versorgen oder Ärzte aufzusuchen, erscheint es nicht nachvollziehbar, aufgrund der psychischen Erkrankung ein dergestalt eingeschränktes Sozialverhalten anzunehmen, dass schon deshalb eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist.

Soweit die Klägerin vorbringt, insbesondere wegen der Harninkontinenz nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können, verkennt der Senat weder, dass die Klägerin unter einer Stressinkontinenz 2. bis 3. Grades leidet, noch, dass es möglicherweise unangenehm sein kann, bei öffentlichen Veranstaltungen Toiletten suchen zu müssen, um rechtzeitig die Einlagen zu wechseln.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind allerdings Behinderte, die an einer Harninkontinenz mit unwillkürlichem Harnabgang leiden, nicht allein aus diesem Grunde gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn ihnen ist zuzumuten, Windelhosen zu benutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen. Dies verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art 1 Grundgesetz [GG]) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Art 20 Abs. 1 GG). Der Behinderte wird dadurch auch nicht zum Objekt des Staates gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl. BSG Urt. vom 11. September 1991 - 9a RVs 1/90 - und vom 9. August 1995 - 9 RVs 3/95 - beide unveröffentlicht - sowie BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 17). An öffentlichen Veranstaltungen kann somit auch der Behinderte teilnehmen, der Hindernisse zumutbar abstellen kann, gleichgültig, ob sie behinderungsbedingt oder nicht behinderungsbedingt sind. Dies folgt aus den Grundsätzen über die Mitwirkungspflicht im Sozialleistungsrecht i.V.m. den wesentlichen Zielen des SGB IX. Nach der Zielsetzung des SGB IX steht die aktive Teilnahme des behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben im Vordergrund. Die Behinderten sollen möglichst weitgehend in die Gesellschaft eingegliedert werden. Von den Nichtbehinderten wird um dieses vorrangigen Zieles willen ein hohes Maß an Toleranz gefordert (vgl. BSG SozR 3-3870 § 48 Nr. 2). Dem entspricht es, wenn den Behinderten im Interesse ihrer Eingliederung ebenfalls eine aktive Mitwirkung abverlangt wird, soweit diese unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zumutbar erscheint. So kann es beispielsweise auch erforderlich sein, dass der Behinderte seine Lebensgewohnheiten ändert. Das wird man etwa erwarten können, wenn die Umstellung nur vorübergehend erforderlich ist und/oder nicht mit Beeinträchtigungen der Gesundheit oder sonstigen erheblichen Nachteilen verbunden ist. Dazu gehört beispielsweise auch die Regulierung der Trinkmenge, bevor der Behinderte das Haus verlässt, um eine öffentliche Veranstaltung zu besuchen. Liegt es so, besteht kein anzuerkennendes Bedürfnis für die Ersetzung der vorrangigen persönlichen und unmittelbaren Teilnahme am Gemeinschaftsleben durch die finanziell erleichterte Benutzung von Rundfunk und Fernsehen (vgl. BSGE 53, 175; BSG SozR 3-3870 § 48 Nr. 2). Die Zumutbarkeit einer dementsprechenden Mitwirkung des Behinderten ergibt sich hier allerdings nicht aus der unmittelbaren Anwendung der Vorschriften über die Mitwirkungspflicht derjenigen, die Sozialleistungen (§ 11 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil [SGB I]) beantragt haben (§§ 60 ff SGB I). Denn die Klägerin begehrt gerade keine Sozialleistungen im Sinne des § 11 SGB I, sondern eine feststellende Tätigkeit der Versorgungsbehörden, hier die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF". Für die daraufhin zu gewährende Leistung - die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht - sind andere Institutionen zuständig (vgl. BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 3). Außerdem zielt die Mitwirkungspflicht in den Vorschriften der §§ 60 ff SGB I auf die Aufklärung des Sachverhalts, z.B. durch Angabe der für die begehrte Leistung erheblichen Tatsachen oder durch die Bezeichnung von Beweismitteln. Darum geht es hier jedoch nicht. Allerdings findet sich in §§ 63 , 64 SGB I bereits der Grundgedanke der Verpflichtung zur Mitwirkung zwecks Abwendung des Bezugs von Sozialleistungen durch Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen. Solche und andere gesetzliche Vorschriften enthalten zugleich die Ausgestaltung eines allgemeinen Mitwirkungsgrundsatzes, der jedenfalls für das Sozialrechtsverhältnis, d.h. dem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis zwischen einem Sozialleistungsträger und einem Antragsteller oder Versicherten, anerkannt ist. Die Mitwirkungspflichten bestehen darin, dass Versicherungsträger und Antragsteller oder Versicherte alles in ihren Kräften Stehende und Zumutbare zu tun haben, um sich gegenseitig vor vermeidbaren, das Sozialrechtsverhältnis betreffenden Nachteilen oder Schäden zu bewahren (vgl. BSGE 34, 124; Seewald in Kasseler Komm vor §§ 38 bis 47 SGB I RdNr 1 ff, 9, 19, 64 f). Diese Grundsätze verbieten es auch im Schwerbehindertenrecht, bei einem Behinderten das Vorliegen der Voraussetzungen eines Nachteilsausgleichs zu bejahen, wenn er die dafür erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen durch zumutbare Gestaltung seiner Lebensverhältnisse vermeiden kann.

Dass der Klägerin in Anbetracht dieser Maßstäbe der Besuch öffentlicher Veranstaltungen ständig nicht möglich ist, kann den aktenkundigen Befunden wie auch den Aussagen ihrer behandelnden Ärzte nicht entnommen werden. Vielmehr ist es der Klägerin jedenfalls zumutbar, vor dem Verlassen des Hauses, wenn sie an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen will, die Trinkmenge so zu regulieren, dass ihr die Teilnahme an der Veranstaltung für die Dauer von bis zu zwei Stunden ermöglicht wird, ohne die getragenen Windelhosen zu wechseln.

Da nach alldem die angefochtenen Entscheidungen rechtsfehlerfrei ergangen sind, war die Berufung zurückzuweisen.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
Saved