L 3 SB 2882/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SB 3781/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 2882/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist der Grad der Behinderung (GdB).

Bei dem am 30.3.1957 G.orenen Kläger war noch nach altem Recht zuletzt ein GdB von 30 bei den Behinderungen "Degenerative Veränderung der Hals- und Lendenwirbelsäule, Aufbauvariante der Lendenwirbelsäule, Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule, Fehlhaltung der Brustwirbelsäule, degenerative Knorpelveränderungen der rechten Kniescheibe, O-Beine" festgestellt worden (Bescheid vom 6.9.1993 in der Gestalt des Teil-Abhilfebescheides vom 19.5.1994; Widerspruch im Übrigen, Klage und Berufung waren erfolglos).

Den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 8.6.2004 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 15.7.2004 ab. Zu Grunde lag die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Z. vom 25.6.2004 mit den darin festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen (GdB 30) und Knorpelschädigung am Kniegelenk (kein Einzel-GdB von mindestens 10)".

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B. vom 3.8.2004 (Bezeichnung der Behinderungen: "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Nervenwurzelreizerscheinungen [GdB 30]") mit Widerspruchsbescheid vom 5.8.2004 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 7.9.2004 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben, mit der er sein Begehren auf Feststellung eines höheren GdB wegen der Wirbelsäulenveränderungen weiterverfolgt hat. Die vom SG angeforderte Schweigepflichtentbindungserklärung ist vom Kläger nicht vorgelegt worden.

Das SG hat die Klage ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid vom 22.6.2005 abgewiesen.

Es hat zur Darstellung der für die GdB-Feststellung erforderlichen Voraussetzungen und maßG.enden Rechtsvorschriften auf die angefochtenen Bescheide Bezug genommen und ausgeführt, dass das Gericht an der G.otenen Sachverhaltsaufklärung durch Anhörung der behandelnden Ärzte wegen der Nichtvorlage der Entbindungserklärung gehindert gewesen sei. Unter Berücksichtigung des vom Beklagten festgestellten Sachverhalts sei die begehrte Neufeststellung zu Recht abgelehnt worden. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen den am 23.6.2005 zur Post aufgeG.enen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 4.7.2005 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren im Wesentlichen mit der bisherigen Begründung weiterverfolgt.

Der Senat hat den Hausarzt Dr. G ... als sachverständigen Zeugen befragt. Dieser nennt in seiner Aussage vom 27.1.2006 unter Beifügung entsprechender Fremdarztbriefe als Funktionsbeeinträchtigung eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule nach Bandscheibenvorfall mit lumboischialgieformen Beschwerden sowie Einschränkung der Hüftbeugung und Hüftstreckung, erwähnt einen Bandscheibenvorfall im Bereich der Halswirbelsäule und verneint eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen seit Juli 2004. Hinsichtlich der Halswirbelsäule ist in einem Arztbrief der Orthopädin Dr. H. vom 12.11.2003 von einer freien Beweglichkeit ohne Druckschmerz die Rede (zur näheren Feststellung der Einzelheiten wird auf Blatt 32/39 der LSG-Akte Bezug genommen).

Einer vom Senat zunächst angedachten orthopädischen Begutachtung hat sich der Kläger trotz Hinweises auf die Erreichbarkeit des beauftragten Krankenhauses mit öffentlichen Verkehrsmitteln in einem Verkehrsverbund und die nachträgliche Kostenerstattung verweigert.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. Juni 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 15. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 2004 zu verurteilen, einen höheren GdB als 30 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB.

Gemäß § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest.

Menschen sind im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sind als GdB nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Hierfür gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Sätze 3 bis 5 SGB IX). Liegen mehrere sich gegenseitig beeinflussende Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so ist der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).

