S 20 SO 26/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 26/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9b SO 8/06 R
Datum
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 02.09.2005 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 01.02.2006 verurteilt, den Klägern unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05. 2005 für die Zeit vom 01.01. bis 30.06.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von jeweils 970,89 EUR, zusammen 1941,78 EUR zu zahlen. Die außergerichtlichen Kosten der Kläger trägt der Beklagte. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Ansprüche der Kläger auf weitere Leistungen der Grundsicherung (GSi) bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.01. bis 30.06.2005 in Höhe jeweils 970,89 EUR, zusammen 1941,78 EUR.

Die am 00.00.1985 geborenen Kläger (Zwillinge) sind das 4. und 5. von 8 Kindern der Eheleute L. Die Kläger sind schwerbehindert und dauerhaft erwerbsgemindert. Sie wohnen bei ihren Eltern. Die Kläger erhalten seit 01.02.2004 Leistungen der GSi bei Erwerbsminderung, bis 31.12.2004 nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG), seit dem 01.01.2005 nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Auf diese Leistungen rechnete der Beklagte bis 30.06.2005 das Kindergeld, das die Eltern für die Kläger erhielten, als Einkommen an, und zwar im Jahr 2005 pro Kläger für die Monate Januar, Februar und März in Höhe von jeweils 154,00 EUR, für die Monate April, Mai und Juni in Höhe von jeweils 169,00 EUR. Die entsprechenden Bescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005 wurden bestandskräftig.

Seit dem 01.07.2005 wird das Kindergeld auf die den Klägern gewährten GSi-Leistungen nicht mehr bedarfsmindernd angerechnet.

Am 04.07.2005 beantragten die Kläger die Rücknahme der GSi-Leistungskürzungen in Höhe des Kindergeldes und Nachzahlung ab 01.01.2005.

Der Beklagte lehnte die Anträge durch Bescheide vom 02.09.2005 ab. Er verwies auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 13.11.2003 (5 C 26/02), wonach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf das Leistungsrecht des Bundessozial- hilfegesetzes (BSHG) nicht anwendbar sei.

Die hiergegen am 21.09.2005 eingelegten Widersprüche der Kläger wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheide vom 01.02.2006 zurück mit der Begründung, einschlägig sei § 48 Abs. 2 SGB X, der jedoch lediglich eine Änderung mit Wirkung für die Zukunft vorsehe; soweit nach dieser Vorschrift § 44 SGB X unberührt bleibe, finde diese Norm nach der Rechtssprechung des BVerwG keine Anwendung.

Dagegen haben die Kläger am 24.02.2006 Klage erhoben. Sie sind der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Rücknahme der bestandskräftigen GSi-Leistungsbescheide nach § 44 SGB X seien erfüllt; es sei unstreitig, dass der Beklagte das Recht unrichtig angewandt und die Kläger Sozialleistungen zu Unrecht nicht erhalten hätten, soweit der Beklagte das Kindergeld bedarfsmindernd angerechnet habe. Aus dem Gesetz ergebe sich nicht, dass § 44 SGB X auf die Leistungen nach dem SGB XII nicht anwendbar sei. Eine analoge Anwendung der BVerwG-Rechtssprechung zum BSHG auf das SGB XII und die GSi-Leistungen komme nicht in Betracht.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 02.09.2005 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 01.02.2006 zu verurteilen, ihnen unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005 für die Zeit vom 01.01. bis 30.06.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von jeweils 970,89 EUR, zusammen 1941,78 EUR nachzuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Er ist der Auffassung, bei der GSi-Leistung handele es sich nicht um eine rentengleiche Dauerleistung, sondern – wie bei der Hilfe zum Lebensunterhalt – um eine fürsorgeähnliche, steuerfinanzierte, bedürftigkeitsorientierte Leistung. Insofern sei auch hier das BVerwG-Urteil vom 13.11.2003 anwendbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klagen sind zulässig und begründet.

Die Kläger werden durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie haben Anspruch auf Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005, soweit hierdurch das ihren Eltern gezahlte Kindergeld als eigenes Einkommen der Kläger berücksichtigt worden ist, und Nachzahlung der dadurch zu wenig erbrachten GSi-Leistungen. Dies folgt aus § 44 SGB X.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nach dem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Bei Erlass der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005 hat der Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Er hat das den Eltern der Kläger gewährte Kindergeld als Einkommen der Kläger berücksichtigt, obwohl dies nach §§ 41 Abs. 2, 82 bis 84 SGB XII nicht zulässig war. Denn Kindergeld ist sozialhilferechtlich Einkommen dessen, an den es ausgezahlt wird (BVerwG, Urteil vom 28.04.2005 – 5 C 28/04; OVG NRW, Beschluss vom 02.04.2004 – 12 B 1577/03; Sächsisches OVG, Urteil vom 25.01.2005 – 4 B 580/04). Da das Kindergeld nicht den Klägern, sondern den Eltern ausgezahlt wurde, stellte es kein berücksichtigungsfähiges Einkommen der Kläger dar und war es nicht geeignet, den Bedarf der grundsicherungsberechtigten Kläger zu mindern. Durch die Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen der Kläger hat der Beklagte in entsprechender Höhe GSi-Leistungen nicht erbracht, für 6 Monate 970,89 EUR je Kläger, zusammen 1941,78 EUR. Diese Leistungen sind Sozialleistungen im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (vgl. § 28 Abs. 1 Nr. 1a SGB I).

