L 22 R 481/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 97 RA 777/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 R 481/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Februar 2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Minderung ihrer Witwenrente; ausschlaggebend ist, ob für sie nach ihrem Umzug in den in Artikel 3 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 (BGBl III S. 889) - EV – bezeichneten Teil des Landes Berlins der Freibetrag West oder der Freibetrag Ost bei der Einkommensanrechnung anzuwenden ist.

Die Klägerin bezieht seit 9. Februar 2000 große Witwenrente aus der Versicherung des ihres an diesem Tage verstorbenen Ehemannes W H. Der Bescheid über die Hinterbliebenenrente datiert vom 22. März 2000. Die Klägerin wohnte damals in , Land Rheinland/Pfalz. Der Bescheid vom 22. März 2000 enthält auf Seite 4 im drittletzten Absatz den Hinweis:

"Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes in das Beitrittgebiet hat eine Änderung der Höhe des Freibetrage zur Folge und ist uns daher unverzüglich mitzuteilen."

Nachdem die Klägerin am 1. Januar 2003 ihren Wohnsitz in den im Artikel 3 des Einigungsvertrages – EV – bezeichneten Teil des Landes Berlin verlegt hatte (Anmeldung in Berlin Marzahn-Hellerdorf am 2. Januar 2003; Abmeldung in Alzey 7. Januar 2003), ohne dies zunächst der Beklagten mitzuteilen, meldete der Postrentendienst die Anschriftenänderung der Landesversicherungsanstalt Rheinland/Pfalz in Speyer. Diese Meldung ging am 3. Juni 2003 bei der Beklagten ein, die dann eine Meldebescheinigung der Klägerin anforderte. Am 12. Juni 2003 übersandte die Klägerin die An- und Abmeldebescheinigungen an die Beklagte. Diese berechnete die Rente der Klägerin neu und teilte ihr in einem als "Mitteilung" bezeichneten Schreiben vom 18. Juni 2003 mit, dass die Rente ab 1. August 2003 neu berechnet werde, da sich der Freibetrag geändert habe. Mit Anhörungsschreiben vom 2. Juli 2003 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie beabsichtige den Ausgangsbescheid rückwirkend für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Juli 2003 sowie für die Zukunft abzuändern und auf Grund einer Rentenminderung die entstandene Überzahlung von 183,96 EUR zurückzufordern. Die Klägerin widersprach der Rentenanpassungsmitteilung zum 1. Juli 2003 und vertrat im Schreiben vom 6. Juli 2003 die Auffassung, sie habe ihre Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten aus dem Bescheid vom 22. März 2000 nicht verletzt.

Mit Bescheid vom 4. November 2003 berechnete die Beklagte die große Witwenrente der Klägerin mit Wirkung vom 1. Januar 2003 an neu und forderte eine Überzahlung von 183,96 EUR (bezogen auf die Zeit vom 01. Januar bis 30. Juni 2003) zurück. Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 18. November 2003, den sie damit begründete, auf Grund der Tatsache, dass im Land Berlin teilweise die Regelungen der neuen Bundesländer und teilweise die der alten Bundesländer Anwendung fänden, hätte die Beklagte in besonderem Maße auf diesen Umstand hinweisen müssen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück: Im Ausgangsbescheid vom 22. März 2000 sei auf Seite 4 darauf hingewiesen worden, dass eine Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes in das Beitrittsgebiet eine Änderung der Höhe des Freibetrages zur Folge habe und der Beklagte unverzüglich mitzuteilen sei. Dies sei nicht geschehen.

Hiergegen hat sich die am 03. Februar 2004 beim Sozialgericht Berlin erhobene Klage gerichtet, zu deren Begründung die Klägerin vorgetragen hat, den Hinweisen des angefochtenen Bescheides sei nicht zu entnehmen gewesen, dass sich die Witwenrente durch den Umzug in den Stadtbezirk L von Berlin um monatlich 26,77 EUR verringern würde. Andernfalls hätte sie sich eine Wohnung im Westteil der Stadt gesucht.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 4. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2004 aufzuheben, als hierdurch die Rente neu berechnet, der Rentenbescheid vom 22. März 2000 hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab Januar 2003 aufgehoben und darüber hinaus ein zu erstattender Betrag in Höhe von 183,96 EUR festgesetzt und zurückgefordert worden ist.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden bezogen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. Februar 2006 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, durch den Umzug in das Beitrittsgebiet sei eine wesentliche Veränderung in den Verhältnissen eingetreten, die bei der Rentenbewilligung vorgelegen hätten. Die Klägerin habe Einkommen oder Vermögen erzielt, das zur Minderung des Anspruchs geführt habe. Die entsprechende Rentenkürzung habe rückwirkend erfolgen müssen, da kein atypischer Fall vorgelegen habe. Daher komme es auf Verschulden bzw. Böswilligkeit der Klägerin nicht an.

Gegen dieses, der Klägerin am 15. März 2006 zugestellte Urteil richtet sich deren Berufung vom 28. März 2006, zu deren Begründung sie im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und dem erstinstanzlichen Verfahren wiederholt.

Wegen des Sachverhaltes im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakte der Beklagten zum Az.: verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung des Senats gewesen sind.

II.

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht erhoben, somit insgesamt zulässig.

Über sie konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für notwendig hält, zumal die Beteiligten erstinstanzlich und schriftsätzlich im Berufungsverfahren Gelegenheit hatten, ihre Argumente vorzutragen (§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, so dass die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben konnte.

Dem Sozialgericht ist darin zuzustimmen, dass durch den Umzug der Klägerin in das Beitrittsgebiet eine wesentliche Änderung der Verhältnisse erfolgt ist, die beim Erlass des ursprünglichen Rentenbescheides, eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung, vorgelegen haben (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X). Insoweit nimmt der Senat gem. § 153 Abs. 2 SGG auf das angefochtene Urteil Bezug.

Daher war nach der zwingenden Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X "ist. für die Zukunft aufzuheben", die Rentenkürzung ab 1. Dezember 2003 anzuordnen. Auch für den Zeitraum vom Umzug im Januar 2003 bis November 2003 jedoch ist dies der Fall. Zwar lag nicht, wie das Sozialgericht meint, ein Fall von Veränderungen der Einkommens- oder Vermögenserzielung gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 3 SGB X vor, denn eine andere Anrechnung von Einkommen ändert dieses selbst nicht, so dass keine Änderung der Einkommensverhältnisse vorlag.

Es liegt jedoch ein Fall des § 48 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 4 SGB X vor, wonach der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der Verhältnisse – hier des Umzugs ins Beitrittsgebiet – aufgehoben werden soll, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Die Voraussetzungen liegen hier vor, da die Klägerin sich nach ihrem eigenen Vortrag trotz des Hinweises der Beklagten auf die Bedeutung des Umzuges ins Beitrittsgebiet auf die Rentenhöhe insofern keine Gedanken gemacht hat, obwohl dort wörtlich ausgeführt wird, die Wohnsitzverlegung insoweit "hat eine Änderung der Höhe des Freibetrages zur Folge". Damit hat die Beklagte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Änderung der Rentenhöhe aus einem Umzug folgen kann. Wenn die Klägerin diesem Hinweis keine Beachtung beimisst, hat sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Die in § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB X vorausgesetzte Sorgfaltspflichtverletzung entspricht der groben Fahrlässigkeit.

Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn außer Acht gelassen wurde, was jedem hätte einleuchten müssen (BGHZE 10,16). Hier war die Klägerin von der Beklagten darauf hingewiesen worden, dass ein Umzug ins Beitrittsgebiet erheblich war, hat es aber unterlassen, sich Gedanken darüber zu machen, ob der Teil Berlins, in den sie übergesiedelt war, Beitrittsgebiet ist oder nicht. Diese Prüfung hätte jedoch jedem einleuchten müssen, denn der Senat geht davon aus, dass in Deutschland bekannt war und bekannt ist, dass es ein ehemaliges West-Berlin und ein ehemaliges Ost-Berlin gibt und dass Ost-Berlin erst seit dem 3. Oktober 1990 zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gehört. Er geht weiterhin davon aus, dass allgemein bekannt ist, dass als Beitrittsgebiet bzw. neue Bundesländer die Gebiete bezeichnet werden, die seit 3. Oktober 1990 zum Territorium der Bundesrepublik Deutschland gehören. Wenn daher in dem Ausgangsbescheid dargelegt wurde, ein Umzug in das Beitrittsgebiet sei erheblich, so ist dies hinreichend bestimmt, zumal es der gesetzlichen Definitionen in § 3 EV entspricht. Der Beklagten oblag nicht die Pflicht, die neuen Länder und die Stadtbezirke von Berlin, die zum Beitrittsgebiet gehören, in ihrem Bescheid aufzulisten. Auch wäre dies dann nicht nur für Berlin notwendig, sondern auch für das Land Niedersachsen, dessen Amt Neuhaus ebenfalls erst nach dem 3. Oktober 1990 in das Gebiet dieses Landes eingegliedert wurde und somit zwar einerseits Teil des Landes Niedersachsens, aber andererseits Beitrittsgebiet ist. Wenn sich die Klägerin nicht darüber im Klaren gewesen wäre, was unter "Beitrittsgebiet" zu verstehen ist, hätte sie sich durch eine Anfrage bei der Beklagten Klarheit verschaffen müssen.

Ein Beratungsfehler kann bereits deshalb nicht eingetreten sein, da die Klägerin sich nicht von der Beklagten vor dem Umzug hat beraten lassen, sondern diesen vorgenommen hat, ohne der Beklagten davon Mitteilung zu machen. Vielmehr hat die Beklagte erst durch den Postrentendienst von dem Umzug erfahren. Im Gegensatz zur Auffassung der Klägerin, wonach in Berlin eine andere Situation gelte, hat der Gesetzgeber festgelegt, dass im gesamten Beitrittsgebiet, also auch im ehemaligen Berlin (Ost), andere Rentenberechnungsregelungen gelten. Dazu war der Gesetzgeber auch berechtigt, da solange die Lebensverhältnisse in den alten Bundesländern und im Beitrittsgebiet nicht völlig angeglichen sind, unterschiedliche Sachverhalte vorliegen, die auch rechtlich ohne gegen Art. 3 Grundgesetz zu verstoßen, anders bewertet werden können. Es ist weder ersichtlich, noch von der Klägerin vorgetragen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in den alten Bundesländern und im Beitrittsgebiet inzwischen keine Unterschiede mehr aufweisen. Von daher ist in der unterschiedlichen Einkommensanrechnung weder ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, noch gegen die allgemeine Handlungsfreiheit oder das Recht auf Freizügigkeit zu sehen. Es wäre vielmehr gegenüber den übrigen Rentenbeziehern im Beitrittsgebiet eine nicht vertretbare Ungleichbehandlung, wenn – bei gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen im Beitrittsgebiet – zugezogene Rentenempfänger höhere Leistungen beziehen könnten, obwohl die dortigen wirtschaftlichen Verhältnisse diese ebenso treffen. Die an der Einkommensstruktur im Beitrittsgebiet gemessenen wirtschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich im Rentenniveau wieder. Eine Beschränkung der Freizügigkeit oder der allgemeinen Handlungsfreiheit kann dementsprechend bei Beibehaltung des relativen Rentenwertes nicht gesehen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Für die Zulassung der Revision ist keiner der im § 160 Abs. 2 SGG dargelegten Gründe gegeben.
Rechtskraft
Aus
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