L 12 R 3649/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 7 RA 1611/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 R 3649/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 15.07.2004 wird insoweit aufgehoben, als die Beklagte darin auch für rentenrechtliche Zeiten im Zeitraum von 1961 bis 1963 zu einer Neuberechnung der Rente des Klägers und zur Gewährung einer höheren Rente verurteilt worden ist. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

3. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu 5/6 erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer höheren Altersrente im Streit. Der Kläger macht eine höhere Bewertung seiner von 1961 bis 1991 in einer Kolchose in der Sowjetunion zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) geltend.

Der Kläger 1939 in der UdSSR geboren und hat dort von Januar 1954 bis zu seiner Ausreise im August 1991 im Kalinin-Kolchos gearbeitet. Der Kläger ist Inhaber des Vertriebenenausweises B.

In einem ersten Antrag auf Kontenklärung aus dem Jahre 1993 gab der Kläger an, von Januar 1954 bis Dezember 1955 im Kalinin-Kolchos als Arbeiter und anschließend von 1956 bis zum 23.08.1991 als Traktorist gearbeitet zu haben. Er legte hierzu eine Bescheinigung der Staatlichen Agrarindustrie vom 05.08.1991 vor, in welcher eine allgemeine Arbeitszeit von 35 Jahren, 7 Monaten und 22 Tagen bestätigt wird. In der beglaubigten Übersetzung seines Arbeitsbuches werden Arbeitstage von 1956 bis 1991 in unterschiedlicher Höhe bescheinigt; von 1956 bis 1960 finden sich "angerechnete Arbeitstage pro Jahr" von 259 Tagen (1960) bis zu 887 Tagen (1958), wohingegen sich von 1961 bis 1991 die Spannbreite von 225 Tagen (1965) bis 363 (1974) bewegt. Ausgehend von diesen Angaben erstellte die Beklagte im Juni 1996, September 1998 und am 09.11.2000 Versicherungsverläufe für den Kläger, in denen insbesondere lediglich glaubhaft gemachte Zeiten von 1961 bis 1991 anerkannt werden. Hierbei lag der Beklagten 1998 eine Bescheinigung (ohne Datum) der Staatlichen Agrarbetriebe vor, in der für die Jahre 1964, 1965, 1968, 1969, 1972 und 1976 "erzielte Tagesleistungseinheiten" von 26 bis 55 bei der Heubeschaffung bestätigt werden.

Am 17.01.2002 beantragte der Kläger die Gewährung von Altersrente bei Schwerbehinderung. Mit Bescheid vom 24.04.2002 bewilligte die Beklagte dem Kläger die begehrte Rente. Dem Rentenbescheid war ein aktueller Versicherungsverlauf beigefügt, in dem nach dem FRG bewertete Zeiten für die Zeit von 1956 bis 1991 aufgeführt sind. Die Tätigkeit des Klägers ist danach entsprechend den Anlagen 13 und 14 zum FRG dem Bereich 22 "Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften" und der Qualifikationsgruppe 5 zugeordnet worden. Die Beklagte hat die rentenrechtlichen Zeiten des Klägers von 1961 bis 1991 lediglich als glaubhaft gemacht angesehen und dementsprechend die anzurechnenden Entgelte auf 5/6 gekürzt.

Der Kläger legte Widerspruch gegen den Rentenbescheid ein und macht geltend, in den Jahren 1966 bis 1970 und 1981 bis 1988 auch in der Winterperiode von November bis März als Kesselwärter und in den Jahren von 1970 bis 1980 in der gleichen Kolchose in der Wintersaison als Schlosser in der Landwirtschafts-Maschinenwerkstatt beschäftigt gewesen zu sein. Die Arbeitszeit habe 6 Tage mit 40 Stunden pro Woche betragen. In den Monaten April bis September habe er als Traktorist 7 Tage pro Woche an 10 bis 12 Stunden täglich gearbeitet. In den Jahren 1989 bis zu seiner Ausreise am 23.08.1991 habe er das ganze Jahr über in der Kolchose als Schmied gearbeitet.

