L 13 SB 105/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 48 SB 1733/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 105/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 07. September 2004 sowie der Bescheid vom 06. Mai 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09. Juli 2002 und die Bescheide vom 03. Mai 2004 und vom 02. August 2005 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 60 anzuerkennen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist – noch – die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Vorraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteils-ausgleichs "G" – erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.

Der Beklagte stellte bei dem 1953 geborenen Kläger nach Einholung eines Befundberichtes des behandelnden Orthopäden W durch Bescheid vom 10. Mai 2001 als Behinderung

degenerative Veränderungen der Hüftgelenke bei Coxa Valga beiderseits

fest, die er mit einem GdB von 30 bewertete.

Zu seinem im Februar 2002 gestellten Neufeststellungsantrag bezog sich der Kläger auf ein Attest des Orthopäden Dr. G vom 13. Februar 2002, in dem wegen im Vordergrund stehender Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule und der Hüftgelenke die Zuerkennung eines höheren GdB sowie die Anerkennung der Vorraussetzungen des Merkzeichens "G" befürwortet wurde.

Der Beklagte zog einen Entlassungsbericht der Rheumaklinik B N über einen Aufenthalt des Klägers vom bis bei und holte ein Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. H ein, der Anhaltspunkte für einen höheren GdB oder die Zuerkennung eines Nachteilsausgleichs nicht feststellen konnte. Der Neufeststellungantrag wurde dementsprechend durch Bescheid vom 06. Mai 2002 abgelehnt.

Zu seinem Widerspruch gegen diesen Bescheid, mit dem er sich im Wesentlichen auf hinzuge-tretene Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule berief, legte der Kläger ein weiteres Attest von Dr. G vom 28. Mai 2002 vor, mit der dieser seine frühere Empfehlung wiederholte. Der Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Arztes Br durch Bescheid vom 09. Juli 2002 zurück.

Das Sozialgericht, bei dem sich der Kläger im Wesentlichen auf die im Verwaltungsverfahren eingereichten Atteste von Dr. G bezog, holte Befundberichte von diesem sowie dem Internisten Dipl. Med. Bein, der bei dem Kläger eine "schwere Depression" diagnostiziert hatte. Auf Empfehlung des Chirurgen Dr. B erkannte der Beklagte durch Bescheid vom 03. Mai 2004 als weitere Behinderung "Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule bei Verschleiß" (intern mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet) an und erhöhte den Gesamt-GdB auf 40.

Das Sozialgericht hat die Klage, mit der der Kläger die Zuerkennung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens " G" begehrt hatte, durch Urteil vom 07. September 2004 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Bewertung der bei dem Kläger bestehenden Funktionsstörungen mit einem Gesamt-GdB von 40 sei zutreffend. Dies gelte zunächst für die-jenigen an der Hüfte, die mit einem Einzel-GdB von 30 richtig beurteilt worden seien. Dies folge unter Beachtung der " Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit in sozialen Ent-schädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2004 (AHP 04)" aus den von Dr. Hmitgeteilten Befunden. Entsprechendes gelte für die Bewertung der Wirbel-säulenbeschwerden mit einem GdB von 20. Auch gegen die Bildung des Gesamt-GdB mit 40 bestünden keine Bedenken. Das Merkzeichen " G" könne neben weiteren Vorraussetzungen nur bei Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft gewährt werden. Die Feststellung dieser Eigenschaft stehe dem Kläger jedoch nicht zu.

Gegen das am 27. Oktober 2004 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. November 2004 Berufung eingelegt, zu der er weitere Atteste von Dr. G vom 01. November 2004 und vom 11. Februar 2005 vorlegte.

Die Beklagte ließ den Kläger aufgrund des zuletzt genannten Attestes durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie G untersuchen, die in ihrem Gutachten vom 07. Juli 2005 eine depressiv-hypochondrische Entwicklung mit Somatisierungsstörung bei zugrunde liegender Persönlichkeitsstörung feststellte. Es lägen deutliche soziale Eingliederungs-schwierigkeiten und Störungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor. Die Leiden wirkten sich insgesamt ungünstig aufeinander aus. Der Gesamt-GdB betrage 50. Sie schlug vor, als weitere Behinderung "seelische Störung" in den Behinderten-Katalog aufzunehmen. Der Beklagte folgte dem in dem Bescheid vom 02. August 2005, in dem der GdB auf 50 ab Februar 2002 festgelegt und die Zuerkennung von Nachteilsausgleichen abgelehnt wurde.

Der Kläger meint, unter Berücksichtigung der nunmehr anerkannten seelischen Störung sei ein Gesamt-GdB von 60 gerechtfertigt. Daraus folge auch, das nunmehr die Vorraussetzungen für das Merkzeichen "G" erfüllt seien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 07. September 2004 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 06. Mai 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09. Juli 2002 sowie die Bescheide vom 03. Mai 2004 und 02. August 2005 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm einen Grad der Behinderung von 60 zuzuerkennen und die gesundheitlichen Vorraussetzungen des Merkzeichens "G" anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 02. August 2005 abzuweisen.

Sie hält die in dem zuletzt genannten Bescheid getroffene Regelung für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt und die Schwer- behindertenakte des Beklagten, die vorlag und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise begründet.

Dem Kläger steht ab Februar 2002 ein GdB von 60 zu. Insoweit war der Bescheid vom 02. August 2005, der gem. §§ 96, 153 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden ist und über den der Senat im Klagewege zu entscheiden hatte, zu ändern. Die Feststellung der gesundheitlichen Vorraussetzung des Merkzeichens "G" kann der Kläger hingegen nicht verlangen.

