L 19 B 327/06 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 99 AS 3157/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 B 327/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2006 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten des Verfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im einstweiligen Anordnungsverfahren die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II -.

Der Antragsteller bezog bis 11. März 2005 Arbeitslosengeld und sodann Arbeitslosengeld II.

Am 16. September 2005 wurde er in Strafhaft genommen (voraussichtliches Haftende 15. März 2007). Er geht außerhalb der Anstalt einer entgeltlichen Beschäftigung nach. Monatlich verfügt er nach eigenen Angaben über ca. 165,- Euro (Hausgeld und Eigengeld) zu seiner Verwendung. Über den Haftantritt wurde der Antragsgegner von der Justizvollzugsanstalt - JVA - mit Zustimmung des Antragstellers am 08. November 2005 in Kenntnis gesetzt (in der Mitteilung wurde als Haftende irrtümlich der 15. März 2006 genannt). Daraufhin teilte der Antragsgegner, der zuvor Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (in Höhe von 528,85 Euro bis Februar 2006 sodann 477,85 Euro) bis einschließlich März 2006 bewilligt hatte, mit (Bescheid vom 12. Dezember 2005), die Regelleistung entfalle für die Zeit vom 01. Oktober 2005 bis voraussichtlich März 2006. Dennoch wurden im Folgenden Leistungen bis einschließlich Februar 2006 in voller Höhe erbracht. Mit Bescheid vom 20. März 2006 hob der Antragsgegner nach vorheriger Anhörung die Bewilligung von Arbeitslosengeld II vom 17. September 2005 an wegen der Inhaftierung auf.

Am 10. Januar 2006 teilte der Antragsteller mit, er sei mit seiner Lebensgefährtin zusammengezogen. Mit einem weiteren Schreiben (bei dem Antragsgegner eingegangen am 09. März 2006) stellte er einen Fortzahlungsantrag und teilte gleichzeitig mit, er habe die gemeinschaft-liche Wohnung aus Trennungsgründen zum 28. Februar 2006 verlassen müssen. Zum 01. März 2006 habe er mit Alfons Amann einen Untermietvertrag über ein möbliertes Zimmer (Warmmiete inkl. Nebenkosten 295,- Euro) geschlossen.

Über den Fortzahlungsantrag hat der Antragsgegner nach Aktenlage noch keine Entscheidung getroffen.

Am 07. April 2006 hat der Antragsteller beim Sozialgericht um vorläufigen Rechtschutz nachgesucht und geltend gemacht, er sei im Sinne der Bestimmungen des SGB II bedürftig, da er allein durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel sein Existenzminimum nicht sichern könne. Durch die Unterbringung und die Versorgung mit Nahrungsmitteln in der Haftanstalt sei lediglich ein Teil seines Bedarfs - und der auch nur anteilig - abgedeckt. Zudem sei die Leistungsgewährung schon deshalb für ihn von großer Bedeutung, weil er nur dann Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein habe, ohne den die Erlangung eines Arbeitplatzes noch schwerer sei. Er verbringe einen großen Teil seiner Zeit außerhalb der JVA in seiner Wohnung. Deren Verlust drohe ihm, da er aus eigenen Mitteln die Miete nicht zahlen könne. § 7 Abs. 4 SGB II stehe einem Leistungsanspruch nicht entgegen, weil er dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 369,26 Euro vom 01. April bis längstens 31. August 2006 zu gewähren.

Zur Begründung der Entscheidung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Antragsteller habe sowohl das Vorliegen eines Anordnungsgrundes als auch eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht. § 7 Abs. 4 SGB II finde keine Anwendung (Hinweis auf Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 02. Februar 2006 - L 14 B 1307/05 AS ER -). Es bestehe Anspruch auf den Regelbedarf (345,- Euro) sowie auf Übernahme der Kosten der Unterkunft (295,- Euro). Davon in Abzug zu bringen seien die voraussichtlichen monatlichen Einkünfte in Höhe von 250,- Euro, bereinigt um einen Freibetrag in Höhe von 100,- Euro sowie einen Betrag in Höhe von 120,75 Euro für die ihm von der JVA gewährte Verpflegung. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes ergebe sich unmittelbar aus der existenzsichernden Natur der begehrten Leistungen (Hinweis auf Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -).