Die Beklagte vertrat anschließend die Auffassung, dass über die strittigen Zeiten bereits mit bestandskräftigen Bescheiden vom 26.06.1996 und 22.09.1998 entschieden worden sei, weswegen insoweit lediglich ein Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) möglich sei. Nach entsprechendem Hinweis der Beklagten beantragte der Kläger daraufhin am 26.06.2002 die Neubewertung seiner nach dem FRG festgestellten Zeiten mit dem Ziel der Feststellung einer höheren Altersrente. Sein Bevollmächtigter beantragte daraufhin zusätzlich die Anerkennung einer Ersatzzeit für die Zeit von der Vollendung des 14. Lebensjahres bis Februar 1956 wegen Internierung bei Kommandanturaufsicht, die Anerkennung einer höheren Qualifikationsgruppe, die Neufeststellung unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage des Umfangs der Anrechnung von Kolchosmitgliedern sowie die Überprüfung der Anwendbarkeit der Entgeltpunktekürzung nach § 22 Abs. 4 FRG. Hinsichtlich der Anwendung von § 22 Abs. 4 FRG erklärte der Bevollmächtigte sich bereit, das Verfahren bis zur obergerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit dieser Vorschrift ruhen zu lassen.

Mit Bescheid vom 14.11.2002 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 22.09.1998 über den Umfang der Anerkennung von Zeiten nach dem FRG ab. Die Überprüfung des Bescheides habe ergeben, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Die Arbeitszeiten als Kolchosmitglied könnten lediglich in dem bisherigen Umfang zu 5/6 der angerechneten Arbeitszeiten anerkannt werden, da diese lediglich glaubhaft gemacht worden seien, § 22 Abs. 3 FRG. Die Kürzung der Entgeltpunkte um 1/6 sei darauf zurückzuführen, dass nach den statistischen Erhebungen die Beitragsdichte in den deutschen Rentenversicherungen bei 10 Monaten pro Jahr liege. Die hiermit ermittelten "Fehlzeiten" ergäben sich aus Zeiten einer Arbeitsunterbrechung infolge von Krankheit, Mutterschaft, unbezahlten Urlaubs, Streiks, Arbeitslosigkeit, Ableistung des Wehrdienstes, Rentenbezuges, beruflicher Fortbildung usw. Aufgrund der Rechtsprechung des BSG zu § 19 Abs. 2 FRG und § 3 Abs. 1 der Versicherungsunterlagenverordnung (welche analog zu § 22 Abs. 3 FRG und § 256 b Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) für die Zeit ab dem 01.01.1992 anzuwenden sei) seien Arbeitsbücher und Arbeitsbescheinigungen aller Art, die lediglich Angaben über Beginn und Ende einer Beschäftigung enthielten, ohne zweifelsfrei erkennen zu lassen, ob Unterbrechungstatbestände vorliegen, nur als Mittel der Glaubhaftmachung zu werten. Das vorliegende Arbeitsbuch enthalte keine Eintragungen; im Übrigen seien die Kolchosarbeitszeiten durchgehend berücksichtigt worden. Auch die Einstufung in die Qualifikationsgruppe 5 sei nicht zu beanstanden. Die weiteren Punkte der Widerspruchsbegründung würden noch zusätzlich erörtert. Anschließend anerkannte die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 21.11.2002 die Zeit vom 15.09.1953 bis zum 28.02.1956 als Ersatzzeit im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI, worauf sich für den Kläger eine Nachzahlung sowie ein höherer Rentenzahlbetrag ergab.