Das Sozialgericht hat zunächst in sorgfältiger Würdigung der von Dr. H mitgeteilten Bewegungseinschränkungen durch die degenerativen Veränderungen der Hüftgelenke bei Coxa Valga beiderseits anhand der Vorgaben der AHP 04 (26.18, S. 124 f.) zutreffend entschieden, dass hierfür der von dem Beklagten eingesetzte Einzel-GdB von 30 angemessen ist. Auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil wird deshalb Bezug genommen (vgl. § 153 Abs. 2 SGG). Auch Dr. G hält diesen GdB für angemessen.

Entsprechendes gilt für die Funktionseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule. Auch hier hat das Sozialgericht unter Hinweis auf die einschlägigen Teile der AHP 04 (26.18, S. 116) in Würdigung der von Dr. Hund Dr. Gmitgeteilten Befunde den von der Beklagten angesetzten Einzel-GdB von 20 zu Recht als angemessen bezeichnet. Auch hierauf wird Bezug genommen.

Die bei dem Kläger bestehende psychische Erkrankung ist mit einem GdB von 30 ebenfalls zutreffend bewertet worden.

Nach Nr. 26.3 (S. 48) AHP 04 sind stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypo-chondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 – 40 zu bewerten. Erst schwerere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheiten) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten sind mit einem höheren GdB zu bewerten. Angesichts der von der Ärztin Gbeschriebenen Störungen, den Lebensumständen des Klägers sowie des Umstandes, dass er noch berufstätig ist, kann der GdB von 30 als richtig angesehen werden.

Als Gesamt-GdB hält der Senat einen solchen von 60 für angemessen. Nach § 69 Abs. 3 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) ist der GdB dann, wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegen, nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Die Vorschrift stellt klar, dass der Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen oder Behinderungen unabhängig davon, ob sie in einem oder mehreren medizinischen Fachbereichen vorliegen, nicht durch bloße Zusammenrechnung der für jede Funktionsbeeinträchtigung oder Behinderung nach den Tabellen der Anhaltspunkte festzustellenden oder festgestellten Einzel-GdB zu bilden ist, sondern durch eine Gesamtbeurteilung. In der Regel ist von der Funktionsbeeinträchtigung aus-zugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, um dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft größer wird. Dabei führen grund-sätzlich leichter Funktionsbeeinträchtigungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtauswirkung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. AHP 04, Nr. 19 S. 24 – 26 und BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9). Ausgehend von den generativen Veränderungen der Hüftgelenke und den seelischen Störungen mit einem GdB von jeweils 30 ist angesichts des weiteren GdB von 20 für die Wirbelsäulenbeschwerden der Gesamt-GdB mit 60 zu bewerten. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Ärztin Gauch festgestellt hat, dass sich die Leiden insgesamt ungünstig aufeinander auswirkten. Sie ist bei ihrer Aufstellung in dem Gutachten vom 07. Juli 2005 ohne weitere Begründung für das Wirbelsäulenleiden von einem GdB von 10 ausgegangen, was die Festsetzung des Gesamt-GdB auf 50 erklären mag, in den früheren ärztlichen Feststellungen jedoch keine Bestätigung findet.

Die gesundheitlichen Vorraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" liegen nicht vor. Gem. § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Vorraussetzungen sind nach Nr. 30 Abs. 3, S. 138 AHP 04 erfüllt, wenn Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von mindestens 50 bedingen oder bei Behinderungen der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50, die sich besonders ungünstig auf die Gehfähigkeit auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlußkrankheiten mit GdB von 40. Diese Vorraussetzungen sind den vorhandenen medizinischen Unterlagen nicht zu entnehmen. Dem auch von Dr. G für angemessen gehaltenen GdB von 30 kann eine schwere Schädigung des Hüftgelenks nicht entnommen werden; insgesamt liegen Funktions-störungen der unteren Gliedmaßen, die einen GdB von 50 bedingen, gerade nicht vor. Der insoweit bestehende und mit dem Bescheid vom 03. Mai 2004 anerkannte GdB beträgt nur 40. Das seelische Leiden, das zu einem höheren Gesamt-GdB geführt hat, kann insoweit nicht berücksichtigt werden, weil es sich auf die Gehfähigkeit offenkundig nicht auswirkt. Im Übrigen ist festzustellen, dass sich eine erhebliche Einschränkung der Gehfähigkeit auch nicht feststellen lässt. Die Ärztin G hat das Gangbild als unauffällig bezeichnet und eine erhebliche Gehbehinderung verneint. Dies entspricht den Feststellungen, die Dr. H bereits in dem Gutachten vom 29. April 2002 getroffen hatte. Soweit sich Dr. G in dem Attest vom 13. Februar 2002 und in seinen späteren Äußerungen für die Zuerkennung des Merk-zeichens ausgesprochen hatte, kann dem bereits deshalb nicht gefolgt werden, weil er in seinem Befundbericht vom 06. Dezember 2002 das Gangbild als "raumgreifend und sicher" beschrieben hatte und weiter ausgeführt hatte, der Kläger könne ohne große Anstrengung "mehr als 2000 Meter innerhalb von einer zumutbaren Zeit von 30 Minuten" bewältigen. Die Beurteilung der Gehfähigkeit durch den Arzt ist damit insgesamt so widersprüchlich, dass sie nicht verwertbar ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass Klage und Berufung teilweise Erfolg hatten.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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