Dies begründet den Anspruch der Kläger auf teilweise Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 28.12.2004, 22.03.20905 und 11.05.2005 trotz ihrer Bestandskraft auch mit Wirkung für die Vergangenheit und Nachzahlung der Sozialleistungen gem. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen nach der Rücknahme des Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Anwendung dieser Vorschrift steht nicht die Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) entgegen. Das BVerwG hat aus dem Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" abgeleitet, dass § 44 SGB X – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf das Leistungsrecht nach dem BSHG nicht anwendbar ist. § 44 Abs. 1 und 4 SGB X gelte – so das BVerwG – für zu Unrecht nicht erbrachte Sozialhilfeleistungen deshalb nicht, weil sich aus dem BSHG ergebe, dass Sozialhilfe Nothilfe sei und ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Habe ein Bedarf, für den das BSHG Hilfeleistungen bestimme, in der Vergangenheit bestanden, bestehe er aber jetzt nicht (mehr) (fort), fehle es an einer für den Sozialhilfeanspruch wesentlichen Anspruchsvoraussetzung; es bestehe kein Anspruch auf Hilfe für die Vergangenheit (BVerwG, Urteil vom 13.11.2003 – 5 C 26/02 = FEVS 55, 320 = ZFSH/SGB 2004, 371 = DÖV 2004, 793 = info also 2004, 261). Diese vom Bundesverwaltungsgericht herausgestellte Eigenart der Sozialhilfe, dass nämlich der Sozialhilfefall "gleichsam täglich neu regelungsbedürftig" ist (vgl. BVerwG a.a.O.), ist dem Recht der Grundsicherung nicht immanent. Dies haben das Verwaltungsgericht Aachen (Urteile vom 19.07.2005 – 2 K 469/04 und 2 K 2904/04), das VG Augsburg (Urteil vom 21.12.2004 – Au 3 K 04.617) und der VGH München (Beschluss vom 13.04.2005 – 12 ZB 05.262 = FEVS 56, 574) überzeugend begründet. Die Grundsicherung sei zwar bedarfsorientiert, nicht aber am sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet. Anders als der Regelfall in der Sozialhilfe könne deshalb bei der Grundsicherung zur Zeit der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X durchaus ein Anspruch auf Grundsicherungsleistung noch bestehen, weil die Grundsicherung eben nicht am sozialhilferechtlichen Bedarf ausgerichtet sei (VGH München a.a.O.). Weiter heißt es in dem Beschluss:

"Für die Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Recht der Grundsicherung spricht auch dessen Konzeption als eine auf Dauer angelegte Sozialleistung. Abweichend von der üblicherweise monatsweisen Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt werden Leistungen der Grundsicherung für zwölf Kalendermonate bewilligt (§ 6 Abs. 1 GSiG; 3 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Der Bewilligungsbescheid über Grundsicherung ist deshalb ein Dauerverwaltungsakt (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Stand: 2005, RdNr. 1 zu § 44; Rothkegel, Strukturpinzipien des SGB XII/BSHG). Anders als die "gleichsam täglich neu regelungsbedürftige" und deshalb üblicherweise monatsweise bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt, sind die auf einen jährlichen Bewilligungszeitraum gerichteten Leistungen der Grundsicherung bei Änderung in den Voraussetzungen von Amts wegen neu festzusetzen. Nach Änderung der Verhältnisse muss der alte Bescheid gerade wegen seiner Dauerwirkung aufgehoben und ein neuer erlassen werden. Stellt sich nachträglich heraus, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder – wie hier – nicht in der zustehenden Höhe zuerkannt worden ist, muss der rechtswidrige Bescheid gemäß § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden können /vgl. Kunkel – Das Grundsicherungsgesetz, ZFSH/SGB 2003, 330; auch Wahrendorf in Grube/Wahrendorf a.a.O., RdNr.1 rückwirkend zu erbringen (vgl. Kunkel, a.a.O.).

Schließlich sehen aber auch die Vorschriften des Grundsicherungsrechts selbst Leistungen für die Vergangenheit vor. Für die Erstbewilligung regelte § 6 Satz 2 GSiG eine Ausnahme für den Beginn der Bewilligung. Hier war die Leistung bei einer Änderung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren, also auch dann, wenn der Antrag erst am Ende des Monats gestellt worden war. Auch nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII beginnt bei der Erstbewilligung oder bei einer Änderung der Leistung der Bewilligungszeitraums am Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten oder mitgeteilt worden sind. Auch danach ist die Leistung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren." Dem schließt sich die Kammer im vollem Umfang an. Ein vergleichender Blick auf die bis 31.12.2004 geltende Arbeitslosenhilfe zeigt, dass auch diese Leistung bedürftigkeits- abhängig und steuerfinanziert, gleichwohl die Anwendbarkeit von § 44 SGB X im Recht der Arbeitslosenhilfe unbestritten war.

Nach alledem sind die bestandskräftigen Bescheide des Beklagten vom 28.12.2004, 22.03.2005 und 11.05.2005 zurückzunehmen, soweit dadurch das Kindergeld als Einkommen der Kläger berücksichtigt worden ist. Die für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 zu wenig gezahlte GSi-Leistung in Höhe von 1971,78 EUR (970,89 EUR je Kläger) ist den Klägern nachzuzahlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 161 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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