Gegen den Bescheid vom 14.11.2002 legte der Kläger Widerspruch ein. Seinen Widerspruch schränkte er in der Folge dahingehend ein, dass eine Anerkennung einer höheren Qualifikationsgruppe nicht mehr geltend gemacht werde. Nachdem hinsichtlich der Kommandanturzeit eine Anerkennung erfolgt sei und die streitige Anwendung von § 22 Abs. 4 FRG aus dem Verwaltungsverfahren ausgegliedert worden sei, gehe es nur noch um die Frage der Bewertung von Zeiten in den Jahren, in welchen mehr als 300 Arbeitstage in der Kolchose zurückgelegt worden seien. Hierzu legte der Kläger eine Informationsschrift der LVA Rheinprovinz vom 20.07.1998 vor. Danach seien wegen der besonderen arbeitsrechtlichen Situation von Kolchosmitgliedern grundsätzlich für das gesamte Kalenderjahr lediglich glaubhaft gemachte Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach dem FRG anzurechnen. Jedoch seien die bescheinigten tatsächlichen Arbeitstage dann von Bedeutung, wenn das für den Berechtigten wertmäßig (d. h. für die Ermittlung der Entgeltpunkte) günstiger sei als die durchgehende 5/6 Anrechnung. Dies sei der Fall, wenn mehr als 300 (ggf. hochgerechnete) Arbeitstage bescheinigt seien. Norm- oder Plantage seien nicht zu berücksichtigen.

Anschließend wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.07.2003 den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Sämtliche Zeiten von 1956 bis 1991 seien als Zeiten der Vollzeitbeschäftigung mit dem Arbeitszeitfaktor 1,0 berücksichtigt worden. Außerdem sei auch die in der übersandten Informationsschrift der LVA Rheinprovinz erwähnte ständige Rechtsprechung des BSG (BSG Urteile vom 31.03.1993 – 13 RJ 17/92 – und vom 30.10.1997 – 13 RJ 19/97 –) berücksichtigt worden, nach der die besondere arbeitsrechtliche Situation von Kolchosmitgliedern dadurch gekennzeichnet sei, dass diese in einem Mitgliedschaftsverhältnis zum Kolchos stünden. Aufgrund dieser Rechtsnormen hätten Kolchosmitglieder regelmäßig auch in den Zeiten, in denen die Arbeit geruht habe bzw. nur eingeschränkt Arbeit vorhanden gewesen sei, dem Weisungsrecht der Kolchosverwaltung unterlegen, so dass von einer durchgehenden Beschäftigung – auch in den Wintermonaten – selbst dann auszugehen sei, wenn zeitweise keine Arbeitsleistung vorgelegen habe. Auch für diese Zeiten erhielten die Kolchosmitglieder aber einen Grundlohn, von dem Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen gewesen seien. Zeiten der Mitgliedschaft in einer Kolchose seien für die Zeit ab dem 01.01.1965 als Beitragszeiten nach § 15 FRG bzw. für Zeiten davor als Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG für das gesamte Kalenderjahr anzurechnen, selbst wenn die Arbeit zeitweise geruht habe. Die Zeiten seien regelmäßig als glaubhaft gemachte Zeiten (5/6 Bewertung) anzurechnen, weil eine Unterbrechung der Lohnzahlung aus anderen Gründen möglich gewesen sei; so seien z. B. für Krankheitszeiten Sozialleistungen gezahlt worden. Die Bewertung der Zeiten, in denen die Arbeit geruht habe, richte sich nach der vorangegangenen tatsächlich ausgeübten Beschäftigung. Aus dem vorgelegten Arbeitsbuch des Kolchos könne entnommen werden, dass für die Zeiten von 1956 bis zum 23.08.1991 verschiedene Arten von Tätigkeiten verrichtet worden seien. Weiterhin könne dieser Übersicht die Anzahl der geleisteten Arbeitskrafttage pro Jahr entnommen werden. Diese Arbeitskrafttage oder auch Norm- oder Plantage seien jedoch keine echten Arbeitstage, so dass eine ungekürzte Anrechnung der Zeiten nicht möglich sei. Ein Nachweis der russischen Zeiten und damit eine ungekürzte Anrechnung (im Sinne einer 6/6-Anrechnung) der Zeiten sei nur möglich, wenn im Arbeitsbuch tatsächliche Arbeitstage bescheinigt wären. Norm- oder Plantage seien allerdings nicht für eine ungekürzte Anrechnung der Zeiten zu berücksichtigen. Desweiteren wäre eine Anerkennung der russischen Kolchos-Arbeitszeiten als nachgewiesene Zeiten auch möglich, wenn ergänzende Arbeitgeberbescheinigungen der Kolchose vorgelegt würden, aus denen detaillierte Angaben zu eventuellen Fehlzeiten hervorgingen. Das von der LVA Rheinprovinz befürwortete Verfahren beim Vorliegen von mehr als 300 bescheinigten Arbeitskrafttagen sei abzulehnen.

