L 6 R 162/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 26 RJ 1659/04
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 6 R 162/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. September 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Altersrente.

Der am XX.XXXXXXXX 1911 in D. / Kreis T. in Polen geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Nach seinen Angaben im Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) wurde er nach Beginn der Besetzung durch das Deutsche Reich zu Zwangsarbeiten herangezogen. Nach Errichtung des Ghettos Dombrowa-Tarnowska (Dabrowa-Tarnowska) musste er sich dort aufhalten; ihm gelang später die Flucht. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des BEG anerkannt und lebt heute als amerikanischer Staatsangehöriger in den USA.

Am 30. Januar 2003 beantragte der Kläger unter Hinweis auf das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) die Gewährung einer Regelaltersrente ab 1. Juli 1997. Er gab hierzu an, er habe im Ghetto Tarnow gelebt und während dieser Zeit für die Deutschen gegen Kost und Logis im Wald Bäume gefällt.

Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 24. Oktober 2003 ab. Die Zeit vom 1. September 1939 bis 9. Oktober 1942 könne schon deshalb nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden, weil das Ghetto Dombrowa-Tarnowska zu dieser Zeit noch nicht errichtet gewesen sei. Im Übrigen sei nach den Beschreibungen der Lebensumstände im Rahmen des Entschädigungsverfahrens nicht davon auszugehen, dass eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen und gegen Entgelt ausgeübt worden sei.

Der Kläger erhob dagegen Widerspruch und führte aus, er habe von Januar 1942 bis Februar 1943 im Ghetto Dombrowa-Tarnowska gelebt. Er habe während dieser Zeit verschiedene Arbeiten als Tischler verrichtet, an der Bahnstation Züge be- und entladen und im Wald Bäume gefällt. Dafür habe er Verpflegung und Unterkunft im Ghetto erhalten. Er habe aus freiem Willen gearbeitet, um nützlich zu sein, Verpflegung zu erhalten und zu überleben.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 5. November 2004 zurück. Nach ihren Ermittlungen habe das Ghetto Dombrowa-Tarnowska erst ab 10. Oktober 1942 existiert, sodass eine Anerkennung von Zeiten vor diesem Zeitpunkt ohnehin ausgeschlossen sei. Voraussetzung für die Anerkennung von Beschäftigungszeiten nach dem ZRBG sei außerdem, dass die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen und gegen Entgelt ausgeübt worden sei. Aus den Angaben im Entschädigungsverfahren ergebe sich jedoch, dass der Kläger zu den Arbeiten eingeteilt worden sei und dass diese unter Bewachung stattgefunden hätten. Eine Einflussnahme des Klägers auf die Art der Beschäftigung sei daher nicht möglich gewesen. Auch ein Entgelt sei dem Kläger nicht gezahlt worden, da allein die Verköstigung am Arbeitsplatz kein Entgelt im Sinne des ZRBG darstelle.

Mit seiner am 10. November 2004 erhobenen Klage hat der Kläger ausgeführt, er sei von Juli 1942 bis Februar 1943 im Ghetto Dombrowa-Tarnowska hauptsächlich als Zimmermann und Forsthelfer tätig gewesen. Er habe sich diese Beschäftigungsverhältnisse über den Judenrat selbst gesucht und hierfür ein Entgelt in Form von Verpflegung und Unterkunft erhalten. Seine Angaben aus dem Entschädigungsverfahren dürften nicht uneingeschränkt übernommen werden, weil der Bewertungsmaßstab eine andere Diktion aufweise.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 9. September 2005 abgewiesen. Der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass er aus freiem Willensentschluss eine Tätigkeit im Ghetto Dombrowa-Tarnowska aufgenommen habe. Zwar sei nicht entscheidend, dass er die Tätigkeit im Entschädigungsverfahren als "Zwangsarbeit" bezeichnet habe. Er habe dort jedoch anschaulich beschrieben, dass die jüdische Bevölkerung jeden Morgen zum Appell kommandiert worden sei, wo dann die Arbeitseinteilung erfolgt sei. Diese Situation lasse den nach dem ZRBG erforderlichen Freiraum für eine eigene Entscheidung über die Aufnahme der Beschäftigung nicht erkennen.

