L 2 U 53/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 215/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 53/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2004 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen unter Anerkennung einer Wirbelsäulenerkrankung nach Nrn. 2108 und 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Der 1956 geborene Kläger war nach einer Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechaniker und einer Tätigkeit als Revisor von Mai 1979 bis Juni 1982 als Sanitätskraftfahrer und von September 1986 bis August 1994 als Telebusfahrer bei verschiedenen Firmen beschäftigt, anschließend von Februar 1997 bis September 1998 als Linienbusfahrer. Seit dem 21. September 1998 war er wegen einer Dorsolumbalgie bei Bandscheibenvorfall L 4/L 5 arbeitsunfähig erkrankt. Seit dem 1. März 1999 bezieht er eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der Kläger beantragte im Januar 2001 die Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit und gab zu seinen Tätigkeiten als Telebusfahrer an, täglich cirka 10 bis 15 mal Menschen in Rollstühlen gehoben und getragen zu haben. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung seien cirka 60 Minuten am Tag verrichtet worden.

Der Betrieb "M ", bei der der Kläger vom 1. Juli 1988 an beschäftigt war, gab an, es könne nicht mehr festgestellt werden, wie oft der Kläger mit seinem Beifahrer behinderte Personen treppauf oder treppab habe ziehen müssen. Rollstuhlpersonen sollten nicht getragen, sondern gezogen werden. Beim Ziehen des Rollstuhls gehe man schräg nach hinten in Rückenlage. Der Kläger habe überwiegend einen Beifahrer gehabt, der die ziehende Tätigkeit verrichtet habe. Die Beklagte holte ein Vorerkrankungsverzeichnis der TKK ein und legte ihrem beratenden Arzt MRT-Aufnahmen vom 4. Januar 1999 vor. Der Chirurg Dr. B vertrat am 30. Juni 2001 die Auffassung, es liege eine monosegmentale Bandscheibenerkrankung der Bandscheibe L 4/L 5 aus körpereigener Ursache vor.

Nach Anhörung der Gewerbeärztin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. August 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2002 die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil keine Berufskrankheit nach Nrn. 2108 und 2110 vorliege. Es bestehe kein typisches Erkrankungsbild, weil das zwischen dem 5. Lendenwirbelkörper und dem 1. Sakralwirbel liegende Bandscheibengewebe keine Verschleißerscheinungen aufweise. Dies sei aber bei einer langjährigen schädigenden Exposition zu erwarten.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren verwiesen und geltend gemacht, die Rollstuhlfahrer hätten teilweise in den 5. Stock getragen werden müssen. Auch hätten die Fahrzeuge keine Schwebesitze gehabt bzw. die Sitze seien defekt gewesen. Nach Beiziehung der von der Landesversicherungsanstalt und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen eingeholten Gutachten und den im SchwerbehindertenVerfahren zur Akte gelangten medizinischen Unterlagen veranlasste das Sozialgericht eine Stellungnahme der Beklagten zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufkrankheit nach Nrn. 2108 und 2110 der Anlage zur BKV. Die Beklagte berechnete für die Zeiten, in denen der Kläger als Telebusfahrer tätig war, unter Berücksichtigung von 11 bis 13 Tragevorgängen und einem Trageweg von 10 Metern pro Tag mit einer Person im Rollstuhl und einem Gesamtgewicht von 90 kg sowie einer bewerteten Schwingstärke von 7.3 bzw. 8.4 einen relativen Tagesbelastungsgrad von höchstens 0,97 während einer Gesamt-Belastungszeit von 11,2 Jahren. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien dadurch nicht erfüllt. Hiergegen hat der Kläger unter Beifügung der Gehaltsabrechnungen eingewandt, dass seine tägliche Arbeitszeit sehr viel länger gewesen sei.

Durch Gerichtsbescheid vom 19. Juli 2004 hat das Sozialgericht die auf die Gewährung von Entschädigungsleistungen gerichtete Klage abgewiesen. Schon die arbeitstechnischen Voraussetzungen beider Berufskrankheiten seien nicht erfüllt. Zwar sei davon auszugehen, dass der Kläger während seiner Tätigkeit als Sanitätskraftfahrer und Telebusfahrer auch Patienten aus Krankentragen und im Rollstuhl zu transportieren gehabt habe. Dass diese häufiger als nur vereinzelt oder über längere Strecken hätten getragen werden müssen, könne jedoch nicht als nachgewiesen angesehen werden. Das Vorbringen des Klägers, es sei erforderlich, das gesamte Gewicht des Rollstuhls auch abwärts mit Körperkraft abzufangen, bestätige die von seinem Arbeitgeber mitgeteilte Praxis. Das Ziehen oder Schieben eines Rollstuhls stelle kein schweres Heben oder Tragen dar. Die Voraussetzungen der Berufskrankheit nach Nr. 2110 der Anlage zur BKV seien ebenfalls nicht erfüllt, weil die Belastungen bei weitem nicht den Gefährdungswert von 16, 2 Kr erreichten. Da nur vereinzelte Hebe- und Tragebelastungen vorlägen und die Schwingungsbelastung nicht einmal zur Hälfte eine als gefährdend zu bewertende Intensität erreiche, führe auch eine integrierende Bewertung der Belastungen nicht dazu, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt seien. Abgesehen davon seien auch die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht erfüllt, weil erstmals im Herbst 1998 ein Bandscheibenschaden festgestellt worden sei, obwohl die belastende Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren nicht mehr ausgeübt worden sei.