Der Kläger hat am 12.08.2003 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Im Klageverfahren legte der Kläger eine Rechtsauskunft des Instituts für Ostrecht München e. V. zum sowjetischen Kolchosrecht vom 19.05.2000 vor. Die Rechtsfrage lautete, ob die Anzahl der im Arbeitsbuch eines Kolchosmitglieds eingetragenen "tschelovekodnej" ("Mann-Arbeitstage") etwas über die Anzahl der kalendarischen Arbeitstage innerhalb eines Jahres aussage. Das Institut für Ostrecht München e. V. führt hierzu aus, dass die Bedeutung eines "Mann-Arbeitstages" weder in einer Rechtsvorschrift geregelt noch im kommentierenden Schrifttum zum Ausdruck gebracht werde. Zur Beantwortung der Frage könnten daher Schlüsse nur aus indirekten Hinweisen und dem allgemeinen Sprachgebrauch gezogen werden. Das Institut des Mann-Arbeitstages sei Mitte der 60er Jahr als neue Form der Bemessung der Arbeitszeit von Kolchosmitgliedern eingeführt worden und sei damit eine Alternative zu den sog. "Tagwerken" ("trudodni") gewesen. Mann-Arbeitstage seien insbesondere für die zeitliche Bemessung von Tätigkeiten mit "ständigem Charakter", bei denen der Lohn nicht nach anderen quantitativen Leistungskriterien bemessen werden konnte, zum Tragen gekommen. Daraus lasse sich schließen, dass die abgeleistete Zeit alleiniges Kriterium für die Bemessung des Mann-Arbeitstages gewesen sei. Möglicherweise hätten für die Anrechnung eines Mann-Arbeitstages volle acht Stunden abgearbeitet werden müssen, welche auch auf mehrere kalendarische Tage verteilt gewesen sein können. Das Minimum der zu leistenden Mann-Arbeitstage hätten die Kolchosen selbst für das jeweilige Jahr und die einzelnen Monate festgelegt, wobei unterschiedliche Anforderungen nach Alter, Gesundheitszustand und Geschlecht festgelegt werden konnten. Auch daraus, dass nach Praxisberichten die Anzahl der als Minimum festgelegten Mann-Arbeitstage zwischen 240 und 290 schwankte, lasse sich schließen, dass es sich um kalendarische Arbeitstage handelte. Die Tatsache, dass der Begriff Mann-Arbeitstag und "angetretener Arbeitstag" sowohl in den Arbeitsbüchern als auch im Schrifttum als Synonyme verwendet würden, spreche ebenfalls dafür, dass Mann-Arbeitstage im Grunde die tatsächlich abgeleisteten kalendarischen Arbeitstage seien, für deren Anrechnung lediglich das Maß der täglichen Soll-Arbeitszeit eine Rolle gespielt haben könne. Es werde daher aus Sicht des Instituts empfohlen, die im Arbeitsbuch eines Kolchosbauern eingetragenen Mann-Arbeitstage wie kalendarische Arbeitstage zu behandeln.

Mit Urteil vom 15.07.2004 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 14.11.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2003 verurteilt, die Bescheide vom 09.11.2000, 24.04.2002 und 21.11.2002 abzuändern und die Rente des Klägers unter entsprechend höherer Bewertung der Zeiten Januar 1961 bis August 1991, soweit die um die Sonntage erhöhten Angaben im Arbeitsbuch eine höhere Zahl als 300 ergeben, neu festzustellen. Die durch die Beklagte erfolgte Kürzung der Entgeltpunkte nach § 22 Abs. 3 FRG um 1/6 sei insoweit rechtswidrig, als für den Zeitraum Januar 1961 bis August 1991 – unter Berücksichtigung der Erhöhung um die Sonntage – mehr als 300 Arbeitstage im Arbeitsbuch bescheinigt seien. Die Zahl der im Arbeitsbuch bescheinigten angerechneten (1956 bis 1960) bzw. abgearbeiteten (1961 bis 1991) Arbeitstage schwanke zwischen 225 und 363. Die Kammer sei davon überzeugt, dass diese Zahlen die tatsächlich gearbeiteten Kalendertage pro Jahr belegten, wobei das Gericht dem Informationsschreiben der LVA Rheinprovinz vom 20.07.1998 sowie der Rechtsauskunft des Instituts für Ostrecht München e. V. vom 19.05.2000 folge. Diese Beurteilung werde nicht durch die von der Beklagten vorgelegte Übersetzung der Definition der Arbeitstage bzw. Arbeitskrafttage widerlegt. Die Definition des Begriffs allein sage zudem noch nichts über die Frage der Beitragszahlung aus. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 28.07.2004 zugestellt.