Hiergegen hat der Kläger am 21. September 2005 Berufung eingelegt. Er trägt vor, das Sozialgericht habe die besonderen Umstände der damaligen historischen Situation verkannt. Wesentlich seien nicht allein die "Appellsituation", sondern die Gesamtumstände. Zudem werde durch die Errichtung eines Judenrates, der die Funktion eines Arbeitsamtes ausgeübt habe, deutlich, dass eine Zuweisung der Arbeit durch die jüdischen Organe entsprechend den jeweiligen Fähigkeiten erfolgt sei. So sei der Kläger immer wieder zu Arbeiten als Zimmermann, Tischler bzw. Forsthelfer eingesetzt worden, die jeweils Geschicklichkeit im Umgang mit Holz vorausgesetzt hätten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. September 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. September 2005 zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakten der Beklagten und der Akte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat zu Recht und mit zutreffender Begründung die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Gemäß § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die allgemeine Wartezeit für einen Anspruch auf Regelaltersrente beträgt fünf Jahre (§ 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI). Auf die allgemeine Wartezeit werden Kalendermonate mit Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs. 1 und 4 SGB VI). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder den Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§§ 55 Abs. 1 S. 1, 247 Abs. 3 SGB VI). Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 S. 2 SGB VI).

Für den Kläger kommt allein die von ihm geltend gemachte Zeit während seines Aufenthalts im Ghetto Dombrowa-Tarnowska als Beitragszeit in Betracht. Hierfür wurden für ihn weder Pflichtbeiträge noch freiwillige Beiträge nach Bundes- oder Reichsversicherungsrecht entrichtet. Als polnischer Staatsangehöriger in Dombrowa-Tarnowska, das im sogenannten "Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete" (Distrikt Krakau) lag, galt für ihn auch nach der Besetzung durch das Deutsche Reich das polnische Sozialversicherungsrecht, sodass eine Beitragsentrichtung nach den Reichsversicherungsgesetzen nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urt. v. 23.8.2001 – B 13 RJ 59/00 RSozR 3-2200 § 1248 Nr. 17 - S. 67 f.).

Für den Kläger gelten Beiträge auch nicht nach § 2 Abs. 1 ZRBG als gezahlt. Gemäß § 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto als gezahlt, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird. Diese Voraussetzungen sind nach § 1 Abs. 2 ZRBG i.V.m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) glaubhaft zu machen. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist.

Es fehlt bereits an einer hinreichenden Bestimmbarkeit des Zeitraums, in dem sich der Kläger im Ghetto Dombrowa-Tarnowska aufgehalten hat, da er hierzu unterschiedliche Angaben gemacht hat. Während er im Verwaltungsverfahren den Zeitraum von Januar 1942 bis Februar 1943 angegeben hat, macht er im Klage- und Berufungsverfahren nur noch Zeiten von Juli 1942 bis Februar 1943 geltend. Im Rahmen des Entschädigungsverfahrens findet sich sogar die Angabe, ihm sei bereits im September bzw. Oktober 1942 die Flucht aus dem Ghetto gelungen.

Dies kann jedoch dahin stehen, da es jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Kläger in der Zeit seines Aufenthalts im Ghetto Dombrowa-Tarnowska eine Beschäftigung ausgeübt hat, die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist. Nach den Gesetzesmaterialien zum ZRBG knüpft diese gesetzliche Voraussetzung an die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellten Kriterien der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in einem Ghetto an und verdeutlicht die Abgrenzung zur Zwangsarbeit (BT-Drucks. 14/8583 S. 6 zu § 1; vgl. BSG, Urt. v. 7.10.2004 – B 13 RJ 59/03 RSozR 4-5050 § 15 Nr. 1 - Rn. 36). Zwangsarbeit ist danach die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichen) bzw. gesetzlichem Zwang. Typisch ist dabei z.B. die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Weiter ist charakteristisch für Zwangsarbeit, dass ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit nicht oder nur in geringem Maße an den Arbeiter ausgezahlt wird. Entsprechendes gilt für die Bewachung der Arbeiter während der Arbeit, um zu verhindern, dass diese sich aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (BSG 14.7.1999 – B 13 RJ 75/98 R – Juris - Rn. 38). Ein Beschäftigungsverhältnis kommt dagegen durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten über den Austausch von Arbeit und Lohn zustande und beruht auf jeweils eigenen Entschlüssen beider Seiten. Je stärker eine verrichtete Arbeit durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der Betroffene nicht entziehen kann, umso mehr nähert sie sich dem Typus der Zwangsarbeit an (BSG, Urt. v. 18.6.1997 – 5 RJ 66/95BSGE 80, 250 ff., 252; BSG, Urt. v. 14.7.1999 a.a.O.).

