L 5 AL 3941/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AL 1760/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 AL 3941/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 9. September 2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 18. Dezember 2001 zurücknehmen muss.

Der 1943 geborene, verheiratete Kläger meldete sich am 24. Juni 1999 während des Bezugs von Krankengeld arbeitslos und beantragte Leistungen. Im Antragsvordruck trug der Antragsannehmer der Beklagten in grüner Schrift ein, dass zu Jahresbeginn auf der Lohnsteuerkarte des Klägers die Lohnsteuerklasse III eingetragen sei. Der Kläger übersandte der Beklagten im August 1999 die Kopie einer Ersatzlohnsteuerkarte für das Jahr 1999, auf der die Steuerklasse III eingetragen war. Bei der Antragstellung bestätigte der Kläger, von dem Merkblatt für Arbeitslose Kenntnis genommen zu haben. In diesem heißt es: "Ein Lohnsteuerklassenwechsel kann in der Regel nur einmal jährlich vorgenommen werden. Bitte holen Sie deshalb vorher Rat ein."

Die Beklagte bewilligte dem Kläger nach dem Ende des Bezuges von Krankengeld ab 20. August 1999 Arbeitslosengeld in Höhe von DM 429,45 wöchentlich (Bemessungsentgelt DM 1.000,00; Leistungssatz 60%; Leistungsgruppe C; Kindermerkmal 0; Leistungstabelle 1999; Bescheid vom 31. August 1999). Der wöchentliche Leistungssatz betrug ab 1. Januar 2000 nach Anpassung an die Leistungsentgeltverordnung 2000 DM 437,71 wöchentlich (Bescheid vom 17. Januar 2000), ab 1. Juli 2000 nach Dynamisierung des Bemessungsentgelts auf DM 1.110,00 DM 469,70 (Bescheid vom 26. Juli 2000), ab 1. Januar 2001 nach Anpassung an die Leistungsentgeltverordnung 2001 DM 481,04 (Bescheid vom 15. Januar 2001), ab 20. August 2001 nach Dynamisierung des Bemessungsentgelts auf DM 1.130,00 DM 486,71 (Bescheid vom 28. August 2001). Arbeitslosengeld wurde bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 7. Oktober 2001 gezahlt.

Im Antragsvordruck auf Arbeitslosenhilfe, den der Kläger am 11. Oktober 2001 stellte, trug der Antragsannehmer der Beklagten in grüner Schrift ein, dass die zu Jahresbeginn auf der Lohnsteuerkarte des Klägers eingetragene Lohnsteuerklasse die V sei. Nach Anhörung des Klägers (Schreiben vom 6. November 2001, vgl. Bl. 73 der Verwaltungsakte), auf die der Kläger zunächst nicht reagierte, hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld mit Wirkung ab 1. Januar 2000 teilweise auf und verlangte die Erstattung eines Betrages in Höhe von DM 17.587,95. Auf Grund eines Steuerklassenwechsels habe dem Kläger die Leistung nach der Leistungsgruppe D (statt nach der Leistungsgruppe C) vom 1. Januar 2000 bis 19. August 2000 in Höhe von DM 257,11 (statt DM 437,71), vom 20. August 2000 bis 31. Dezember 2000 in Höhe von DM 273,28 (statt DM 469,70), vom 1. Januar 2001 bis 19. August 2001 in Höhe von DM 285,46 (statt DM 481,04) und vom 20. August 2001 bis 7. Oktober 2001 in Höhe von DM 288,40 (statt DM 486,41) zugestanden. Der Kläger habe den Wechsel der Lohnsteuerklasse nicht rechtzeitig mitgeteilt (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 18. Dezember 2001).

Tatsächlich hatte der Kläger seine Lohnsteuerklasse am 16.09.1999 zum 01.10.1999 von der Lohnsteuerklasse III zur Lohnsteuerklasse V ändern lassen (vgl. Bescheinigung der Stadt E. vom 27.08.2002, Bl. 168b der Verwaltungsakte). Die Beklagte hat für den Zeitraum vom 01.10.1999 bis 31.12.1999 keine Aufhebungsentscheidung getroffen.