Am 24.08.2004 hat die Beklagte beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Entgegen der Auffassung des SG handelt es sich bei den im Arbeitsbuch benannten "Arbeitskrafttagen" lediglich um Arbeitsnormen. Die Erkenntnisse des Übersetzungsdienstes der Beklagten hätten - insbesondere unter Berücksichtigung des sowjetischen enzyklopädischen Wörterbuchs - ergeben, dass ein Arbeitskrafttag eine Abrechnungseinheit sei, in der u. a. auch Abwesenheitszeiten aus verschiedenen Gründen berücksichtigt würden. Diese Definition sei die einzige bislang objektiv belegte Umschreibung des umstrittenen Begriffs. Der Beklagten sei zum Beispiel ein Fall bekannt, in dem eine größere Anzahl von Arbeitskrafttagen, als das Kalenderjahr nach Abzug eines eingetragenen Erziehungsurlaubs umfasse, bestätigt werde, wozu sie die Kopie eines Arbeitsbuches vorgelegt hat. Die Unmöglichkeit der Hochrechnung um Sonntage ergebe sich im Falle des Klägers auch daraus, dass in seinem Arbeitsbuch für das Jahr 1974 bereits 363 Arbeitskrafttage als Arbeitstage eingetragen worden seien. Dies könne einerseits so interpretiert werden, dass in die Angaben im Arbeitsbuch die Sonntage bereits einbezogen worden seien; dann wäre eine Erhöhung unzulässig. Eine andere Möglichkeit, welche der Auffassung der Beklagten entspreche, sei die, dass es sich bei den Angaben eben nicht um Arbeitstage handele. Auch angesichts der jüngsten Stellungnahme des Instituts für Ostrecht sei zu fordern, dass ein dem Versicherten für die Anerkennung von Beitragszeiten konkret zuzuordnender individueller Beitrag vorliege.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 15.07.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil des SG für zutreffend. Die Beklagte sei nicht in der Lage, die Rechtsprechung des BSG zu Kolchosmitgliedern umzusetzen. Der Hinweis der Beklagten auf vereinzelte Arbeitsbücher mit nichterklärlichen Eintragungen könne angesichts von Hunderttausenden von Arbeitsbüchern keinen Beweiswert haben, da nicht ausgeschlossen sei, dass hier Schreibfehler vorlägen.

Im Berufungsverfahren hat der Klägerbevollmächtigte eine aktuelle Information der LVA Rheinprovinz zu der streitigen Rechtsfrage vom 04.03.2004 vorgelegt. Die Beklagte hat weitere Rechtsauskünfte des Instituts für Ostrecht München e. V. zum sowjetischen Kolchosrecht vom 13.09.2004, 24.02.2005. 17.03.2005 und 18.04.2005 vorgelegt. Schließlich hat der Klägerbevollmächtigte eine weitere Auskunft dieses Instituts vom 26.01.2006 vorgelegt, welche auf Anforderung des Sozialgerichts Dortmund erstellt worden ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist lediglich zum Teil begründet. Der Senat konnte nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind zum größten Teil rechtswidrig. Die Beklagte hat es für den Zeitraum von 1964 bis 1991 zu Unrecht abgelehnt, die maßgeblichen Rentenbescheide im streitbefangenen Umfang dadurch abzuändern, dass die strittigen Zeiten als nachgewiesene Beitragszeiten rentensteigernd berücksichtigt werden.

Der Kläger gehört als Inhaber des Vertriebenenausweises B nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) als Aussiedler gemäß § 1 Buchst. a FRG zum nach dem FRG berechtigten Personenkreis.

Das FRG ist vorliegend uneingeschränkt in der zum Zeitpunkt der ersten Rentenzahlung geltenden Fassung anzuwenden, weil ein Anspruch auf Zahlung von Rente erstmalig nach dem 31.12.1995 bestanden hat. Das FRG wurde durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 18.12.1989 (BGBl I, 2261) und das Rentenüberleitungsgesetz vom 25.07.1991 (BGBl I, 1606 (RÜG)) sowie durch Art. 3 des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG -) vom 25.09.1996 (BGBl I 1461, 1471) erheblich geändert und ergänzt. Spezielle Übergangsvorschriften für die jeweiligen Fassungen sind in den §§ 4 - 6 des Art. 6 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) enthalten. Nach Art. 6 § 4 Abs. 3 FANG gelten diese besonderen Übergangsregelungen jedoch nur für einen Anspruch auf Rente vor dem 01.01.1996 anstelle des § 22 Abs. 1 FRG.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG in der seit dem 01.01.1992 geltenden Fassung stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Sind die Beiträge auf Grund einer abhängigen Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit entrichtet, so steht die ihnen zugrunde liegende Beschäftigung oder Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Geltungsbereich dieses Gesetzes gleich, § 15 Abs. 1 Satz 2 FRG. Als gesetzliche Rentenversicherung im Sinne des Absatzes 1 ist jedes System der sozialen Sicherheit anzusehen, in das in abhängiger Beschäftigung stehende Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen sind, um sie und ihre Hinterbliebenen für den Fall der Minderung der Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes oder für einen oder mehrere dieser Fälle durch die Gewährung regelmäßig wiederkehrender Geldleistungen (Renten) zu sichern, § 15 Abs. 2 FRG.

§ 16 Abs. 1 Satz 1 FRG in seiner seit dem 01.01.1997 geltenden Fassung sieht vor, dass eine nach vollendetem 17. Lebensjahr vor der Vertreibung in Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien, China, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion verrichtete Beschäftigung, soweit sie nicht in Gebieten zurückgelegt wurde, in denen zu dieser Zeit die Sozialversicherung nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze durchgeführt wurde, einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, für die Beiträge entrichtet sind, gleichsteht, wenn sie nicht mit einer Beitragszeit zusammenfällt. Dies gilt nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift nur, wenn die Beschäftigung nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht Versicherungspflicht in den gesetzlichen Rentenversicherungen begründet hätte, wenn sie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verrichtet worden wäre; dabei sind Vorschriften über die Beschränkung der Versicherungspflicht nach der Stellung des Beschäftigten im knappschaftlichen Betrieb, nach der Höhe des Arbeitsverdienstes, wegen der Gewährleistung von Versorgungsanwartschaften oder wegen der Eigenschaft als Beamter oder Soldat nicht anzuwenden.

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 FRG werden für Zeiten der in § 15 und § 16 FRG genannten Art Entgeltpunkte in Anwendung von § 256 b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31.12.1949 die in Anlage 14 des SGB VI genannten oder nach § 256 b Abs. 1 Satz 2 des SGB VI festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 01.01.1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt, § 22 Abs. 1 Satz 2 FRG.

Nach § 22 Abs. 3 FRG werden die ermittelten Entgeltpunkte für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, um ein Sechstel gekürzt.

Vorliegend sind die Voraussetzungen für die Anrechnung nachgewiesener Beitragszeiten - also ohne eine Kürzung nach § 22 Abs. 3 FRG - für die streitige Zeit von 1964 bis 1991, in denen die um die Sonntage erhöhten Angaben im Arbeitsbuch eine höhere Zahl als 300 ergeben, erfüllt.

Zwar verbleiben im Sinne des Vortrags der Beklagten auch beim Senat Zweifel, ob aus den bescheinigten Arbeitstagen bzw. Mann-Arbeitstagen tatsächlich auf eine durchgehende Beschäftigung ohne wesentliche Unterbrechungen ausgegangen werden kann, wenn die um die Sonntage erhöhten Angaben im Arbeitsbuch eine höhere Zahl als 300 ergeben. Denn der Kläger selbst hat in seiner Widerspruchsbegründung vom 06.05.2002 angegeben, er habe in der Zeit von 1970 bis 1980 - mit Ausnahme der Zeit von April bis September - eine regelmäßige Arbeitszeit von 6 Wochenarbeitstagen gehabt. Hiermit ließen sich aber die etwa in den Jahren 1974 und 1975 bescheinigten Arbeitstage (363 bzw. 345 (Mann-)Arbeitstage) nicht erreichen. Die von der Beklagten geäußerten Zweifel hinsichtlich der Durchgängigkeit der ausgeübten Beschäftigung werden durch diese Erwägung verstärkt, so dass es insoweit bei einer Entscheidung nach der bei dem Kläger liegenden Feststellungslast dabei verbleiben müsste, dass die streitbefangenen Zeiten nur als glaubhaft gemacht angesehen werden können.

Die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitstage im Sinne von Kalender-Arbeitstagen ist jedoch, worauf das SG zutreffend hinweist, allenfalls ein Indiz für die maßgebliche Frage, ob aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses in dem Kolchos des Klägers eine durchgängige Beitragsleistung vorlag. Denn nach der Auskunft des Instituts für Ostrecht vom 26.01.2006 sind seit 1965 (rückwirkend ab 1964) für Kolchosmitglieder in der UdSSR Beiträge durchgehend erbracht worden. Die Beitragspflicht der Kolchosen zum Zentralfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern bestand danach seit dem 01.01.1965 rückwirkend für das Jahr 1964. Mit Sicherheit sei davon auszugehen, dass ab diesem Zeitpunkt alleine aufgrund der Mitgliedschaft in dem Kolchos auch Rentenversicherungsbeiträge entrichtet worden seien. Im Falle einer mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Arbeitsunfähigkeit sei die Mitgliedschaft in dem Kolchos nicht unterbrochen worden; die Beiträge zur Rentenversicherung seien zudem unabhängig von etwaigen Krankheitszeiten der einzelnen Kolchosmitglieder abgeführt worden. Die Höhe des vierteljährlich von den Kolchosen zu entrichtenden Rentenversicherungsbeitrages habe sich allein nach dem erwirtschafteten Bruttoertrag des Kolchos und nicht nach der Nichterfüllung oder der Übererfüllung der Arbeitsnormen des Kolchos gerichtet. Die Zahl der geleisteten Mann-Arbeitstage habe keine Bedeutung für die Beitragszahlung an sich noch für deren Höhe gehabt.

Nach der Auskunft des Instituts für Ostrecht von 26.01.2006 knüpfte die Beitragsentrichtung grundsätzlich an die bloße Mitgliedschaft in dem Kolchos, nicht aber an die tatsächliche Arbeitsleistung und somit an die Zahl der Tage, an denen gearbeitet wurde, an. Es kam so gesehen nicht darauf an, ob die Mitglieder des Kolchos an jedem Tag gearbeitet oder bestimmte Normen erfüllt haben.

Das BSG hat im Übrigen bereits darauf hingewiesen, dass für Beitrags- und Beschäftigungszeiten der Mitgliedschaft in einem Kolchos in der früheren UdSSR (Urteil vom 30.10.1997 - 13 RJ 19/97-) ein solches Beschäftigungsverhältnis grundsätzlich die Verfügungsmacht (das Direktionsrecht, die Weisungsbefugnis) des Arbeitgebers voraussetzte, die sich insbesondere in der Eingliederung des Arbeitnehmers in den Betrieb äußere, und ferner die Dienstbereitschaft des Arbeitnehmers und die Entgeltlichkeit der Arbeit. Ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis habe vorgelegen, weil die dortige Klägerin in den umstrittenen Zeiträumen Mitglied der Kolchose gewesen sei und diese zur Arbeitsleistung zur Verfügung gestanden habe, wobei Art und Umfang nach der Jahreszeit differiert habe, die Verpflichtung, zur Arbeitsleistung zur Verfügung zu stehen, aber nicht durch den Umfang der zu leistenden Arbeit beschränkt worden sei. Für Tätigkeiten im Kolchos hat das BSG erwogen, dass der Betroffene allein aufgrund der Mitgliedschaft im Kolchos als abhängig beschäftigt angesehen werden kann (vgl. Urteil vom 31.03.1993 - 13 RJ 17/92 -). Denn auch in Zeiten, in denen nicht gearbeitet werde, zum Beispiel an bestimmten Tagen im Winter, bestand demnach ein Weisungsrecht des Kolchos (vgl. dementsprechend - für Beitrags- und Beschäftigungszeiten in einer rumänischen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) - Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 24.10.2003 - L 8 R 500/02 -).

Sofern die Beklagte nach Kenntnis der Stellungnahme des Instituts für Ostrecht vom 26.01.2006 vorträgt, dass für die Anerkennung von nachgewiesenen Beitragszeiten nach den §§ 15 und 22 FRG weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssten, vermag dies nicht zu überzeugen. Insofern ist auf das Urteil des BSG vom 08.09.2005 (- B 13 RJ 44/04 R -) zu verweisen. Danach sind bei Nachweis der ununterbrochenen Beitragsentrichtung die Beitragszeiten nicht auf 5/6 gemäß § 19 Abs. 2 FRG a.F. zu kürzen, wenn es sich bei den von einer LPG in Rumänien pauschal für die Gesamtheit ihrer Mitglieder abgeführten Rentenbeiträgen um solche der gesetzlichen Rentenversicherung handelt und für eine Versicherte eine volle Beitragsleistung der LPG erfolgt ist. Im Zusammenhang mit der Auskunft des Instituts für Ostrecht vom 26.01.2006 sind diese Voraussetzungen auch für die Zugehörigkeit des Klägers zu seinem Kolchos als erfüllt anzusehen, weswegen eine Kürzung der Anerkennung der Zeiten auf 5/6 auch im Falle des Klägers nicht in Betracht kommt. Die Erwägungen in diesem Urteil sind auf den Fall des Klägers übertragbar, weil der von rumänischen LPG für ihre Beschäftigten entrichtete Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag sich - wie bei Kolchosen in der UdSSR - allein nach dem Bruttowert der jährlichen Gesamtproduktion der LPG richtete (vgl. BSG a.a.O.). Nachdem die ununterbrochene Beitragsleistung für den Kläger nachgewiesen ist, ist es im Sinne dieser Rechtsprechung nicht mehr zulässig, entsprechend den Ausführungen der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 12.06.2006 einen dem Versicherten konkret zuzuordnenden, individuellen Beitrag zu fordern. Dieser Einwand könnte allenfalls tragen, wenn konkret ersichtlich wäre, dass der Versicherte weniger als die Durchschnittsleistung in seinem Kolchos erbracht hat. Aus den Unterlagen des Klägers lässt sich jedoch entnehmen, dass die zeitliche Arbeitsleistung des Klägers für seinen Kolchos umfassend war und seine ganze Arbeitskraft in Anspruch nahm (vgl. auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 06.04.2006 - L 6 R 3053/06 -).

Die Beklagte hat indes mit ihrer Berufung insoweit Erfolg, als für die Zeit vor der Einführung der Sozialversicherung von Kolchosmitgliedern, also vor dem 01.01.1964, eine Beitragszeit nach § 15 FRG nicht als nachgewiesen angesehen werden kann. Insofern kann auch die Beschäftigungszeit (§ 16 FRG) nur als glaubhaft gemacht anerkannt werden, weil hinsichtlich der Bewertung der aufgeführten (Mann-)Arbeitstage bzw. Arbeitskrafttage im Sinne des anderweitigen Vortrags der Beklagten erhebliche Restzweifel bleiben, was die fehlenden Unterbrechungen dieser Zeiten betrifft. Das Urteil des SG war daher in diesem Umfang abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den ganz überwiegenden Erfolg des Klägers im Berufungsverfahren.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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