Der Kläger hat die verrichteten Tätigkeiten im Entschädigungsverfahren stets als "Zwangsarbeit" bezeichnet (in einer eidesstattlichen Erklärung der R. E. und S. G. vom 17. Mai 1966 wird von "Sklavenarbeit" gesprochen). Auch wenn man den Kläger nicht an dieser Wortwahl festhalten kann, ist doch seine relativ zeitnah abgegebene Erklärung vom 7. August 1956 von Bedeutung. Er hat dort ausgeführt, es sei gleich nach der deutschen Besetzung ein Judenrat gebildet worden, der für die Arbeitseinteilung zuständig gewesen sei. Man sei jeden Morgen auf dem Marktplatz zum Appell kommandiert worden, wo die Arbeitseinteilung erfolgt sei. Er sei der Tischlerei zugeteilt worden, weil er Tischler gewesen sei. Seine Gruppe habe sich jeden Morgen auf Anordnung des Judenrats zum Arbeitsplatz begeben und sei am Abend zurückgekehrt. Nach der Errichtung des Ghettos seien die Gruppen unter Bewachung zur Arbeit geführt und abends wieder zurückgebracht worden.

Es gibt hier keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Arbeiten aus eigenem Willensentschluss aufgenommen hat, vielmehr wurde er offenbar hierzu eingeteilt. Dass er aufgrund seiner Vorkenntnisse der Tischlerei zugeteilt wurde, spricht nicht gegen eine obrigkeitliche Zuweisung, sondern erklärt sich aus der praktischen Erwägung, jeden dort arbeiten zu lassen, wo er nützlich ist. Soweit der Kläger im Widerspruchs- und Klagverfahren angegeben hat, er habe unterschiedliche Tätigkeiten ausgeübt, hat er ebenfalls weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass er diese aus freiem Willensentschluss aufgenommen hat. Auch die von ihm geschilderte Bewachung auf dem Weg zur Arbeit und zurück ist ein typisches Element von Zwangsarbeit und spricht daher gegen einen freien Willensentschluss des Klägers hinsichtlich der Arbeitsaufnahme und -ausübung. Die erstmals im Rahmen des Widerspruchsverfahrens abgegebene Erklärung des Klägers, er habe aus freiem Willen gearbeitet, vermag vor diesem Hintergrund nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen, zumal sie sich auf die bloße Behauptung beschränkt, ohne dass konkrete Tatsachen vorgebracht werden.

Da bereits das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses nicht überwiegend wahrscheinlich ist, braucht auf die Frage, ob die bloße Gewährung von Verpflegung ein Entgelt i.S.v. § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1b) ZRBG darstellt, nicht eingegangen zu werden.

Durch das Vorliegen von Ersatzzeiten kann der Kläger die Wartezeit ebenfalls nicht erfüllen, da nach § 250 Abs. 1 SGB VI nur Versicherte Ersatzzeiten als rentenrechtliche Zeiten haben können. Versicherter ist aber nur derjenige, für den ein Beitrag vor Beginn der Rente wirksam gezahlt worden ist oder als wirksam entrichtet gilt (BSG, Urt. v. 7.10.2004 a.a.O. - Rn. 10), was bei dem Kläger nicht der Fall ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) oder Nr. 2 SGG (Abweichung von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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