L 12 AS 3066/06 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 2527/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 3066/06 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 12.05.2006 in der Gestalt des Teilabhilfebeschlusses vom 29.05.2006 und des Beschlusses vom 13.06.2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Ast. begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsmittels gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wegen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende sowie die Verpflichtung zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege der einstweiligen Anordnung.

Die Ast. und ihre 1997 geborene Tochter bezogen auf Grund des Bescheids vom 12.5.2005 Leistung nach SGB II. Hierbei wurden ein Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit in Höhe von monatlich 544,66 EUR angerechnet. Im September 2005 teilte die Ast. der Ag die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit ab 1.7.2005 mit. Wegen der Anlaufschwierigkeiten rechne sie aber erst im September mit Einnahmen.

Nach Vorlage der Einkommenserklärung durch die Ast. hob die Ag. die Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Bescheid vom 23.11.2005 mit Wirkung vom 1.9.2006 auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Hilfebedürftigkeit sei wegen der zusätzlichen Einnahmen aus der selbstständigen Tätigkeit weggefallen. Die Erstattung der in diesem Zeitraum gezahlten Leistungen in Höhe von 792,66 EUR wurde nach § 40 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 50 SGB X geltend gemacht.

Im Widerspruchsverfahren trug die Ast. vor, ihre Einkünfte unterlägen starken Schwankungen. Nach Vorlage diverser Unterlagen errechnete die Ag. für den Monat September einen Überschuss von 2117,03 EUR , für Oktober von 1654,82 EUR, für November 329,66 EUR und für Dezember von 1236,29 EUR.

Mit Widerspruchsbescheid vom 2.3.2006 wurde der eingelegte Widerspruch zurückgewiesen. Nach Auffassung der Ag. würde das zu berücksichtigende Einkommen aus der selbstständigen und nichtselbständigen Erwerbstätigkeit den Gesamtbedarf für die Ast. und deren Tochter übersteigen.

Mit Bescheid vom 13.3.2006 wurde der Antrag auf weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wegen fehlender Hilfebedürftigkeit abgelehnt.

Am 15.3.2006 beantragte die Ast. beim SG Freiburg einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel die Ag. ab 1.11.2005 zur Bezahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Anrechnung des Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit zu verpflichten. Bzgl. ihrer am 20.3.2006 gegen den Bescheid vom 23.11.2005 erhobenen Klage beantragte sie die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Sie trägt im wesentlichen vor, die Höhe der Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit könnten erst nach Ablauf eines Jahres beurteilt werden.

Mit Beschluss vom 12.5.2006 ordnete das SG Freiburg die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 23.11.2005 an und verpflichtete die Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung der Ast. und ihrer Tochter vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Berücksichtigung des Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit ab 1.11.2005 bis längstens 15.9.2006 zu gewähren. Das Gericht begründete seine Entscheidung im wesentlichen damit, dass die Entscheidungen wahrscheinlich deswegen rechtswidrig seien, weil die zugrunde liegenden Berechnungen nicht der ab 1.10.2005 geltenden Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) entsprächen. Nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Alg II-V sei das Einkommen aus selbständiger Tätigkeit für das Kalenderjahr zu berechnen, in dem der Bedarfszeitraum liege, und bei jedem Monat für den Bedarf bestehe sei ein Zwölftel des Einkommens zu berücksichtigen. Die Einkommensberechnung sei ab September 2005 aller Wahrscheinlichkeit unrichtig vorgenommen worden, da nicht von einem Durchschnittswert ausgegangen worden sei, sondern das Einkommen eines jeden Monats gesondert berücksichtigt worden sei. Die Ag. hätte der Ast. bis zum Vorliegen der genauen Zahlen des Gesamteinkommens während des Bedarfszeitraums vorläufige Leistungen gewähren müssen. Den Anordnungsgrund sah das Gericht in dem existenzsichernden Charakter der beantragten Sozialleistung sowie im Glaubhaftmachen der Gefährdung des Lebensunterhalts der Ast. und wegen einer drohenden Räumungsklage auch der Unterkunft. Aus diesem Grunde hielt das SG den einstweiligen Rechtsschutz auch für die Vergangenheit für geboten.

