L 1 B 35/06 AS

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 30 AS 104/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 B 35/06 AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 02.08.2006 geändert. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Dortmund für die Zeit ab 05.04.2006 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt I, XX, T beigeordnet. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht Dortmund nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 05.09.2006), ist in der Sache begründet.

Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar SGG, 8. Auflage 2005, § 73a Rdn. 7, m.w.N.). Danach ist eine hinreichende Erfolgsaussicht gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und/oder in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O. Rdn. 7a).

Die - auf den Zeitpunkt der Antragstellung (05.04.2006) zurückwirkende - Bewilligung der Prozesskostenhilfe kann der Klägerin nicht mit der Begründung versagt werden, sie habe ihre wirtschaftlichen Verhältnisse nicht innerhalb einer vom Gericht gesetzten Frist glaubhaft gemacht (§ 118 Abs. 4 Satz 2 ZPO). Die Rechtsfolgen des § 118 Abs. 4 Satz 2 ZPO treten nämlich nur bei einer wirksamen Fristsetzung durch das Sozialgericht (SG) ein. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG sind Anordnungen zuzustellen, wenn sie eine Frist in Gang setzen und nicht verkündet werden. Eine Anordnung in diesem Sinne ist auch die Verfügung einer Frist nach § 118 Abs. 4 Satz 2 ZPO (Düring in Jansen, SGG, 2. Auflage 2005, § 63 Rdnr. 2). Die Zustellung wird bewirkt, indem zumindest eine beglaubigte Abschrift der Anordnung (vgl. § 169 Abs. 2 Satz 1 ZPO) dem Adressaten in der gesetzlich vorgeschriebenen Form bekannt gegeben wird (§ 63 Abs. 2 Satz 1 SGG i.V.m. § 166 Abs. 1 ZPO). Hierzu muss die Fristsetzung vom Vorsitzenden verfügt und unterzeichnet werden. Andernfalls lässt sich die für die Beglaubigung erforderliche Übereinstimmung der Unterschrift auf Ur- und Abschrift nicht feststellen. Eine Paraphe auf der gerichtlichen Verfügung reicht nicht (vgl. Beschluss des Senates vom 09.05.2006 - Az.: L 1 B 6/06 AL, m.w.N.).

Auch wenn die Verfügung vom 03.07.2006 vom Kammervorsitzenden mit vollem Namen unterzeichnet und der Klägerin durch Empfangsbekenntnis übermittelt worden ist, entspricht sie den oben skizzierten Anforderungen nicht. Bei einer Zustellung von Amts wegen wird nicht die Urschrift, sondern vielmehr eine beglaubigte Ablichtung (oder ggf. eine Ausfertigung) der Urschrift zugestellt (vgl. Hartmann in Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 63. Auflage 2005, § 169, Rdn. 1). Die Beglaubigung ist eine Abschrift, auf der bezeugt wird, dass sie mit der Urschrift (oder einer Ausfertigung) übereinstimmt. Einer Beglaubigung bedarf es insbesondere auch bei Ablichtungen und/oder Ausdrucken (vgl Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 26. Auflage 2004, § 169, Rdn. 5 f.). Die zwingend erforderliche Beglaubigung ist im vorliegenden Fall unterblieben. Fehlt es jedoch an einer Beglaubigung, so ist die Zustellung unwirksam (vgl. Stöber in Zöller, ZPO, § 169, Rdn. 12; Hüßtege, a.a.O., Rn. 9, beide m.w.N.).

In der Sache geht der Senat davon aus, dass die von der Klägerin beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Der Rechtsstandpunkt der Klägerin, den im Rahmen des Umgangsrechts mit ihrem ansonsten beim Kindsvater in Sieck lebenden Sohn (geboren am 01.06.1990) für die Zeit seines Besuchs vom 22.12.2005 bis 30.12.2005 entstehenden zusätzlichen Bedarf (Reisekosten/Verpflegungsmehraufwand) zu übernehmen, ist zumindest vertretbar. Die vorliegende Rechtsfrage war bislang bereits Gegenstand mehrerer - divergierender - erst- und zweitinstanzlicher Entscheidungen (vgl. LSG Darmstadt, Beschluss vom 23.09.2005 - L 7 B 132/05 AS -; Thüringer LSG, Beschluss vom 15.06.2005 - L 7 AS 261/05 ER -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.04.2005 - L 8 AS 57/05 ER -; LSG Schleswig, Beschluss vom 25.08.2005 - L 6 B 200/05 AS ER - und vom 31.08.2005 - L 5 B 210/05 AS ER -; SG Münster, Beschluss vom 22.03.2005 - S 12 AS 18/05 ER -; SG Reutlingen, Beschluss vom 20.04.2005 - S 3 SO 780/05 ER -), so dass die Rechtslage derzeit noch schwierig und nicht abschließend geklärt ist.

Zwar sieht das Zweite Buch des Sozialgesetzbuches - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) ausdrücklich keine Kostenübernahme für derartige Umgangskosten vor, da es sich weder um einen Mehr- noch Sonderbedarfstatbestand gemäß §§ 21 und 23 SGB II handelt und eine Öffnungsklausel für individuelle Bedarfe fehlt. Gleichwohl wird hierzu die Auffassung vertreten, dass das unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) stehende Umgangsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils (§ 1634 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) bei der Festlegung der Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II nicht berücksichtigt worden ist. Ob man bei derartigen Sonderbedarfslagen mit Grundrechtsrelevanz insoweit eine planwidrige Regelungslücke annimmt (so Thüringer LSG a.a.O.) oder die Festlegung der Regelleistung durch § 20 Abs. 1 und 2 SGB II bzw. die Kataloge der §§ 21 Abs. 2 bis 5 bzw. 23 Abs. 3 Satz 1 SGB II als nicht abschließend und - jedenfalls bei Sonderbedarfslagen mit Grundrechtrelevanz - als erweiterbar ansieht (so LSG Darmstadt a. a. O.) oder letztlich - mit der Notwendigkeit der Beiladung des Sozialhilfeträgers - § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 73 des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuches - Sozialhilfe - (SGB XII) heranzieht (so SG Hannover, Beschluss vom 07.02.2005 - S 52 SO 37/05 ER - ), kann der Senat hier offen lassen. Diese Entscheidungen zeigen allerdings, dass der Standpunkt der Klägerin gegenüber der Auffassung der Beklagten, der Bedarf sei über den Regelbedarf abgedeckt, zumindest vertretbar ist (vgl. auch Beschluss des Senates vom 30.01.2006 - Az.: L 1 B 35/05 AS; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12.05.2006 - L 25 B 238/06 AS PKH). Die abschließende Prüfung bleibt insoweit jedoch dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Nachdem die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen ebenfalls erfüllt sind, war Prozesskostenhilfe für die Zeit ab 05.04.2006 (Eingang des Antrages nebst Vordruck und Kopie des Bescheides über die Gewährung von Arbeitslosengeld II) zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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