L 1 U 1244/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 367/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1244/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 30. November 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Rente auf unbestimmte Zeit.

Der 1949 geborene Kläger fuhr mit seinem PKW am 23. Februar 2000 zu seinem Arbeitsplatz. An einer Kreuzung stieß er mit einem aus seiner Fahrtrichtung gesehen von links kommenden PKW zusammen. Er erlitt eine Zwerchfellruptur links mit Pleuraerguss links, einen Mesenterialeinriss am Ileum. Nach operativer Versorgung des Bauchtraumas und Zunahme der selbstständigen Mobilität klagte der Kläger über eine Ischialgie. Die Röntgenuntersuchung vom 2. März 2000 ergab eine Kompressionsfraktur des 12. Brustwirbelkörpers ohne Hinweis auf eine Instabilität. Die konsilarische neurologische Untersuchung bestätigte eine sensible Wurzelirritation L 5/S 1 links. Die am 9. März 2000 durchgeführte Computertomographie der Lendenwirbelsäule zeigte eine viergliedrige Lendenwirbelsäule, wobei der 5. Lendenwirbelkörper weitgehend sakralisiert ist, sowie einen kleinen medialen Prolaps in der vierten Lendenbandscheibe, aber keine Hinweise für eine frische knöcherne Läsion (Bericht des Dr. P. vom 29. März 2000). Neurologische Untersuchungen ergaben einen zentral-vestibulären Schwindel, der von der Neurologin und Psychiaterin Dr. H. auf Grund des erlittenen Schädelhirntraumas in Zusammenhang mit dem Unfall gesehen wurde und der sich bei weiteren Untersuchungen deutlich gebessert hatte. Die Wurzelirritation L 5/S 1 links mit leichten Sensibilitätsstörungen sah sie als Verschlimmerung der schon vor dem Unfall bestehenden Beschwerden auf Grund einer degenerativen Veränderung der Lendenwirbelsäule an (Befundberichte vom 11. Mai 2000, 2. Juni 2000 und 9. Juli 2000). Eine Kernspintomographie der Halswirbelsäule am 17. Mai 2000 ergab keinen Nachweis einer stattgehabten Wirbelverletzung oder einer Bandläsion (Bericht des Radiologen Dr. T. vom 18. Mai 2000). Arbeitsfähigkeit wurde bis 21. Juni 2000 bescheinigt.

Im Gutachten vom 19. September 2000 bezeichnete Dr. P. als Unfallfolgen vermutlich adhäsionsbedingte Abdominalbeschwerden und Thorakalbeschwerden bei Zwerchfellhochstand nach Laparotomie und Zwerchfellruptur, eine weitgehend knöchern konsolidierte Kompressionsfraktur des 12. Brustwirbelkörpers, eine Wurzelirritation L 5/S 1 im Sinne einer Verschlimmerung bei vorbestehender Sakralisation des 5. Lendenwirbelkörpers und medianem Prolaps der vierten Bandscheibe. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er mit 30 vH vom 21. Juni 2000 bis 5. September 2000 anschließend bis Ende Februar 2002 mit 25 vH, danach voraussichtlich mit unter 20 vH ein. Auf Grund des Röntgenbefundes hielt er es für nicht wahrscheinlich, dass eine wesentliche Schädigung der unteren Segmente der Wirbelsäule durch den Unfall eingetreten sei (Schreiben vom 6. April 2001).

Die Beklagte bewilligte nach Rücksprache mit ihrem Beratungsarzt dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 vH für Zeit vom 19. Juni 2000 bis 28. Februar 2001 (Bescheid vom 1. Juni 2001). Sie erkannte als Folge des Arbeitsunfalls an: Unter mäßiger keilförmiger Deformierung verheilter Bruch des 11. Brustwirbelkörpers bei lumbosacralem Übergangswirbel, Zwerchfellhochstand nach Laparotomie. Als Folgen des Arbeitsunfalls anerkannte sie nicht: Spondylarthrose 5/6, Skoliose der Brust-/Lendenwirbelsäule. Der Kläger erhob Widerspruch und machte eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands geltend. Im Mai 2001 erfolgte eine Pneumonektomie wegen eines zentralen Lungentumors links und ein Zwerchfellrückenverschluss wegen einer traumatischen Zwerchfellhernie links (Bericht des Dr. F. vom 12. Juni 2001).