Gegen diesen Beschluss legte die Ag. Beschwerde ein mit der Begründung, nach der Übergangsregelung des § 6 Alg II-V sei die monatsbezogene Berechnung des Einkommens bei Selbstständigen in der bis 30.9.2006 geltenden Fassung für Bewilligungszeiträume weiter anzuwenden, die vor dem 1.10.2005 begonnen hätten. Die Ast. sei auch nicht hilfebedürftig. Sie beschäftige 3 Arbeitnehmer und sei diesen gegenüber zur Zahlung von rund 3400 EUR monatlich verpflichtet. Es könne nicht richtig sein, dass die Ast. Lohnarbeiten, die sie selbst ausführen könne an Dritte vergebe und durch die entstehenden Betriebskosten Hilfebedürftigkeit herbeiführe. Dies widerspreche § 2 Abs. 1 SGB II, wonach der Hilfebedürftige alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit ergreifen müsse.

Mit inhaltsgleichen Beschlüssen vom 29.05.2006 und vom 13.06.2006 half das SG der Beschwerde insoweit ab, als die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wiederhergestellt und die Verpflichtung der Ag. zur Nichtberücksichtigung des Einkommens aus selbstständiger Tätig bei der Berechung der Regelleistung und des Mehrbedarfs aufgehoben wurde.

Gegen diese Entscheidung legte die Ast. Beschwerde ein. Sie könne in ihrer Firma nicht mehr mitarbeiten, da sie gesundheitlich eingeschränkt sei und die Bürotätigkeiten erledigen müsse.

Das SG hat der Beschwerde mit Beschluss vom 13.06.2006 nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Die Ag. hat ihre Beschwerde, soweit ihr nicht abgeholfen worden ist, zurückgenommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). Ein solcher Fall ist hier aber nur teilweise gegeben. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Da Widerspruch und Klage nur aufschiebende Wirkung besitzen können, wenn Entscheidungen der Leistungsträger mit einem bloßen Anfechtungsbegehren angegangen werden, kommen lediglich Aufhebungsentscheidungen nach den §§ 45ff SGB X i.V.m. § 40 SGB II und Entscheidungen über die Absenkung und den Wegfall von bereits bewilligtem Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld gemäß den §§ 31, 32 SGB II in Betracht (Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39 RdNr. 12).

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs aufgrund von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen. Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt. Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung kann aber im Einzelfall auch zu Gunsten des Betroffenen ausfallen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustands geht, nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928).

Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG NJW 2003, 1236, 1237). Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinen Begehren verfolgt Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005 a.a.A.).

Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG NJW 2003 a.a.A.). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache vermeiden, indem sie zum Beispiel Leistungen nur mit einem Abschlag zusprechen (vgl. BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005 a.a.A.).

Unter Beachtung dieser Kriterien sieht der Senat die Vorausetzung für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage nicht als gegeben an. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht über den Umfang hinaus, den das SG festgestellt hat, gerechtfertigt, weil das Nebeneinkommen zu berücksichtigen ist.

Die Ag. hat nach summarischer Prüfung die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensbedarfs für die Ast. und deren Tochter gem. Bescheid vom 23.11.2005 zu Recht aufgehoben, da bei Anwendung der für den entsprechenden Bewilligungszeitraum geltenden Fassung der Alg II-V das Einkommen aus selbständiger Tätigkeit in dem Monat zu berücksichtigen ist, in dem es zugeflossen ist. Nach den festgestellten Einahmen aus selbstständiger und aus nichtselbstständiger Tätigkeit lag Hilfebedürftigkeit nicht vor.

Es besteht auch kein Grund, der Ast. vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Wege der einstweiligen Anordnung ohne Berücksichtigung ihres Nebeneinkommens zu bewilligen. Dies scheitert daran, dass eine Schätzung des anrechenbaren Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit nach § 2 Abs. 5 der Alg II-V in der ab 1.10.2004 geltenden Fassung möglich ist, da nach den vorliegenden Unterlagen über bereits zugeflossenes Einkommen mit Wahrscheinlichkeit auch diese zu einem teilweisen Verneinen der Hilfebedürftigkeit führen würde. Hinzu kommt, dass die Hilfebedürftigkeit auch deshalb zu verneinen sein dürfte, weil es der Ast. nach § 2 SGB II zumutbar ist zur Vermeidung der Hilfebedürftigkeit eine der Tätigkeiten in ihrer eigenen Firma zu übernehmen. Hierzu hat die Ast. zwar eingewandt, dass sie für diese Tätigkeiten (hauptsächlich Putzarbeiten) gesundheitlich eingeschränkt sei. Dies ist aber nicht glaubhaft. Die Ast. hat selbst ausgeführt, dass sie die bürokratischen Aufgaben in der Firma verrichte. Sie hat einen Arbeitnehmer eingestellt der für die betriebliche Verwaltung, die Akquisition und als Springer zuständig ist und hierfür ein Monatsgehalt von 2500 EUR erhält. Ein Teil dieser Tätigkeit wäre der Ast. sicher zuzumuten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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