Gegen den ihm am 25. April 2006 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsgegner mit der am 26. April 2006 eingelegten Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat. Er macht geltend, Strafgefangenen, die länger als 6 Monate in einer Einrichtung des Strafvollzugs untergebracht seien, stünden aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 4 SGB II keine Leistungen nach diesem Gesetz zu.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch ein Anordnungsanspruch (im Sinne eines mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweg genommen werden. Allerdings ist aufgrund des Gebots, effektiven Rechtschutz zu gewähren, von diesem Grundsatz dann eine Abweichung erforderlich, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 12. Mai 2005, - 1 BvR 569/05 -).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht gegeben. Es fehlt bereits an einem Anordnungsgrund. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen zwar im Allgemeinen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, so dass in der Regel ein Anspruchsteller nicht auf ein Hauptsacheverfahren verwiesen werden kann, weil bis zu einer Entscheidung sein Existenzminimum nicht gedeckt ist und ihm dadurch erhebliche Beeinträchtigungen, die nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden können, drohen. Derart erhebliche Beeinträchtigungen sind hier aber nicht ersichtlich, so dass eine Vorwegnahme der Hauptsache weder aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten noch aus sonstigen Gründen erforderlich ist.

Aufgrund der Unterbringung in der JVA ist der elementare Wohn- und Ernährungsbedarf des Antragstellers gedeckt. Es stehen ihm darüber hinaus auch in mehr als ganz geringem Umfang (nach seinen Angaben 165,- Euro monatlich) Mittel zur freien Verfügung. Auch die Vorenthaltung von Kosten der Unterkunft (ggf. bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache) kann im vorliegenden Verfahren nicht als erhebliche Rechtsbeeinträchtigung angesehen werden, selbst wenn ein Wohnungsverlust in Folge von Mietrückständen droht. Nach der vom Senat eingehol-ten telefonischen Auskunft der JVA Heiligensee ist der Antragsteller berechtigt, die Anstalt zur Ausübung einer Arbeit im Umfang von acht Stunden für zwölf Stunden zu verlassen. Geht man von einem Arbeitsweg von insgesamt einer Stunde aus, ist dem Antragsteller eine maximale Nutzung der eigenen Wohnung an Arbeitstagen im Umfang von drei Stunden möglich. Davon ist noch der Zeitbedarf für das Aufsuchen und wieder Verlassen der Wohnung in Abzug zu bringen. Darüber hinaus sieht der Vollzugsplan für den Antragsteller Urlaub im Umfang von 36 Stunden im Monat vor. Unter diesen Umständen ist dem Antragsteller die Nutzung einer eigenen Wohnung nur in einem sehr geringen Umfang möglich. Er hat beispielsweise nicht die Möglichkeit, wie es § 15 Abs. 4 Strafvollzugsgesetz für Freigänger innerhalb von neun Monaten vor der Entlassung zur Vorbereitung auf dieselbe vorsieht, Sonderurlaub bis zu sechs Tagen im Monat zu erlangen und diesen dann in der eigenen Wohnung zu verbringen. Zudem ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu berücksichtigen, dass es sich bei der geltend gemachten Unterkunft nicht um eine langjährig vom Antragsteller bewohnte Wohnung mit ggf. bestehenden engen sozialen Kontakten im Umfeld handelt, sondern um ein möbliertes Zimmer in der Wohnung eines ehemaligen Mithäftlings, das erst während des Strafvollzugs angemietet wurde.

Da der Antragsteller derzeit einer Beschäftigung im Rahmen des Strafvollzugs nachgeht, rechtfertigt auch sein Begehren, Vermittlungsgutscheine während des Leistungsbezugs zu erhalten, nicht den Erlass einer vorläufigen Regelung.

Bei einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im Hauptsacheverfahren voraussichtlich mit seinem Begehren Erfolg haben wird. Es besteht daher kein Anlass, geringere Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes deshalb zu stellen, weil die begehrte Leistung dem Antragsteller offensichtlich zusteht und aufgrund dessen bei einer Abwägung der widerstreitenden Interessen im einstweiligen Anordnungsverfahren denen des Antragstellers der Vorrang einzuräumen ist.