Auf Veranlassung der Beklagten erstattete Dr. F. das orthopädische Gutachten vom 28. Februar 2002. Er kam zum Ergebnis, durch das Unfallereignis sei es zu einem traumatischen hinteren Bandscheibenvorfall gekommen. Als unfallbedingte Gesundheitsstörungen lägen auf orthopädischem Gebiet jetzt chronisch rezidivierende Beschwerden der Lendenwirbelsäule auf Grund des Bandscheibenvorfalls L 5/S 1 links mit Affektion der Nervenwurzel L 5 links und funktionellen Beeinträchtigungen vor. Die unfallbedingte MdE auf orthopädischem Gebiet sei mit 20 vH einzuschätzen. In der ergänzenden Stellungnahme vom 16. März "2001" (richtig: 2002) blieb er bei seiner Auffassung, weil ein geeignetes Unfallereignis vorgelegen habe, nach Angaben des Klägers vor dem Unfall keine bandscheibenbedingten Beschwerden bestanden hätten und sich im unmittelbaren Anschluss an den Unfall schmerzhafte Funktionsstörungen eingestellt hätten. Der beratende Arzt der Beklagten Dr. K. trat dem in seiner Stellungnahme vom 3. April 2002 entgegen, da die apparativen Befunde keine Begleitschäden nachgewiesen hätten und es sich damit um ein verletzungsunspezifisches Schadensbild handele. In einer weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 2. November 2002 sah Dr. F. den Lungentumor nicht als Unfallfolge an und blieb bei seiner Auffassung, der Unfall sei als Teilursache des ausgelösten Bandschreibensyndroms zu werten und als vorübergehende, nicht richtungsgebende Verschlimmerung eines in der Anlage vorhandenen Leidens anzuerkennen. Es liege zweifelsfrei eine anatomisch veränderte Lendenwirbelsäule mit entsprechender Fehlstatik vor, klinische Beschwerden seien aber anamnestisch nicht geäußert worden. Er schlage eine MdE von 20 vH bis ein Jahr nach dem Unfallereignis, anschließend für ein weiteres halbes Jahr eine MdE von 10 vH und danach eine MdE von 0 vH vor.

Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2003). Die Einschätzung, dass über den 28. Februar 2001 hinaus keine MdE von 20 vH bestehe, bestätige auch der im Widerspruchsverfahren gehörte Dr. F ...

Der Kläger hat am 19. Februar 2003 Klage beim Sozialgericht Ulm erhoben. Der Lungentumor sei auf die schweren, im Brustbereich erlittenen Verletzungen zurückzuführen, ebenso nach dem Gutachten des Dr. F. die Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule, woraus sich eine MdE von 20 vH ergebe.

Im Auftrag des Sozialgerichts hat Dr. H. das orthopädische Gutachten vom 23. Februar 2005 erstattet. Bei unfallbedingten Bandscheibenvorfällen komme es regelhaft zuerst zu einer mechanischen Überforderung der stabilisierenden Bänder und knöchernen Fortsätze, bevor das eigentliche Bandscheibengewebe zerreiße. Knöcherne oder ligamentäre Begleitverletzungen hätten zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen werden können. Dies schließe solche Verletzungen nicht aus, mache sie aber zumindest nicht wahrscheinlich. Allein auf Grund des Unfallmechanismus sei es schwer vorstellbar, dass ausgerechnet im Segment L 4/S 1 besonders hohe Scher- und Torsionskräfte auftreten sollten. Diese Kräfte träten üblicherweise in höher gelegenen Abschnitten mit ungünstigeren Hebelverhältnissen auf, was im vorliegenden Fall durch die knöcherne Verletzung des 12. Brustwirbelkörpers dokumentiert sei. Die Schmerzlokalisation vor allen Dingen im Bereich der linken Lendenregion und im linken Bauch, die der Kläger unter Wetterumschwung bzw. unter mechanischer Belastung spüre und die gelegentlich krampfartig seien und nur bis in das linke Gesäß ausstrahlten, seien untypisch für bandscheibenbedingte Beschwerden im Zusammenhang mit einem Vorfall im lumbosacralen Übergangsbereich. Auch sei eine über Wochen langsam zunehmende Schmerzsymptomatik im Rahmen eines traumatischen Bandscheibenvorfalls äußerst ungewöhnlich. Eine kontinuierliche Schmerzsymptomatik über vier Jahre sei eher nicht einem akuten Bandscheibenvorfall anzulasten. Zudem gebe es andere Ursachen für die nachvollziehbare Schmerzsymptomatik. Im Rahmen der Tumorerkrankung sei die gesamte linke Lunge entfernt worden. Im Bauchraum sei es zu Verwachsungen gekommen. Die Diagnose einer Nervenwurzelaffektion durch Dr. F. sei falsch.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 2005). Ein Kausalzusammenhang zwischen den beim Kläger festgestellten Bandscheibenveränderungen im Bereich L 4/S 1 und dem Arbeitsunfall sei nicht wahrscheinlich, was aus den in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten, Stellungnahmen der Beratungsärzte der Beklagten und den medizinischen Befundberichten folge.