Den Widerspruch des Klägers, der erklärte, er wisse nicht, was er falsch gemacht habe, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. März 2002 zurück. Seit dem Wechsel der Steuerklassen mit Wirkung vom 1. Januar 2000 - dass der Wechsel zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt sei, habe der Kläger nicht geltend gemacht - habe der Kläger die Steuerklasse V, was zu einer geringeren Leistung führe, weil ab dem 1. Januar 2000 die Leistungsgruppe D zugrunde zu legen sei. Eine Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen habe der Kläger entgegen seiner Verpflichtung nicht unverzüglich, sondern erst am 11. Oktober 2001 in seinem Antrag auf Arbeitslosenhilfe mitgeteilt. Im Merkblatt, dessen Erhalt und Kenntnisnahme der Kläger mit seiner Unterschrift im Antragsformular bestätigt habe, stehe, dass jede Änderung der Steuerklasse unverzüglich mitzuteilen sei. Die gegen den Widerspruchsbescheid erhobene Klage unter dem Aktenzeichen S 7 AL 1447/02 wies das Sozialgericht Freiburg (SG) mit Gerichtsbescheid vom 6. Mai 2003 als unzulässig ab, weil der Kläger die Klagefrist versäumt hatte. Die Berufung des Klägers wies der erkennende Senat mit Urteil vom 24. September 2003 unter dem Aktenzeichen L 5 AL 2036/03 zurück.

Der Kläger beantragte am 9. Mai 2003, den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 18. Dezember 2001 zurückzunehmen. Denn das SG hatte im Gerichtsbescheid unter Verweis auf die Entscheidung des BSG vom 29. August 2002 (B 11 AL 87/01 R) ausgeführt, dass es - außerhalb des Verfahrens, weshalb die Ausführungen für die Entscheidung rechtlich ohne Bedeutung seien - dem Kläger rate, bei der Beklagten einen Antrag auf Rücknahme des Bescheides vom 18. Dezember 2001 zu stellen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Mai 2003 und auf Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2003 ab. Zur Begründung hieß es, weder habe der Kläger etwas genannt, was für die Unrichtigkeit der Entscheidung sprechen könne, noch ergäben sich neue Erkenntnisse, die dafür sprächen, dass die Entscheidung falsch sei. Daher habe sie eine sachliche Prüfung des Bescheides vom 18. Dezember 2001 ablehnen dürfen.

Dagegen hat der Kläger am 20. Juni 2003 Klage zum SG Freiburg erhoben. Das SG hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 9. September 2003 unter dem Aktenzeichen S 7 AL 1760/03 stattgegeben und entschieden, dass der Bescheid vom 19. Mai 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 2003 aufgehoben werde und die Beklagte verpflichtet ist, den Bescheid vom 18. Dezember 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. März 2002 zurückzunehmen. Zur Begründung hat sich das SG im wesentlichen auf die Entscheidung des BSG vom 29. August 2002 (B 11 AL 87/01 R) bezogen.

Gegen den ihr am 11. September 2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 9. Oktober 2003 beim Landessozialgericht Berufung unter dem Aktenzeichen L 5 AL 4050/03 eingelegt. Eine Änderung der getroffenen Entscheidung über § 44 SGB X sei wegen § 330 Abs. 1 SGB III ausgeschlossen. Im Merkblatt sei der vom BSG in seinem Urteil vom 29. August 2002 verlangte Hinweis darauf, vor einem Lohnsteuerklassewechsel vorher Rat einzuholen, enthalten. Das LSG Niedersachsen-Bremen habe mit Urteil vom 26. Februar 2003 - L 7 AL 523/01 - (mittlerweile aufgehoben durch Urteil des BSG vom 1. April 2004 - B 7 AL 36/03) die Rechtsauffassung der Beklagten bestätigt. Im Hinblick auf weitere anhängige Revisionsverfahren ist das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden (Beschluss vom 23. Dezember 2003). Nach Vorliegen der Entscheidungen des BSG vom 1. April 2004 hat die Beklagte das ruhende Verfahren am 10. September 2004 (nunmehr als L 5 AL 3941/04) wieder angerufen und an ihrer Auffassung fest gehalten, die Rücknahme nach § 44 SGB X scheitere an § 330 Abs. 1 SGB III.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 9. September 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen

Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Die Beklagte handele willkürlich.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids vom 18. Dezember 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. März 2002. Der angefochtene Gerichtsbescheid kann daher keinen Bestand haben.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X umfasst dabei über seinen eigentlichen Wortlaut hinaus auch diejenigen Fälle, in denen die Rücknahme eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids begehrt wird (vgl. BSG, Urteil vom 20.06.2002, B 7 AL 108/01 R; Urteil vom 16.09.1999, B 7 AL 80/98 R). Sozialleistungen werden auch dann im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht erbracht, wenn - wie hier - eine überzahlte Leistung zurückgefordert wird (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 44 Nr. 21; v. Wulffen/Wiesner, SGB X, § 44, Rdnr. 2).