Gegen den ihm am 27. Juli 2004 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 27. August 2004, mit der er auf seine langjährige belastende Tätigkeit verweist. Seine Arbeitgeberin müsse nochmals gehört werden.

Der Kläger beantragt seinem schriftsätzlichen Vorbringen zufolge,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. August 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Anerkennung seines Lendenwirbelsäulenleidens als Berufskrankheit nach Nrn. 2108 und 2110 der Anlage zur BKV Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des Sozialgerichts und der den Unfall betreffende Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz des Ausbleibens des Klägers im Termin entscheiden, da der Kläger in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war, § 110 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen, weil bei ihm die Voraussetzungen für die Anerkennung der geltend gemachten Berufskrankheit nach Nrn. 2108 und 2110 der Anlage zur BKV nicht erfüllt sind.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch SGB VII die Krank¬heiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bun¬des¬rates bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII be¬zeichneten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten Berufskrank¬hei¬ten gehören nach der Nr. 2108 der Anlage zur BKV "bandscheibenbedingte Erkran¬kun¬gen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätig¬keiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederauf¬le¬ben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Nr. 2110 der Anlage zur BKV betrifft bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Für das Vorliegen des Tatbestandes der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungs-begründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht (BSG, SozR 3-2200 § 551 Nr. 16 m. w. N.).

Bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der Berufskrankheit Nrn. 2108 und 2110 sind nicht erfüllt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angegriffenen Gerichtsbescheides und sieht insoweit nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Klägers zu seinen Tätigkeiten konnte der Senat nicht feststellen, dass ein ausreichendes Ausmaß von wirbelsäulenbelastenden Einwirkungen vorgelegen hat. Zur Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe "langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten" und "langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung" ist das Mainz-Dortmunder-Dosismodell ( MDD) innerhalb der gewerblichen Berufsgenossenschaften unter Einbeziehung von Wissenschaftlern entwickelt worden, das sich an dem vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zu der BK Nr. 2108 herausgegebenen Merkblatt unter Einbeziehung epidemiologischer Studien orientiert. Dieses Modell stellt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts(BSG) (Urteil vom 18. März 2003-B 2 U 13/02 R= Breithaupt 2003, 568 ff; bestätigt durch Urteil vom 19. August 2003 - B 2 U 1/ 02 R ) nach der vorliegenden medizinischen Literatur zumindest derzeit ein geeignetes Modell dar, um die kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten für eine Arbeitsschicht und für das Berufsleben zu ermitteln ( Urteil vom 18. März 2003).

Bei der Belastungsanalyse hinsichtlich der Gefährdung der Wirbelsäule durch Ganzkörperschwingungen im Sitzen sind nach dem überarbeiteten Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 1. Mai 2005 (BArbBl 7/2005, S. 43) wiederholte Einwirkungen von vorwiegend vertikalen Schwingungen mit einer Tagesdosis in Form der Beurteilungsbeschleunigung von im Regelfall 0,63 m/s² in der vertikalen z-Achse zu berücksichtigen.

Der TAD hat bei seinen Berechnungen sowohl das Heben und Tragen von Personen in Rollstühlen mit einem Lastgewicht von 90 kg als auch die Angabe des Klägers, dass dies 10 bis 15 Mal pro Tag stattgefunden habe, mit einer durchschnittlichen Belastung von 13 Tragevorgängen berücksichtigt. Auch hat er die Angaben des Klägers zu den von ihm gefahrenen Fahrzeugen in seine Berechnung einfließen lassen und eine Kumulation der Risiken, die durch die Berufskrankheiten nach Nr. 2108 und 2110 erfasst werden, berechnet. Dadurch werden jedoch die Anforderungen, die für die Anerkennung der beiden Berufskrankheiten gestellt werden, nicht erfüllt, sondern die ermittelte Tagesdosis von höchstens 0,97 erreicht nicht den erforderlichen relativen Tagesbelastungswert von 1. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich durch die neue Berechnung der Schwingungsbelastung mit der frequenzbewerteten Schwingbeschleunigung anstelle der "Bewerteten Schwingstärke K" Änderungen ergeben können, brauchte der Senat keine weiteren Ermittlungen durchzuführen. Denn bei den vom Kläger benutzten Fahrzeugen ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass anhand der Umrechnungstabelle 3 des neuen Merkblattes auf der Grundlage der neuen Frequenzbewertung sich eine Tagesbelastungsdosis von 1 ergibt. Bis zu 20 % höhere Werte ergeben sich nämlich nur für Kettenlader und Planierraupen, während selbst für Baustellen-LKW ein Umrechnungsfaktor von unter 1

anzusetzen ist.

Vor diesem Hintergrund brauchte der Senat die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nrn. 2108 und 2110, nicht zu überprüfen.

Die dem Ergebnis in der Hauptsache folgende Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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