Der Senat geht im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes davon aus, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II für in einer stationären Einrichtung Untergebrachte grundsätzlich auch für Gefangene in einer JVA gilt, wenn der Aufenthalt dort länger als sechs Monate andauert. Der Begriff der stationären Einrichtung ist weder im Gesetz noch in der Begründung des Gesetzentwurfs konkretisiert worden. Nach dem Gesamtzusammenhang der Regelung liegt eine stationäre Einrichtung im Sinne des Gesetzes im Allgemeinen dann vor, wenn der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Untergebrachten im Rahmen des Therapiekonzepts die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernimmt und Ge-meinschaftseinrichtungen vorhanden sind (vgl. Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II § 7 Rdnr. 34, Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - L 11 B 596/05 AS ER -). Dies trifft für Gefangene in einer JVA auch dann zu, wenn zu ihren Gunsten Locke-rungen des Vollzugs im Sinne von § 11 Strafvollzugsgesetz angeordnet werden und sie außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) oder ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten (Freigang) nachgehen dürfen. Diese Vollzugslocke-rungen führen insbesondere nicht dazu, dass die JVA lediglich als "teilstationäre Einrichtung" anzusehen ist (so aber Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 14 B 1307/05 AS ER -). Denn auch Lockerungen des Vollzugs ändern nichts daran, dass der JVA im Rahmen des Voll-zugsplans (§ 7 Strafvollzugsgesetz) die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Gefangenen verbleibt. Er unterliegt nicht etwa nur in den Zeiten, in denen er sich tatsächlich in der JVA aufhält, den Regelungen des Strafvollzugs, sondern diese bestimmen weitgehend auch seine Möglichkeiten außerhalb der Vollzugsanstalt. Dies wird bereits durch § 14 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz belegt, wonach der Anstaltsleiter dem Gefangenen für Lockerungen und Urlaub Weisungen erteilen kann.

Der Senat vermochte jedenfalls im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht der Auffassung zu folgen, Justizvollzugsanstalten stellten keine vollstationären Einrichtungen im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II dar (so aber beispielsweise LSG Celle, Beschluss vom 07. März 2006 - L 7 AS 423/05 ER -). Gegen diese Auffassung spricht bereits die Entstehungsgeschichte der Norm. Ursprünglich sah der Gesetzentwurf (BT-Dr 15/1516, 10) ohne nähere Begründung überhaupt keine Leistungen nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige vor, die stationär untergebracht sind. Gegen diese Regelung erhob sich erheblicher Widerstand mit Blickrichtung auf Personen, die sich nur vorübergehend z. B. in Einrichtungen der Wohnungslosen-hilfe, in stationärer Krankenbehandlung oder in Untersuchungshaft befinden (vgl. Brühl in Münder Sozialgesetzbuch II § 7 Rdnr. 54). Diese Kritik führte zur Einführung der Sechsmonatsfrist in § 7 Abs. 4 SGB II. Hätte der Gesetzgeber Justizvollzugsanstalten nicht unter den Begriff "stationäre Einrichtungen" fassen wollen, hätte es aufgrund der genannten Kritik, die sich ausdrücklich auch auf Gefangene bezog, nahe gelegen, eine etwaige Einschränkung im Gesetz oder zumindest in der Gesetzesbegründung kenntlich zu machen. Da dies nicht geschehen ist, spricht nichts dafür, dass eine solche Einschränkung von Anfang an beabsichtigt war oder aber mit der Einführung der Sechsmonatsfrist in § 7 Abs. 4 SGB II auch der vom Gesetzgeber ursprünglich gewollte sachliche Anwendungsbereich der Norm eine Änderung erfahren hat.

Auch die beim Antragsteller grundsätzlich vorhandene Erwerbsfähigkeit hindert nicht die Anwendung von § 7 Abs. 4 SGB II, denn in Bezug auf diese Regelung kommt es nicht entscheidend auf die Arbeitsfähigkeit, sondern die Unterbringung in einer stationären Einrichtung an (vergl. Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 Rn. 28).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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