Ob die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vorliegen, insbesondere ob unter Zugrundelegung der Maßstäbe des 11. Senats des BSG in seinem Urteil vom 29.08.2002 - B 11 AL 87/01 R, und den Entscheidungen des 7. Senats vom 01.04.2004, B 7 AL 36/03 R, B 7 AL 14/04 R und B 7 AL 52/03 R gegenüber dem Kläger der Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit als Voraussetzung für die Aufhebung einer Bewilligungsentscheidung gemacht werden kann, weil er einen steuerrechtlich sinnvollen Lohnsteuerklassenwechsel hat durchführen wollen, braucht hier nicht entschieden zu werden. Denn für die Entscheidung des Rechtsstreits ist dies nicht entscheidungserheblich.

Die Anwendung von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist vorliegend durch § 330 Abs. 1 SGB III ausgeschlossen. Liegen die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes in ständiger Rechtsprechung anders als durch das Arbeitsamt ausgelegt worden ist, so ist der Verwaltungsakt nach § 330 Abs. 1 SGB III nur mit Wirkung für die Zeit nach dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. § 330 Abs. 1 SGB III modifiziert also für den Bereich des Arbeitsförderungsrechts nach dem SGB III die allgemeine Regelung des § 44 Abs. 1 SGB X dahingehend, dass sie erst ab Entstehen einer neuen ständigen Rechtsprechung zur Anwendung kommt.

Der Aufhebungsbescheid vom 18.12.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.03.2002 liegt zeitlich vor der erstmals mit Urteil vom 29.08.2002 geänderten Rechtsprechung des BSG, so dass eine Rücknahme nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gemäß § 330 Abs. 1 SGB III nicht erfolgen darf.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht. § 330 Abs. 1 SGB III trifft eine Regelung für den Fall, dass sich die Verwaltungsentscheidung nachträglich als rechtswidrig erweist, weil die Auslegung der zugrunde liegenden Norm erst lange Zeit nach ihrem Erlass vom zuständigen obersten Bundesgericht anders vorgenommen wird als in der Zeit zuvor vom Arbeitsamt. In diesem Fall besteht ein Konflikt zwischen der Einzelfallgerechtigkeit, die die Aufhebung des als rechtswidrig erkannten Verwaltungsaktes erfordert, und der Rechtssicherheit, die für den Fortbestand der Entscheidung spricht. Zwischen dem Ziel der Einzelfallgerechtigkeit und dem der Rechtsicherheit musste sich der Gesetzgeber entscheiden. Grundsätzlich gibt er dabei mit § 44 Abs. 1 SGB X im Sozialrecht der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang. Wegen der damit verbundenen möglicherweise sehr hohen finanziellen Belastungen, denen er nur für zukünftige Fälle durch eine zügige Novellierung des Gesetzes begegnen kann, hat er für den Fall einer abweichenden Rechtsprechung in § 330 Abs. 1 SGB X dem Grundsatz der Rechtssicherheit bezüglich bestandkräftiger Altentscheidungen den Vorzug gegeben.

Die selbe Problematik stellt sich bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen Gesetze für verfassungswidrig erklärt werden. Für diese Fälle bestimmt § 79 Abs. 2 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), dass die nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsentscheidungen, die auf einer gem. § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben. Die Rechtsprechung des BVerfG hat diese Norm akzeptiert (vgl. dazu mit eingehender Darstellung der Rechtslage BSG Urt. v. 22.06.2005 - B 6 KA 21/04 R m.w.N.). Wenn der Gesetzgeber aber nach der Rechtsprechung des BVerfG regelmäßig nicht gehalten ist, rückwirkende Korrekturen verfassungswidriger Vorschriften auch denjenigen zugute kommen zu lassen, die ihre Rechte nicht durch Rechtsmittel gewahrt und für sie nachteilige Veraltungsentscheidungen haben bestandkräftig werden lassen, kann für den weniger schwerwiegenden Fall, den § 330 Abs. 1 SGB III regelt, nämlich den einer abweichenden Auslegung bei unverändertem Gesetzestext, nichts anderes gelten.

Nach alledem war der angefochtene Gerichtsbescheid aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht. Die Zulassung der Revision scheidet aus, wenn der Wortlaut der angewandten Norm - wie hier - eindeutig ist und keiner Auslegung bedarf. Die aus dem Zielkonflikt zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit sich ergebende Problematik ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt.
Rechtskraft
Aus
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