L 18 B 172/06 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 95 AS 631/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 B 172/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Januar 2006 geändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 18. Januar 2006 bis 31. Mai 2006 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 80 vom Hundert der Regelleistung unter Anrechnung bereits für diese Zeit gezahlter Beträge zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat teilweise Erfolg.

Eine Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Antragsteller ist nur in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang nötig. Soweit der Antragsteller im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes weitergehende Leistungen begehrt, war sein Antrag abzulehnen. Zurückzuweisen war die Beschwerde der Antragsgegnerin, soweit sie die vollständige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses begehrt.

Rechtsgrundlage für das Begehren des Antragstellers ist zunächst § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Danach erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Umstritten ist zwischen den Beteiligten, ob der Antragsteller hilfebedürftig ist. Die Antragsgegnerin verneint seine Hilfebedürftigkeit mit der Begründung, zwischen ihm und Frau S S (im Folgenden: S.) bestehe eine eheähnliche Gemeinschaft und damit eine Bedarfsgemeinschaft. Eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b SGB II liegt vor, wenn sie als auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau über eine reine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht und sich - im Sinne einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft - durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen (vgl. zum früheren Sozialhilferecht: BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1995 – 5 C 16/93 = BVerwGE 98, 195 ff.). Ob eine solche Lebensgemeinschaft auf der Grundlage entsprechender innerer Bindungen auf Dauer angelegt ist, kann letztlich nur anhand von Indizien festgestellt werden. Grundsätzlich ist hierzu die Wohngemeinschaft der Partner erforderlich. Als weitere Hinweistatsachen dienen die (lange) Dauer des Zusammenlebens, bekannte intime Beziehungen, eine Versorgung von Kindern und Angehörigen im gemeinsamen Haushalt und die Befugnis, über Einkommens- und Vermögensgegenstände des anderen Partners zu verfügen. Diese Aufzählung ist aber weder abschließend, noch müssen diese Indizien kumulativ vorliegen, um die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft zu rechtfertigen. Entscheidend ist stets das Gesamtbild der für den streitgegenständliche Zeitraum festgestellten Indizien (BVerwG, a. a. O.; vgl. auch BSG, Urteil vom 29. April 1998 – B 7 AL 56/97 R = SozR 3- 4100 § 119 Nr. 15). Dabei ist es Sache der Behörde, das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b SGB II im Hauptsacheverfahren nachzuweisen und dementsprechend in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit glaubhaft zu machen. Die Beweislast der Behörde für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b SGB II zwingt allerdings nicht dazu, nur dann vom Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen, wenn dies von den Betroffenen zugestanden wird. Vielmehr beurteilt sich die Frage nach allen äußeren, objektiv erkennbaren Umständen. Entgegenstehenden Erklärungen der Partner kommt in der Regel keine durchgreifende Bedeutung zu. Insofern ist nämlich zu berücksichtigen, dass derartige Erklärungen von Beteiligten, die mittlerweile wissen dürften, worauf es ankommt, um die Voraussetzungen für eine eheähnliche Gemeinschaft auszuschließen, immer weniger glaubhaft werden (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Januar 1998 – 12 N 345/98 = FEVS 48, Seite 545 m. w. N.).

Ob nach den genannten Maßstäben zwischen dem Antragsteller und S. (noch) eine eheähnliche Gemeinschaft besteht, lässt sich nach den in diesem Verfahren festgestellten Umständen nicht abschließend beurteilen. Starkes Indiz für eine solche Gemeinschaft ist indes die lange Dauer des Zusammenlebens. Ausweislich des handschriftlichen Nachtrages im Wohnungsmietvertrag von 1988 lebt der seit 1982 geschiedene Antragsteller schon von 1991 oder 1992 an gemeinsam mit S. in der Wohnung B Straße. In dem von S. ausgefüllten Fragebogen zur Überprüfung des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft wird als Beginn des Zusammenlebens demgegenüber der 1. Januar 2002 genannt. Dieses Datum, Neujahr 2002, trägt auch der vom Antragsteller eingereichte Untermietvertrag, an dessen Wirksamkeit die Antragsgegnerin in der Beschwerdebegründung jedoch berechtigte Zweifel äußert. Abgesehen vom unplausiblen Abschlussdatum ist die Höhe der ab diesem Zeitpunkt angeblich vereinbarten Monatsuntermiete von 230 Euro nicht schlüssig. Denn der Antragsteller würde damit seit Jahren mehr als die Hälfte der Gesamtbruttomiete tragen, obwohl er nach seinen Angaben nur eines von drei Zimmern bewohnt.

Bei dieser Sachlage ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss der Dritten Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 = NVwZ 2005, 927 ff.). Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, sich der Leistungsanspruch aber als begründet erweisen sollte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl die Ablehnung rechtmäßig wäre.

Im Rahmen dieser Folgenabwägung und unter Berücksichtigung auch der grundrechtlichen Belange des Antragstellers war die Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verpflichten. Hinsichtlich des Beginns war auf den Tag der Antragstellung beim Sozialgericht abzustellen. Denn für davor liegende Zeiträume konnten keine wesentlichen Nachteile mehr entstehen, die sich durch den Erlass der auf eine zukünftige Regelung gerichteten einstweiligen Anordnung noch abwenden ließen. Um eine Vorwegnahme der Hauptsache zu vermeiden, hat der Senat die Leistungen nur mit einem an § 20 Abs. 3 Satz 2 SGB II orientierten Abschlag zugesprochen. Die Kosten für Unterkunft und Heizung haben vorläufig außer Betracht zu bleiben, weil eine drohende Obdachlosigkeit des Antragstellers weder glaubhaft gemacht noch sonst ersichtlich ist. Dem Charakter einer vorläufigen Regelung entsprechend war die Anordnung schließlich zu befristen.

Für eine Entscheidung über die von der Antragsgegnerin beantragte Aussetzung des Vollzuges, die sich nach § 199 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGG und nicht nach der auf Ordnungs- und Zwangsmittelbeschlüsse beschränkten Regelung des § 175 SGG bestimmte, ist damit kein Raum mehr.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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