Der Kläger hat gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 13. Februar 2006 zugestellte Urteil am 10. März 2006 Berufung eingelegt. Seine Berufung hat er nicht begründet.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 30. November 2005 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 2000 "Bandscheibenschaden im Bereich LWK 4/S 1" festzustellen und die Rente nach einer MdE von 20 vH auf Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des Sozialgerichts sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerechte und auch nach § 144 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2003 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Da der Senat die Berufung des Klägers einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, entscheidet er gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss. Angesichts des Ergebnisses der vom Sozialgericht eingeholten Gutachten weist nach Einschätzung des Senats der Rechtsstreit keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf, die mit den Beteiligten in einer mündlichen Verhandlung erörtert werden müssten, zumal der Kläger seine Berufung nicht begründete. Zu der beabsichtigten Verfahrensweise hat der Senat die Beteiligten angehört.

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung beurteilt sich nach § 56 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII). Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeiten sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Das Unfallereignis am 23. Februar 2000 war ein Arbeitsunfall. Denn der Kläger war auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, was zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist.

Voraussetzung für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls ist u.a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der eingetretenen bzw. bestehenden Gesundheitsstörung (haftungsausfüllende Kausalität). Für die Beurteilung der haftungsausfüllenden Kausalität gilt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, die Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach genügt abweichend von einer naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalitätsbetrachtung nach der Bedingungs- oder Äquivalenztheorie ("conditio sine qua non") nicht jedes Glied in einer Ursachenkette, um die Verursachung zu bejahen, weil dies zu einem unendlichen Ursachenzusammenhang führt. Als kausal und im Sozialrecht erheblich werden vielmehr nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Gesundheitsschaden zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Haben mehrere Bedingungen zu einem Erfolg beigetragen, so sind nur solche Bedingungen wesentlich, die gegenüber anderen von überragender Bedeutung sind (ständige Rechtsprechung, vgl. zum Ganzen: z.B. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 22/03 R -; Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R - m.w.N.). Was den anzuwendenden Beweismaßstab anbelangt, gelten für das Vorliegen des Ursachenzusammenhangs verminderte Anforderungen. Während die Grundlagen der Ursachenbeurteilung - versicherte Tätigkeit, Einwirkung, Erkrankung - mit einem der Gewissheit nahe kommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein müssen, genügt für den Zusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung aufgrund der mit der zumeist medizinischen Beurteilung dieses Zusammenhangs bestehenden tatsächlichen Schwierigkeiten eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die für den wesentlichen Ursachenzusammenhang sprechenden so stark überwiegen, dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann und ernste Zweifel ausscheiden. Die bloße Möglichkeit einer wesentlichen Verursachung genügt nicht (BSG, Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R - m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Bandscheibenvorfall und dem Arbeitsunfall nicht wahrscheinlich. Der Senat stützt sich wie das Sozialgericht auf das überzeugende Gutachten des Dr. H ... Dem Gutachten des Dr. F. sowie seinen ergänzenden Stellungnahmen folgt der Senat aus den von Dr. H. in seinem Gutachten dargelegten Gründen nicht. Insbesondere hat Dr. H. ausführlich dargelegt, dass die fehlenden knöchernen oder ligamentären Begleitverletzungen gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, 8.3.2.6.3., S. 529).

Im Übrigen relativierte Dr. F. die in seinem Gutachten vom 28. Februar 2002 geäußerte Auffassung, es bestehe ein Zusammenhang, jedenfalls in seiner zweiten ergänzenden Stellungnahme vom 2. November 2002. Er bewertete den Unfall als Teilursache des ausgelösten Bandscheibensyndroms und ging von einer vorübergehenden nicht richtungsgebenden Verschlimmerung eines in der Anlage vorhandenen Leidens aus, weshalb er dann auch nur eine vorübergehende MdE von 20 vH für ein Jahr nach dem Unfallereignis, also bis 23. Februar 2001, annahm. Bis 28. Februar 2001 gewährte die Beklagte eine entsprechende Rente, sodass das Begehren des Klägers auf Rente über den 28. Februar 2001 hinaus auf unbestimmte Zeit auch nicht auf die Ausführungen des Dr. F. gestützt werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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