Der GdB als Ausmaß der Behinderung ist in freier richterlicher Würdigung aller Umstände, wie sie dem Verfahren des § 287 Zivilprozeßordnung (ZPO) entspricht (Bundessozialgericht [BSG] vom 15.3.1979 - 9 RVs 16/78 -), unter Heranziehung der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung zuletzt im Jahr 2004 herausgeG.enen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) - AHP - festzulegen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG] vom 6.3.1995 - 1 BvR 60/95 -). Zwar beruhen die Anhaltspunkte weder auf dem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften, so dass sie keinerlei Normqualität haben, dennoch sind sie als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, deshalb normähnliche Auswirkungen haben und im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden sind. Sie unterliegen daher nur einer eingeschränkten Kontrolle durch die Gerichte und können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden. Die Rechtskontrolle beschränkt sich vielmehr auf die Vereinbarkeit der Anhaltspunkte mit höherem Recht und Fragen der Gleichbehandlung (BSG vom 9.4.1997 - 9 RVs 4/95 -).

Die Gesamtbehinderung eines Menschen lässt sich rechnerisch nicht ermitteln. Daher ist für die Bildung des Gesamt-GdB eine Addition von Einzel-GdB-Werten grundsätzlich unzulässig. Auch andere Rechenmethoden sind ungeeignet (BSG vom 15.3.1979 aaO). In der Regel wird von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB ausgegangen und sodann geprüft, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, führen dabei in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Nr. 19 Absätze 3 und 4 der AHP).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur das Vorliegen einer (unbenannten) Behinderung und den Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zu Grunde liegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (BSG vom 24.6.1998 - B 9 SB 17/97 R -). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar.

In Anwendung dieser Grundsätze ist der Senat nach dem GesamterG.nis des Verfahrens zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Kläger unter Berücksichtigung der Wirbelsäulenveränderungen kein höherer Gesamt-GdB als 30 vorliegt. Eine wesentliche Veränderung i. S. von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist nicht eingetreten.

Aus der vom Senat veranlassten Befragung von Dr. G ... ergibt sich nämlich, dass bei dem Kläger lediglich im Bereich der Lendenwirbelsäule eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit und lumboischialgieforme Beschwerden vorliegen. Demgegenüber ist von Schmerzfreiheit und freier Beweglichkeit im Bereich der Halswirbelsäule auszugehen. Eine wesentliche Veränderung gegenüber den Verhältnissen, die dem Neufeststellungsbescheid zu Grunde lagen, ist nicht eingetreten. Damit bestehen beim Kläger allenfalls schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (im Sinne von Bewegungseinschränkungen und Wirbelsäulensyndromen) entsprechend S. 116 der AHP, jedoch keine mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten. Selbst bei letzteren kann allerdings auch noch die Bemessung mit einem GdB von lediglich 30 erfolgen.

Der Senat folgt damit im ErG.nis der versorgungsärztlichen Einschätzung von Dr. Wolf vom 24.8.2006 und hält nach nochmaliger Überprüfung die Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens für entbehrlich. Allerdings war der Kläger zu einer entsprechenden Begutachtung auch nicht bereit. Die von ihm insoweit vorG.rachten Gründe erachtet der Senat als nicht tragfähig. Das vom Senat mit der Begutachtung beauftragte Krankenhaus war mit öffentlichen Verkehrsmitteln in einem Verkehrsverbund zu erreichen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen wäre, mit öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen, liegen nach dem GesamterG.nis des Verfahrens nicht vor. Der Kläger war nach Auffassung des Senats auch zumutbar auf die nachträgliche Kostenerstattung zu verweisen.

Abschließend wird noch darauf hingewiesen, dass keine Veranlassung bestanden hat, dem Vertagungsantrag des Klägers stattzuG.en. Insbesondere ist schon nicht schlüssig, warum dem Kläger die Anreise zum Termin deshalb nicht möglich gewesen sein soll, weil er am selben Tag seinen Sohn ebenfalls zu einem Gerichtstermin beim Landesozialgericht Baden-Württemberg hätte fahren müssen. Hinzukommt, dass der Gerichtstermin des Sohnes aufgehoben worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved