S 20 R 1485/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 20 R 1485/05
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 25.06.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.03.2005 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer "Ghettobeitragszeit" von November 1940 bis April 1943 im Ghetto Warschau sowie von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. 3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligen ist die Gewährung von Regelaltersrente unter Anerkennung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Warschau streitig.

Die am XX.X.1920 in P. (Polen) geborene Klägerin hat in den Jahren 1938 und 1939 die Universität in Warschau besucht. Als polnische Jüdin wurde die Klägerin Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Ab August 1940 musste sie sich im Ghetto Warschau im sog. damaligen Generalgouvernement aufhalten. Im April 1943 gelang ihr während der Deportation die Flucht. Bis September 1944 lebte sie in Warschau in verschiedenen Verstecken, kam dann in das Lager Druszkow und von dort nach Kielce. Nach der Befreiung im Januar 1945 hielt sie sich zunächst in Polen auf, kam danach in das DP Lager Berlin und lebte schließlich in Bayern. Im Jahr 1948 reiste die Klägerin nach Neuseeland aus. Seit 1955 lebt sie in Kanada. Sie besitzt die kanadische Staatsbürgerschaft.

Die Klägerin ist als Verfolgte des Nationalsozialismus vom Bayerischen Landesentschädigungsamt München - Aktenzeichen XXXXX – anerkannt worden. Zur Abgeltung ihrer Ansprüche wegen verfolgungsbedingtem Gesundheits- und Freiheitsschaden nach dem Bundesentschädigungsgesetz hat sie eine einmalige Entschädigung in Höhe von DM 8.250,- erhalten.

Im Rahmen des Entschädigungsverfahrens nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) hat die Klägerin im Jahr 1956 eine eidesstattlichen Versicherung abgegeben, in der es heißt, "Bei Beginn der Verfolgung wohnte ich in Warschau ( ...) wir Juden wurden verpflichtet, die weiße Armbinde mit blauem Stern zu tragen und Zwangsarbeit zu leisten. ( ...) Das Ghetto wurde im August 1940 errichtet. Ich musste übersiedeln in O. Str ... ( ... ) Die notwendigsten Lebensmittel haben wir durch den Judenrat bezogen. Mein Bruder ist ein Arzt und er arbeitete im jüdischen Spital. Ich habe auch in dem Spital gearbeitet. Ich war im Ghetto Warschau bis April 1943."

Im Rahmen der Antragstellung auf Entschädigung wegen Schaden an Körper und Gesundheit hat die Klägerin im Jahr 1962 erklärt: "Ich kam ins Getto Warschau und musste unter unmenschlichen Umständen schwere Arbeit verrichteten. Ich litt sehr an Hunger und anderen Entbehrungen." In einer Eidesstattlichen Erklärung aus dem Jahr 1965, die ebenfalls im Zusammenhang mit der Antragstellung auf Entschädigung wegen Schaden an Körper und Gesundheit abgegeben wurde, hat die Klägerin angegeben: "Ich musste in das Ghetto Warschau, wo ich schwere Zwangsarbeit verrichten musste und sehr an Hunger und Erniedrigungen durch die SS litt."

Der Zeuge S. R. L. hat im Entschädigungsverfahren der Klägerin deren Aufenthalt im Ghetto bestätigt und erklärt, sie habe die Judenzeichen tragen müssen und Zwangsarbeit geleistet.

Die Zeugin L. I. hat im Entschädigungsverfahen der Klägerin angegeben: "Sie hatte einen Bruder, der Arzt ist und mit diesem Arzt war ich in guter Bekanntschaft. Das Ghetto wurde im August 1940 errichtet. ( ) Ich war im Ghetto bis zur Liquidierung ( ) Ich weiß und bezeuge, dass die Antragstellerin von September 39 bis Anfang März oder April 43 in Warschau und Ghetto Warschau war, die Judenzeichen tragen musste und Zwangsarbeit leistete. Vom Frühling 1943 habe ich sie nicht mehr gesehen."

Mit Schreiben vom 22.5.2003, bei der Beklagten am 4.6.2003 eingegangen, wandet die Klägerin sich wegen Leistungen für "Arbeiter im Warschauer Ghetto" an die Beklagte und machte im folgenden Rentenverfahren folgende Angaben zu ihrer Tätigkeit: "Ghetto Warschau, Mitte November 1940 bis Mitte April 1943, Czyste Krankenhaus, Schwesternhelferin. Am 23.4.1943 vom Umschlagplatz in Warschau im Zug nach Treblinka geschickt.

Nach Einsichtnahme in die bei der Oberfinanzdirektion München – Landesentschädigungs-amt - München geführten Entschädigungsakten (Az. XXXXX) lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 25.6.2004 unter Hinweis auf die seinerzeitigen Aussagen im Entschädigungsverfahren mit der Begründung ab, die Zeit vom August 1940 bis April 1943 und die anschließende Zeit in der Illegalität bis zum Januar 1945 könne nicht als Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto anerkannt werden. Es sei nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass es sich hierbei um eine entgeltliche Beschäftigung aus freiem Willensentschluss gehandelt habe.

Gegen den Bescheid erhob die Klägerin am 28.9.2004 Widerspruch. Zur Begründung trug sie vor, sie habe die Arbeit als Schwesternhelferin freiwillig aufgenommen, um zu überleben. Ihre Bezahlung habe hauptsächlich aus den Lebensmitteln bestanden, von denen sie gelebt und die sie mit den Patienten geteilt habe. Auf Nachfrage der Beklagten erklärte die Klägerin auf einem Fragebogen der Beklagten, sie sei von Mitte November 1940 bis Mitte April 1943 beschäftigt gewesen. Sie habe innerhalb des Ghetto Warschau im Czyste Hospital Patienten gewaschen und gefüttert, Betten gemacht, Wäsche gewaschen, sauber gemacht. Arbeitgeber sei der Judenrat gewesen. Sie sei während der Arbeit bewacht worden durch bewaffnete Soldaten, Polizisten. Sie habe nur Lebensmittel erhalten. Die Arbeit habe sie freiwillig, durch eigene Bemühungen und durch Vermittlung des Judenrats erhalten. Auf die Aufforderung der Beklagten, die widersprüchlichen Angaben aus dem Entschädigungsverfahren und dem Rentenverfahren zu erklären, hat die Klägerin erklärt: "Um der Deportation und dem Tod zu entgehen habe ich die Arbeit als freiwillige Krankenschwestern-Helferin angenommen. Ich bin zum Judenrat gegangen. Ich hatte nicht erwartet, dass die Bedingungen im Krankenhaus so inhuman waren. Als ich aber begonnen hatte mit der Arbeit `with soldiers, police in charge´ (unübersetztes Zitat) war es harte Zwangsarbeit. Wir waren überarbeitet, die Knappheit von allem war unglaublich. Wir waren Angst, Hunger, Typhus ausgesetzt, nur um einiges zu erwähnen und ... der Deportation. Aber ich hatte keine Wahl, es war die Hölle und ich wurde deportiert. Verzeihung, ich wollte nicht so `morbid´ sein, aber niemand von meinen Freunden vom Krankenhaus hat überlebt, so weit ich weiß.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.3.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach den historischen Erkenntnissen habe das Ghetto Warschau vom 2.10.1940 bis 16.5.1943 existiert. Aufgrund der Angaben der Klägerin über den Aufenthaltszeitraum in Warschau wäre eine Anerkennung von Beschäftigungen vom 2.10.1940 bis April 1943 möglich. Laut Zeugenaussagen im Entschädigungsverfahren habe die Klägerin Zwangsarbeiten verrichten müssen. Beim Verfahren wegen Körperschaden habe die Klägerin angegeben, sie habe unter unmenschlichen Bedingungen schwere Arbeit verrichten müssen. Im Rentenverfahren habe sie eine Beschäftigung als Schwestern-Helferin im Warschauer Ghetto angegeben. Nach dem nun vorliegenden Ghettofragebogen sei die Klägerin während der Arbeit bewacht worden. Die Bewachung am Arbeitsplatz sei Merkmal für ein Zwangsarbeitsverhältnis. Auch eine Entgeltzahlung im Sinne des ZRBG sei nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Die Klägerin habe als Entlohnung Essen erhalten, welches sie mit den Patienten geteilt habe. Das Entgelt im Ghetto müsse zwar keine arbeitsangemessene Gegenleistung darstellen, aber über das zum persönlichen Bedarf und Überleben des Einzelnen Notwendige hinausgehen. Aus den Angaben der Klägerin gehe nicht hervor, dass sie neben den vom Judenrat ausgestellten Lebensmittelkarten weitere zusätzliche Lebensmittel oder Sachbezüge in wesentlichem Umfang erhalten habe.

Gegen den Widerspruchsbescheid wendet sich die Klägerin mit der am 14.6.2005 erhobenen Klage. Sie habe, wie schon angegeben, vom 2. Oktober 1940 bis zum 15. April 1943 im Ghetto Warschau freiwillig als Krankenschwesternhelferin im jüdischen Krankenhaus Cryste gearbeitet. Sie sei für ihre Arbeit entlohnt worden. Sie habe sich freiwillig und aus eigener Initiative beworben. Ihr Bruder Dr. H. F. habe im selben Krankenhaus gearbeitet. Sie habe sich im Krankenhaus um die Patienten gekümmert und alles getan, was nötig gewesen sei, um ihnen behilflich zu sein. Sie hätten lange gearbeitet, es habe nur wenig Personal gegeben und eine geringe Versorgung, sie hätten improvisieren müssen. Es sei keine einfache Arbeit gewesen, aber sie habe ihr Bestes gegeben. So weit sie sich nach über sechzig Jahren erinnern könne, sei sie mit Nahrungsmitteln entlohnt worden, mit viel Essen aus der Krankenhausküche, mit Nahrungsmitteln vom Judenrat. Nahrung sei das Wichtigste im Ghetto gewesen. Sie habe ihre Lebensmitteln mit den Patienten geteilt. Sie hätten Nahrungsmitteln gegen Kleidung, Schuhe, Winterstiefel, und "die von uns benötigte Wärme (Kohle)" eintauschen können, so hätten sie ihren Familien helfen können, am Leben zu bleiben, sie hätten lebensnotwendige Dinge benötigt. Es habe im Ghetto keine Geschäfte gegeben, sie hätten Nahrungsmittel gegen alles eingetauscht. Vielleicht könne sie sich nicht richtig ausdrücken, englisch sei ja auch lediglich ihre Zweitsprache, aber die Bedingungen im Krankenhaus seien sehr schlecht gewesen. Sie sei der Auffassung, dass ihrem Antrag stattgegeben werden sollte.

Auf Nachfrage des Gerichts hat die Klägerin weiter erklärt, sie könne nicht erklären, weshalb sie über harte Zwangsarbeit geschrieben habe, die Arbeit sei hart aber nicht erzwungen gewesen. Sie habe sich hinreißen lassen, sie sei sehr schlecht in der Beantwortung von Fragebögen. Es sei schwer für sie, nach mehr als sechzig Jahren auf die Kriegsjahre zurück zu kommen, sie habe diese Erfahrung in ihrem Leben stets vergessen wollen und es sei ihr fast gelungen. Man habe einige Empfehlung benötigt, um freiwillige Helferin im Krankenhaus zu sein. Während der Invasion in der Zeit 39 sei das Warschauer "Cryste" Krankenhaus bebombt worden. Was übrig geblieben sei, sei auf vier oder fünf Plätze im Ghetto verteilt worden. Sie als Freiwillige sei von einem Krankenhaus zum anderen verlegt worden, wegen fehlender Arbeitskräfte. Am Anfang habe sie zum zugeteilten Krankenhaus und zurück nach Hause zu Fuß gehen können. Später seien sie zu ihrer eigenen Sicherheit begleitet worden, da sie wichtige Arbeiter gewesen seien und um sie vor Straßenüberfällen zu schützen. Sie hätten Rote-Kreuz-Armbinden getragen, die das Armband mit dem jüdischen Davidstern überdeckt hätten. Deutschen Soldaten und deutsche Polizei hätten die Krankenhausgebäude bewacht, sie hätten zur deutschen Wehrmacht gehört, sie hätten grüne Uniformen getragen. Sie hätten die Gebäude geschützt, wären draußen auf den Straßen gewesen und hätten die Eingänge bewacht. Es hätte eine große Anzahl von Inspektionen durch offizielle Nazi gegeben, und Besucher - deutsches Militär und Zivilisten -, die Fotos und sogar Filme gemacht hätten. Die Klägerin denke, der Hauptzweck der Überwachung habe wahrscheinlich darin bestanden, Ordnung zu halten und das Krankenhaus zu beschützen. Das Krankenhauspersonal sei nicht von der Wehrmacht überwacht worden. Die Frage des Gerichts, ob sie ihren Arbeitsplatz hätte verlassen können (in der deutschen Übersetzung des Antwortschreibens der Klägerin falsch wiedergegeben) beantworte die Klägerin mit ja.

Die Klägerin beantragt sinngemäß nach Lage der Akten,

den Bescheid der Beklagten vom 25.6.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.3.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer "Ghettobeitragszeit" von November 1940 bis April 1943 im Ghetto Warschau sowie von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

der Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Vertreterin der Beklagten erklärt, im Rahmen des herzustellenden Bezuges zur deutschen Rentenversicherung sei vergleichsweise die Stellung der während des Krieges tätigen Rot-Kreuz-Helferinnen zu betrachten. Deren Arbeit werde als nicht versicherungspflichtig angesehen.

Im Rahmen der Sachverhaltsermittlung hat das Gericht die in der Entschädigungssache der Klägerin geführte beigezogen.

Mit der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.8.2006 hat die Klägerin das im Auftrag des Sozialgerichts Hamburg erstellte Gutachten des Historikers Prof. Dr. G. vom 9.9.2005 erhalten. Die Beteiligten wurden darauf hingewiesen, dass das Gericht zur Beurteilung der Verhältnisse in den Ghettos im sog. Generalgouvernement neben allgemein zugänglichen Quellen dieses – der Beklagten vorliegende - Gutachten zu Grunde legt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das vom Jüdischen historischen Institut Warschau herausgegebene Buch "Faschismus, Getto, Massenmord" und das Buch "Menschen im Ghetto" von Günter Deschner vorgelegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte, der Rentenakte der Beklagten sowie der beigezogenen Entschädigungsakte verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der Entscheidung der Kammer gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte auch ohne Anwesenheit der Klägerin über die Sache entscheiden. Die Klägerin ist mit Ladung vom 17.5.2006 zur mündlichen Verhandlung geladen und darauf hingewiesen worden, dass im Falle ihrer Abwesenheit auch ohne sie verhandelt werden könne. Sie hat den Erhalt der Ladung am 26.7.2006 – Eingang bei Gericht am 31.7.2006 – bestätigt.

Die Klage ist zulässig und in dem Umfang begründet, den das Gericht dem Vorbringen der Klägerin im Wege sachdienlicher Auslegung als Antrag entnommen hat. Dabei ist die Kammer davon ausgegangen, dass die Klägerin – wie sie im Rahmen der Rentenantragstellung durchgehend angegeben hat - eine Beschäftigungszeit im Ghetto Warschau vom November 1940 an - und nicht bereits ab 2. Oktober 1940 - geltend macht. Das Datum 2.10.1940 wurde von der Klägerin erst nach Erhalt des Widerspruchsbescheides angegeben. In diesem heißt es, eine Anerkennung von Beschäftigungen sei vom 2.10.1940 möglich. Die Angabe dieses Datums in der Klagebegründung geht erkennbar auf diese Formulierung im Widerspruchsbescheid zurück.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten, denn sie hat das 65. Lebensjahr vollendet, die allgemeine Wartezeit erfüllt und glaubhaft gemacht, dass sie im Ghetto Warschau eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt hat.

Gem. §§ 35, 50 Abs. 1 S. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) hat Anspruch auf Regelaltersrente, wer das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten Versicherungszeit erfüllt hat. Auf die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren werden Kalendermonate mit Beitrags- und Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Absätze 1 und 4 SGB VI).

Beitragszeiten sind nach §§ 55 Abs. 1 Satz 1, 247 Abs. 3 Satz 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht oder Reichsversicherungsrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch so genannte fiktive Beitragszeiten, d.h. Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Die Klägerin hat weder Pflicht- noch freiwillige Beiträge nach Bundesrecht oder Reichsversicherungsrecht gezahlt. Als polnische Staatsangehörige in Warschau im sog. `Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete´ galt für sie auch nach der Besetzung Polens durch das Deutsche Reich das polnische Sozialversicherungsrecht, so dass eine Beitragsentrichtung nach den Reichsversicherungsgesetzen nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 7.10.2005, B 13 RJ 59/03 R; zur Rechtslage im sog. Generalgouvernement: BSG, Urteil vom 23.8.2001, B 13 RJ 59/00 R).

Für die Klägerin gelten aber Beiträge als gezahlt, denn auf die Beschäftigungszeit im Ghetto Warschau ist das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20.6.2002 (BGBl I 2074) – ZRBG - anwendbar (dazu unter 1.) mit der Folge, dass Beiträge für diese Zeit als gezahlt gelten (2.).

1. Die Anwendung des zum 1.7.1997 in Kraft getretenen ZRBG setzt gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 voraus, dass der oder die Verfolgte - sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hat, das sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, - eine Beschäftigung ausgeübt hat, die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist und - gegen Entgelt ausgeübt wurde.

Das Gesetz gilt nicht, soweit für diese Zeiten bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird.

Für die Feststellung der nach dem ZRBG maßgeblichen Tatsachen genügt deren Glaubhaftmachung (§ 1 Abs. 2 ZRBG i. V. m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung – WGSVG -). Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Überwiegende Wahrscheinlichkeit liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vor, wenn die ´gute Möglichkeit` besteht, dass der behauptete Vorgang sich so zugetragen hat, wie der Antragsteller es geltend macht (BSG, Urteil vom 3. 2.1999, B 9 V 33/97 R).

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 S. 1 ZRBG, denn es ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie während ihres zwangsweisen Aufenthaltes im Ghetto (dazu unter a) eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss (b) und gegen Entgelt (c) ausgeübt hat.

a) Die Klägerin hat sich ab Beginn der Errichtung des Ghettos im Oktober 1940 bis zum April 1943 zwangsweise im Ghetto Warschau aufgehalten.

Über den Beginn ihres Aufenthaltes im Ghetto hat die Klägerin im Entschädigungsverfahren angegeben, das Ghetto Warschau sei im August 1940 errichtet worden. Den verschiedenen dem Gericht zur Verfügung stehenden Quellen zufolge wurde die Errichtung des Ghettos aber erst am 2.10.1940 angewiesen (www.keom.de, www. deathcamps.org sowie Professor Dr. G. in seinem gerichtlich veranlassten Gutachten zum Generalgouvernement vom 9.9.2005, S. 3) Die jüdische Bevölkerung musste sich demnach erst ab Oktober 1940 zwangsweise im Ghetto aufhalten. Die Liquidierung des Ghettos erfolgte am 16.5.1943. Bis zum Anfang des Jahres 1943 waren etwa 300.000 Juden aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka deportiert worden. Im Februar 1943 befanden sich noch über 60.000 Juden im Ghetto. Die Auflösung des Ghettos begann am 19. April 1943 mit der Ermordung und Deportation der restlichen Ghettobewohner. Am 16.5.1943 wurde der Abschluss dieser "Großaktion" verkündet (Enzyklopädie des Holocaust, Hrsg: Israel Gutmann, Band III, S.1547 f.).

Die zeitlichen Angaben der Klägerin zu ihrem Aufenthalt im Ghetto Warschau sind vor diesem Hintergrund glaubhaft. Sie hat bei Rentenantragstellung angegeben, am 23.4.1943 vom Umschlagplatz in den Zug nach Treblinka verbracht worden zu sein. Dass sie sich bis April 1943 im Ghetto aufgehalten hat, entspricht auch ihren früheren Angaben und den Aussagen der Zeugin L. I. im Entschädigungsverfahren, die einen Aufenthalt der Klägerin bis Frühling 1943 bestätigt hat.

b) Die Klägerin hat im Ghetto Warschau eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ausgeübt.

Die Auslegung des Begriffs Beschäftigung im Sinne des ZRBG hat sich an der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Abgrenzung versicherungspflichtiger `freier´ Beschäftigung von Zwangsarbeit zu orientieren. Mit den Tatbestandsmerkmalen des § 1 Abs. 1 ZRBG hat der Gesetzgeber nämlich erkennbar an der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung angeknüpft. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, wurde das ZRBG durch den Deutschen Bundestag in Reaktion auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichtes aus dem Jahr 1997 zu Beschäftigungszeiten im Ghetto Lodz - Urteile vom 18.6.1997, 5 RJ 66/95 und 5 RJ 68/95 - beschlossen. Die in § 1 Abs. 1 ZRBG genannten Kriterien folgen ausdrücklich dieser Rechtsprechung (Deutscher Bundestag – BT - Drs. vom 19.3.2002, 14/8583, S. 5 f.). Das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses soll im Rahmen des ZRBG sicherstellen, dass ein gewisser Bezug zur Versichertengemeinschaft gegeben ist, denn der Gesetzgeber hat mit dem ZRBG zwar eine bisher bestehende Lücke bei der Wiedergutmachung schließen wollen (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 25.4.2002, 14/233, S. 2379, Reden von Claudia Nolte, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Ilja Seifert) aber kein reines Entschädigungsgesetz geschaffen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Bericht zur Umsetzung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (ZRBG) vom 15.2.2005, S.6; zur Auslegung des ZRBG siehe auch: BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R und Urteil vom 20.7.2005, B 13 RJ 37/04 R).

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist für ein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des Rentenversicherungsrechts dessen Zustandekommen durch Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und sein Zweck, nämlich der Austausch von Arbeitsleistung gegen Arbeitsentgelt, kennzeichnend (vgl. etwa BSG, Urteil vom 21.4.1999, B 5 RJ 48/98 R; Urteil vom 14.7.1999, B 13 RJ 75/98 R). Dabei handelt es sich bei dem Terminus Beschäftigungsverhältnis um keinen scharf konturierten Begriff, sondern um einen Typus, dessen kennzeichnende Merkmale in unterschiedlichem Maße gegeben sein können. Selbst das Fehlen einzelner Merkmale muss nicht zur Verneinung einer Beschäftigung führen (BSG, Urteil vom 14.7.1999, B 13 RJ 71/98, mit Verweis auf Bundesverfassungsgericht SozR 3-2400 § 7 Nr. 11). Maßgeblich ist stets das Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit.

Keine versicherungspflichtige Beschäftigung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG vor bei Arbeit unter obrigkeitlichem (hoheitlichem) bzw. gesetzlichem Zwang, wie z.B. bei Strafgefangenen oder KZ-Häftlingen (vgl. nur BSG, Urteil vom 14.7.1999, B 13 RJ 75/98 R). Charakteristisch für das Vorliegen von Zwangsarbeit ist danach die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss haben. Je mehr das Arbeitsverhältnis durch hoheitliche Eingriffe überlagert wird, denen sich der einzelne nicht entziehen kann, desto mehr entfernt es sich vom Typus der Beschäftigung und nähert sich dem Typus der Zwangsarbeit an (BSG, Urteil vom 14.7.1999, B 13 RJ 75/98 m.w.N.).

Für die Charakterisierung der in einem Ghetto geleisteten Arbeit ist von Bedeutung, dass die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, sowie allgemeine Lebensumstände, die nicht die Arbeit oder das Arbeitsentgelt betreffen, bei der Beurteilung von Arbeitsleistungen außer Betracht bleiben (BSG, Urteile vom 14.7.1999, B 13 RJ 71/98 und 21.4.1999, B 5 RJ 48/98 R). In seiner Entscheidung zur Beschäftigung im Ghetto Lodz vom 18.6.1997 hat der 5. Senat des BSG ausgeführt, dass die allgemeinen sonstigen Lebensumstände des Arbeitenden - sein häusliches, familiäres, wohn- und aufenthaltsmäßiges Umfeld - bei der Beurteilung des Beschäftigungsverhältnisses außer Betracht bleiben. Die Sphären "Lebensbereich" und "Beschäftigungsverhältnis" sind danach grundsätzlich zu trennen. Maßgeblich ist vielmehr, ob das Beschäftigungsverhältnis aus eigenem Antrieb begründet wurde (BSG, Urteil vom 18.6.1997, 5 RJ 66/95).

Dass die Klägerin während ihres Zwangsaufenthaltes im Ghetto gearbeitet hat, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Existenz des Spitals Czyste im Warschauer Ghetto wird belegt durch eine Abbildung in dem Werk Faschismus, Getto, Massenmord (Hrsg: Jüdisches Historisches Institut Warschau, Frankfurt/Main, S. 141). Das Krankenhaus Cyste wird dort im Zusammenhang mit registrierten Fleckfiebererkrankungen unter Juden in Warschau im Jahr 1941 erwähnt.

Die Kammer hält es für überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin im Spital Czyste aus eigenem Willensentschluss tätig war.

Einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss steht nicht der im Oktober 1939 verordnete Arbeitszwang der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement entgegen. In seinem Urteil vom 14.7.1999 (5 B 13 RJ 71/98) hat das BSG ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, d.h. trotz Regulierung des Arbeitsmarktes und Bestehens von Arbeitspflichten, nicht davon ausgegangen werden kann, die Gesamtheit aller Arbeitsverhältnisse sei derart obrigkeitlich / hoheitlich überlagert gewesen, dass sie den Charakter von Zwangsarbeit angenommen hätten. Auch der Gesetzgeber des ZRBG hielt es offensichtlich für möglich, dass Beschäftigungsverhältnisse aus eigenem Willensentschluss in den von Arbeitszwang und anderen Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung gekennzeichneten besetzten Gebieten möglich waren, denn anderenfalls liefe der Anwendungsbereich des Gesetzes leer.

Dass trotz des gegen die jüdische Bevölkerung verhängten Arbeitszwanges im Generalgouvernement auch ´freie` Beschäftigungsverhältnisse existiert haben, ergibt sich zudem aus der durch das nationalsozialistische Unrechtsregime erlassenen Anordnung zur Durchführung des Arbeitseinsatzes der jüdischen Bevölkerung des Amtes des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete vom 5.7.1940 (veröffentlicht in Documenta Occupationis Bd. VI, S. 568 ff., Original: Jüdisches Historisches Institut Warschau), in der es heißt: ( )" in allen geeigneten Fällen ist) zunächst der Versuch der Beschäftigung der Juden im freien Arbeitsverhältnis zu unternehmen. Die Beschäftigung der Juden hat zweierlei zum Ziel: 1) die bestmögliche Ausnutzung ihrer Arbeitskraft im Allgemeinen, 2) die Sicherung des eigenen und des Lebensunterhalts der Familie. Demgemäß kann sich der Arbeitseinsatz der Juden in zwei Formen vollziehen: a) durch Beschäftigung der nicht zur Zwangsarbeit aufgerufenen Juden im freien Arbeitsverhältnis; die Arbeitsbedingungen sind in einer besonderen Tarifordnung im einzelnen noch festzulegen ( )

b) durch die Einberufung von Juden zur Zwangsarbeit auf Grund der Verordnung vom 26.10.1939, die eine Entlohnung nicht vorsieht. Die Form zu b) kommt im allgemeinen nur in Frage bei grösseren Projekten, bei denen eine grosse Anzahl von Zwangsarbeitern beschäftigt, lagermäßig untergebracht und bewacht werden kann. ( ) Die Gestellung einer jüdischen Arbeitskraft ist nur noch beim zuständigen Arbeitsamt zu beantragen ( ) Die Judenräte sind zu veranlassen, Anträge auf Gestellung von Zwangsarbeitern in Zukunft in jedem Falle an das zuständige Arbeitsamt zu verweisen."

Zum Charakter der Arbeitsverhältnisse von Juden in den Ghettos im Generalgouvernement legt der Historiker Professor Dr. G. in seinem gerichtlich veranlassten Gutachten zum Generalgouvernement vom 9.9.2005 (künftig: Gutachten Prof. G.) am Beispiel des Warschauer Ghettos im einzelnen dar, wie die von den Deutschen eingesetzten Judenräte der Arbeitsverpflichtung entgegenzuwirken versuchten, indem sie sich verpflichteten, jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Juden zur Arbeitsleistung abzustellen. Der Judenrat registrierte alle dem Arbeitszwang unterliegenden Juden, stellte namentliche Arbeitsaufforderungen und Arbeitskarten aus und versuchte so, den Arbeitszwang gleichmäßig zu verteilen. Für die Inhaber der Arbeitskarten bestand die Verpflichtung, an bestimmten Tagen des Monats zu arbeiten. An den anderen Tagen waren sie frei (Gutachten Prof. G., S. 4, 5).

Aus einem anonymen Tagebuch zitiert Prof. Dr. G.: "Die Beschäftigten, die formal Arbeitenden, das war eine privilegierte Kaste ( ...) Jeder, der offen und legal arbeitete, mit einem entsprechenden Ausweis und auf eine Weise, wie sie durch die neue Ordnung verfügt wurde, war einer der Auserwählten, der Gesicherten, der Gedeckten, der Menschen, die einen Ort gefunden hatten." (Gutachten Prof. G., S. 11, Fußnote 27). "Die Entscheidung, eine Tätigkeit anzunehmen," – so der Gutachter - "war also nicht nur freiwillig, sie galt als Chance - materiell und geistig." Es seien damit auch die Umschulungskurse zu erklären und die Tatsache, dass es meistens mehr Interessenten als Arbeitsplätze gegeben habe. "Wer keine Arbeit fand, stand nicht nur materiell schlechter da, er sah sich auch in der `neuen Ordnung´ unmittelbar gefährdet" (Gutachten Prof. G., S. 11).

Die Kammer hält es schon deshalb für wahrscheinlich, dass die Klägerin die Tätigkeit im Spital Czyste aus eigenem Willensentschluss aufgenommen hat, weil in Anbetracht der vielfältigen Beschäftigungsmöglichkeiten im Ghetto Warschau (vgl. hierzu Gutachten Prof. G., S. 7 und Anhang) nicht anzunehmen ist, dass eine junge gesunde Frau wie die Klägerin, die auch nicht durch Kinderbetreuungspflichten gebunden war, sich während ihres gesamten Ghettoaufenthaltes keine Arbeitsstelle gesucht hat, sondern ausschließlich im Rahmen des Arbeitszwangs tätig war, der – wie dargelegt – durch den Judenrat auf die Ghettobewohner verteilt wurde und einer ´frei gewählten` Tätigkeit nicht entgegenstand (Gutachten Prof. G., S. 5).

Auch die Tatsache, dass es sich bei einem jüdischen Krankenhaus im Ghetto um eine Einrichtung der Ghettoverwaltung gehandelt hat, spricht für das Vorliegen einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss. Dass der Judenrat das Personal in seinen Einrichtungen – zumal über einen Zeitraum von mehreren Jahren - im Wege obrigkeitlichen Zwanges rekrutiert hat, hält das Gericht für unwahrscheinlich. Prof. G. spricht in seinem Gutachten von "Angestellten" für die üblichen städtischen Dienste von der Elektrizitätsversorgung bis zur Totenbestattung (Gutachten S. 7). Ruta Sakowska nennt eine Anzahl von 4600 Personen, die in "Stellen des Judenrates", und 3000 Personen, die in der Sozialfürsorge des Ghettos arbeiteten (Ludzie z dzielnicy zamknietej, Warschau 1993, zitiert nach Prof. Dr. G., Gutachten S. 7, Fßn. 19). Es ist anzunehmen, dass es sich bei derartigen Tätigkeiten, die für die Aufrechterhaltung des Ghettolebens erforderlich waren, auch wegen der Lebensmittel-Sonderzuteilungen (dazu unter c) um privilegierte Arbeiten handelte. Die Angabe der Klägerin, man habe Empfehlungen gebraucht, um als Schwesternhelferin im Krankenhaus tätig zu sein, erscheint dem Gericht daher gut nachvollziehbar.

Das Vorliegen von Zwangsarbeit ergibt sich auch nicht daraus, dass das Krankenhaus, wie die Klägerin geschildert hat, bewacht wurde. Es ist gut vorstellbar, dass das Ghettokrankenhaus aus Sicht der Besatzungsmacht – etwa wegen des Zugangs zu Medikamenten - besonders überwachungsbedürftig war und deshalb deutsche Uniformierte zur Bewachung des Krankenhauses eingesetzt wurden. Auch die Ghettoverwaltung und der jüdische uniformierte Ordnungsdienst (Ghettopolizei) werden an der Aufrechterhaltung der Ordnung des Krankenhausbetriebes interessiert gewesen sein, etwa um der Ausbreitung von Typhus und Fleckfieber entgegenzuwirken. Wie Günther Deschner anhand von Fotographien darlegt, erfolgte die Arbeit der Ghettopolizei und der deutschen Polizeiposten im Ghetto parallel (Menschen im Ghetto, Gütersloh 1969, S. 136 f.). Da die Bediensteten des Krankenhauses für die Aufrechterhaltung des Ghettolebens eine wichtige Funktion ausübten, ist es dem Gericht auch nachvollziehbar, dass sie auf ihrem Arbeitsweg durch Uniformierte begleitet wurden, um sie in Anbetracht der dramatischen Lebensumstände im Ghetto, den vielen Hungernden und Notleidenden, vor Straßenüberfällen zu schützen. Auch der von der Klägerin hergestellte Zusammenhang zwischen der Bewachung des Krankenhauses und dem Erstellen von Film- und Fotoaufnahmen erscheint dem Gericht plausibel. Die Durchführung von Filmaufnahmen zu Propagandazwecken der Nationalsozialisten ist historisch belegt (Wladyslaw Bartoszewski, Das Warschauer Ghetto – wie es wirklich war, Frankfurt/Main 1983, S. 27 und Günther Deschner, Menschen im Ghetto, Gütersloh 1969, S. 58 f.)

Der Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses steht schließlich auch nicht entgegen, dass die Klägerin im Entschädigungsverfahren angegeben hat, sie habe unter unmenschlichen Umständen schwere Arbeit verrichten müssen. Dass es sich bei einer Tätigkeit im jüdischen Krankenhaus im Ghetto Warschau um eine schwere Arbeit unter unmenschlichen Umständen gehandelt hat, dürfte in Anbetracht der allgemein zugänglichen vielfältigen historischen Erkenntnisse über die Lebensbedingungen im Ghetto Warschau nicht in Frage stehen. Die Kammer hält vor diesem Hintergrund auch die im Widerspruchsverfahren gemachte Äußerung der Klägerin, der zufolge die Arbeit nachdem sie sie freiwillig begonnen habe, "harte Zwangsarbeit" gewesen sei, für nachvollziehbar.

Die Kennzeichnung der im Ghetto geleisteten Arbeit als Zwangsarbeit schließt nicht aus, dass es sich um eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gehandelt hat. Die Verwendung des Begriffs Zwangsarbeit lässt nämlich regelmäßig keinen Aufschluss über die konkreten Bedingungen der im Ghetto geleisteten Arbeit zu. Vielmehr dürften in der Erinnerung der Betroffenen die Zwangsbedingungen im Ghetto und die mit dem Nicht-Innehaben eines Arbeitsplatzes verbundene Angst vor Deportation und Vernichtung auch die Beurteilung der Arbeitsumstände wesentlich geprägt haben. Der Terminus Zwangsarbeit bzw. "forced labor" ist daher bei den Überlebenden des Holocaust für Arbeitstätigkeiten während der gesamten nationalsozialistischen Verfolgung durchaus gebräuchlich. Aus der Verwendung der Begriffe kann aber wegen ihrer subjektiven Prägung (vgl. BSG Urteil vom 30.8.2001, B 13 RJ 59/00 R) eine Klassifizierung in die Kategorien des Rentenrechts nicht abgeleitet werden. Maßgeblich sind vielmehr die konkreten Umstände des Zustandekommens der Beschäftigung im Einzelfall.

Letztlich steht einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss auch nicht das von der Klägerin genannte Motiv der Arbeitsaufnahme, nämlich bessere Überlebenschancen zu haben, entgegen. Die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, bleiben nämlich bei der Beurteilung eines Arbeitsverhältnisses außer Betracht (vgl. BSG, Urteile vom 14.7.1999 - B 13 RJ 71/98 - und 21.4.1999 - B 5 RJ 48/98 R). Selbst wenn die Hoffnung, durch die Arbeit bessere Überlebenschancen zu haben, gegenüber der Erlangung eines wirtschaftlichen Wertes womöglich im Vordergrund steht, stellt dies den Typus des Beschäftigungsverhältnisses nicht in Frage, solange die Arbeit aufgrund eigenen Antriebs und nicht unter obrigkeitlichem Zwang aufgenommen wurde.

Die Hoffnung, durch Arbeit die Überlebenschancen zu erhöhen, ist für Ghetto-Arbeit im übrigen kennzeichnend, da diejenigen, die im Ghetto keine Arbeit fanden - wie dargelegt - nicht nur schlechter versorgt waren, sondern in der `neuen Ordnung´ unmittelbar gefährdet waren (vgl. Gutachten Prof. G., S. 11, 12).

Das Gericht hat eine Ghettobeitragszeit bis April 1943 angenommen, denn es ist glaubhaft, dass der Krankenhausbetrieb bis zur Liquidierung des Ghettos aufrechtgehalten wurde und die Klägerin bis zu ihrer Deportation dort tätig war.

c) Die Klägerin hat die Tätigkeiten im Ghetto Warschau gegen Entgelt ausgeübt.

Auch bei der Auslegung des Entgeltbegriffs im Sinne des ZRBG ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur entgeltlichen Beschäftigung heranzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R). Diese geht im wesentlichen zurück auf § 1226 Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F., § 1227 RVO n.F. wonach die Versicherungspflicht eines Beschäftigungsverhältnisses an dessen Entgeltlichkeit anknüpfte, wobei die Form der Entgeltzahlung grundsätzlich unerheblich war. Eine Beschäftigung, für die als Entgelt nur freier Unterhalt gewährt wurde, war allerdings seit jeher versicherungsfrei. Werden an Stelle des freien Unterhalts Sachbezüge oder auch geringfügige Geldbeträge zur Bestreitung des notwendigen Unterhalts geleistet so geht dies über die freie Unterhaltsgewährung hinaus, es sei denn, es handelt sich um Sachbezügen in geringerem Umfang zur Befriedigung kleinerer Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten. Nach der Rechtsprechung des BSG bedarf es keiner wirtschaftlichen Gleichwertigkeit von Arbeit und Gegenleistung (BSG, Urteil vom 18.6.1997, 5 RJ 66/95), das Entgelt muss aber – auch unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft - eine gewisse Mindesthöhe erreichen (BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R).

Für die Entgeltlichkeit der Arbeit der Klägerin spricht bereits die Anordnungslage im Generalgouvernement, wonach die in Beschäftigungsverhältnissen tätigen Juden grundsätzlich Anspruch auf Vergütung hatten. Grundlage für die Entlohnung der jüdischen Arbeiter war die bereits genannte Anordnung zur Durchführung des Arbeitseinssatzes der jüdischen Bevölkerung des Amtes des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete vom 5.7.1940 (veröffentlicht in Documenta Occupationis Bd. VI, S. 568, 571) in welcher es heißt:

"Bisher fand eine regelrechte Entlohnung der jüdischen Arbeitskräfte meist nicht statt. Man überlies diese vielmehr den Judenräten. Inzwischen sind jedoch langsam die Geldreserven der Judenräte erschöpft. Um die Arbeitstätigkeit der Juden zu erhalten, den nötigen Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen und Krankheiten und Seuchen zu vermeiden, muss mit diesem bisherigen Grundsatz gebrochen und eine ordnungsmässige Entlohnung gefordert werden. Bei den nicht zur Zwangsarbeit einberufenen, sondern v e r m i t t e l t e n Arbeitskräften hat eine ordnungsmässige Entlohnung auf Grund der noch zu erlassenen Tarifordnung zu erfolgen.( ) Falls eine Beschäftigung auf Akkordbasis nicht möglich ist, ist der Stundenlohn nach einer Tarifordnung für polnische Arbeitskräfte – vermindert um 20% zu gewähren."

Ob dieser Entgeltanspruch bereits für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Entgeltlichkeit ausreicht (bejahend SG Hamburg, Urteil vom 3.5.2006, S 10 RJ 944/03), kann dahinstehen. Die Sachleistungen, die die Klägerin erhalten hat, stellen nämlich nach Auffassung der Kammer Entgelt im Sinne des ZRBG dar.

Zwar kann der Entgeltbegriff, wie das BSG in seinem Urteil vom 7.10.2004 festgestellt hat, auch unter Ghetto-Bedingungen nicht völlig von der Höhe des für geleistete Arbeit Erlangten gelöst werden, so dass auch im Rahmen des ZRBG nicht jedes "irgendwie geartetes, und sei es noch so geringes Entgelt" zu einem Rentenanspruch führt (B 13 RJ 59/03 R). Zudem ist bei der Gewährung von Lebensmitteln zu prüfen, "ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Verbrauch oder Gebrauch oder nach vorbestimmte Maße zur beliebigen Verfügung gegeben werden" (BSG, Urteil vom 7.10.2004, B 13 RJ 59/03 R, mit Hinweisen auf die Kommentarliteratur). Unter Anlegung dieser Maßstäbe hat der 13. Senat in seiner Entscheidung vom 7.10.2004 die Gewährung (guter) Verpflegung am Arbeitsplatz im Ghetto Warschau nicht als Entgelt angesehen.

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin aber Nahrungsmittel erhalten, die über das Maß des ´noch so geringen` hinausgingen und auch nicht nur zum unmittelbaren Verbrauch am Arbeitsplatz sondern auch außerhalb des Krankenhauses zu ihrer Verfügung standen.

Dies ergibt sich zum einen aus den glaubhaften Angaben der Klägerin über den Erhalt von Nahrungsmitteln aus der Krankenhausküche, die sie mit den Patienten geteilt habe und zudem gegen Kleidung und Kohle habe eintauschen können. Darüber hinaus hat die Klägerin ihren Schilderungen im Entschädigungsverfahren und im Klageverfahren zufolge Lebensmittel durch den Judenrat bezogen. Wie sie im Klageverfahren für die Kammer glaubhaft ausgeführt hat, hätten die erhaltenen Nahrungsmittel geholfen, dass sie und ihre Familie am Leben hätte bleiben können.

Das Gericht hat keinen Anlass, an diesen Angaben der Klägerin zu zweifeln. Sie hat von Beginn des Rentenverfahrens an angegeben, Nahrungsmittel für ihre Tätigkeit im Ghetto-Krankenhaus erhalten zu haben. Ohne Belang ist, dass sie im Entschädigungsverfahren nach dem BEG eine Gegenleistung für ihre Arbeit nicht erwähnt hat, denn dazu bestand damals keinerlei Anlass.

Die Angaben der Klägerin sind auch vor dem Hintergrund der vorliegenden historischen Erkenntnisse schlüssig. Danach versorgte der Judenrat aus dem Ertrag der Ghettoproduktion einerseits das Ghetto allgemein mit Lebensmitteln oder versuchte dies zumindest, andererseits zahlte er auch Löhne, wenn auch zum Teil mit großem Verzug (vgl. Gutachten Prof. G., S. 5, 7, 10). So ist für das Warschauer Ghetto belegt, dass die Beschäftigten der jüdischen "Selbstverwaltung" und der "nützlichen Betriebe" sowie "nützlich arbeitende" Personen, wie beispielsweise Ärzte, monatlich 4 kg Brot zusätzlich an Sonderzuteilung erhalten haben (Gutachten Prof. G., S. 15).

Bei den Lebensmitteln, die die Klägerin erhalten hat, handelt es sich auch nicht nur um Entgelt in ganz geringem Umfang. Denn bei der Beurteilung des Umfanges der erhaltenen Gegenleistung sind nach Auffassung der Kammer die tatsächlichen Rahmenbedingungen einzubeziehen, die den historischen Tatsachen zufolge der Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse im Ghetto Warschau zu Grunde lagen. Ohne deren Betrachtung kann – jedenfalls im Rahmen eines Gesetzes, welches ausschließlich auf Arbeitsverhältnisse in jüdischen Ghettos abstellt - eine Beurteilung der Entgelthöhe nicht erfolgen.

Aus den historischen Erkenntnissen ergibt sich zunächst, dass – jedenfalls im Generalgouvernement - monetäre Vergütung im Vergleich zur Vergütung in Form von Lebensmittelrationen von deutlich geringerem Wert war. Nahrungsmittel waren im Generalgouvernement ein ausgesprochen knappes Gut, so dass die ausreichende Ernährung für die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement die Überlebensfrage darstellte (Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement, Wiesbaden, 1999, S. 159 f.).

Der Gutachter Prof. G. bezeichnet die Lebensmittelrationen in den Ghettos des Generalgouvernements als "Achillesferse" des Ghettolebens. Da alle Grundnahrungsmittel ins Ghetto importiert und bezahlt werden mussten, sei es durchaus lebenserhaltend gewesen, im Bereich des Judenrats beschäftigt gewesen zu sein, der den legalen Import organisierte (Gutachten Prof. G., S. 14). Die Bedeutung von Nahrungsmitteln im Vergleich zu Geldzahlungen erschließt sich auch bei Betrachtung der für die jüdischen Arbeiter vorgesehenen Lohnsätze, die 80 % des Lohnes der polnischen Arbeiter betrugen, wobei bereits die Sätze für die polnischen Arbeiter lediglich etwa 30 % ihrer "minimalen Bedürfnisse" abdeckten (Musial, a.a.O., S. 169 f.).

Der hohe Wert von Nahrungsmitteln im Ghetto ergibt sich auch daraus, dass die Lebensmittelpreise im Ghetto wesentlich höher waren als außerhalb. Für Warschau wird für den Jahresanfang 1942 der Preis für Brot innerhalb des Ghettos mit 80 - 85 Zloty pro Kilogramm angegeben, während außerhalb des Ghettos das Kilo Brot 8 - 12 Zloty kostete (The Black Book of Polish Jewry, Hrsg. Arno Lustiger, Bodenheim 1995, S 47 f. unter Bezug auf Polish Fortnightly Review vom 1.12.1942, veröffentlicht vom Polnischen Informationsministerium in London). Wladyslaw Bartoszewski berichtet, dass die Juden im Warschauer Ghetto konnten nur 750 Gramm Brot wöchentlich, später 70 Gramm täglich, auf Kartenzuteilung bekommen konnten, Heizmaterial im Winter habe völlig gefehlt (Das Warschauer Ghetto – wie es wirklich war, Frankfurt/Main 1983, S. 21, 46).

In Anbetracht von Brotpreisen im Ghetto, die in 10-facher Höhe oberhalb des Preisniveaus außerhalb des Ghettos lagen, sind Lebensmittelrationen, die mit anderen Personen geteilt und gegen andere Dinge getauscht werden konnten, nicht als derart geringfügig anzusehen, dass ihnen der Entgeltcharakter abzusprechen wäre (so aber wohl LSG NRW, Urteil vom 20.2.2006, L 3 R 140/05). Denn wenn – wie dargelegt – sogar die ´ordnungsgemäße` tarifliche Entlohnung der jüdischen Arbeiter in ´freien Arbeitsverhältnissen` nicht zum Überleben ausgereicht hat, sind die Maßstäbe dessen, was als "noch so gering" anzusehen ist, entsprechend anzupassen. Anderenfalls müsste die Entgeltlichkeit einer Beschäftigung nämlich selbst dann verneint werden, wenn der für die jüdischen Arbeiter festgesetzte Satz gezahlt wurde. 2. Ist damit für die Zeiten der Beschäftigung der Klägerin im Ghetto Warschau das ZRBG anwendbar, gelten für sie gem. § 2 Abs. 1 ZRBG Beiträge als gezahlt. Ein über die in § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG genannten Voraussetzungen hinausgehender ´"Bezug zur deutschen Rentenversicherung", deren Erforderlichkeit die Beklagte angedeutet hat, ist nicht erforderlich.

Ebenfalls nicht erforderlich ist, dass die Klägerin – wie dies in der Rechtsprechung zum Teil angenommen wird - zu dem vom Fremdrentengesetz - FRG - (§§ 1, 17a FRG, § 20 WGSVG) erfassten Personenkreis gehört. Dass ein Anspruch nach dem ZRBG keine Zugehörigkeit zum Personenkreis des FRG voraussetzt, war zunächst unumstritten. Entsprechend wurden auch die potentiell Anspruchsberechtigten im Ausland durch die Rentenversicherungsträger, die Botschaften und die Claims Conference informiert (vgl. etwa die Sonderinformation zum ZRBG der Beklagten als Verbindungsstelle, Ausgabe August 2002). Auch die Beklagte und die Deutsche Rentenversicherung Bund halten die Anerkennung von Ghettobeitragszeiten unabhängig davon für möglich, welches Sozialversicherungsrecht in dem betroffenen Gebiet seinerzeit galt, ob die Beschäftigung dort zur Versicherungspflicht geführt hätte und ob die Voraussetzungen für die Anwendung des FRG erfüllt sind (vgl. Dienstanweisung zum ZRBG der deutschen Rentenversicherung Bund vom 4.11.2005, Punkt 2; gemeinsame Arbeitsanweisungen LVA Freie und Hansestadt Hamburg, a.a.O., R 3.2, S. 6).

Das bei der Gesetzgebung federführende ehemalige Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung hat ausdrücklich erklärt, das ZRBG verfolge das Ziel der Anerkennung von Beitragszeiten aufgrund einer Beschäftigung im Ghetto, unabhängig davon, ob der Verfolgte zum Personenkreis des FRG oder des deutschen Sprach- und Kulturkreises gehört (Bericht zur Umsetzung des ZRBG, a.a.O., S. 7). Gegenüber dem Sozialgericht Düsseldorf hat das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung in einem Schreiben vom 26.2.2004 auf dessen Anfrage erklärt;

"Eine Auslegung des ZRBG dahingehend, dass für die Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten die Zugehörigkeit zum Personenkreis des FRG bzw. zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gegeben sein muss, würde den eigentlichen Regelungsabsichten des Gesetzgebers wiedersprechen."

Auch das inzwischen zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat diese Haltung erneut bekräftigt (Schreiben vom 10.3.2006 an Jose´ Moskovits als Antwort auf dessen an die Bundeskanzlerin Dr. Merkel gerichtetes Schreiben vom 16.12.2005).

Allerdings hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 13.1.2006, L 4 RJ 113/04, die Ansicht vertreten, der Kreis der anspruchsberechtigten Verfolgten, der durch die Bestimmungen des SGB VI, des WGSVG (§§ 1, 20 WGSVG) und des FRG (§§ 1, 16, 17a FRG) festgelegt sei, werde durch das ZRBG nicht ausgeweitet. Dem ZRBG sei nicht zu entnehmen, dass die in § 1 ZRBG definierten Beschäftigungszeiten in einem Ghetto Beitragszeiten nach § 55 SGB VI gleichgestellt werden und zur Erfüllung der Wartezeit geeignet sein sollen, unabhängig davon, ob die Verfolgten dem vom FRG, WGSVG oder der RVO erfassten Personenkreis angehören.

Diese Auffassung teilt die Kammer nicht (siehe bereits SG Hamburg Urteil vom 2.5.2006, S 20 RJ 611/04; ebenso SG Hamburg, Urteil vom 9.2.2006, S 9 RJ 896/03; Urteil vom 3.5.2006, S 10 RJ 944/03; offen gelassen wurde die Frage in den Entscheidungen des LSG Hamburg vom 15.12.2005 - L 6 RJ 24/03 - und vom 14.6.2006 - L 1 R 100/05 -).

Der Gesetzgeber hat – wie sich aus dem Klammerzusatz am Ende der Vorschrift ergibt – mit § 2 Abs. 1 ZRBG eine Legaldefinition der ´Ghetto-Beitragszeit` vorgenommen: Gem. § 2 Abs. 1 ZRBG gelten Beiträge für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Getto als gezahlt, und zwar 1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebietes sowie 2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeit).

Die Formulierung ´als gezahlt gelten` findet sich auch in § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, wonach Pflichtbeitragszeiten auch solche Zeiten sind, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Schon die identische Formulierung in beiden Normen lässt eine einschränkende Auslegung des § 2 Abs. 1 ZRBG nur schwerlich zu. Die den Ziffern 1 und 2 vorangestellte Fiktion der Beitragszahlung ist vielmehr als Kernaussage des § 2 Abs. 1 ZRBG anzusehen, während die Ziffern 1 und 2 nur die erforderlichen ergänzenden Regelungen über die Berechnung und die Auslandszahlung der Rente treffen.

Da für Beschäftigungszeiten im Ghetto außerhalb des Bundesgebietes Beiträge nach der Reichsversicherungsordnung als gezahlt gelten, kommt es für die Zahlbarkeit von Renten ins Ausland – anders als vor Inkrafttreten des ZRBG – generell nicht auf die Anwendbarkeit des FRG an. Es ist folglich auch nicht von Bedeutung, ob die Verfolgten dem Personenkreis des § 1 FRG angehören, d.h. Deutsche oder Vertriebene bzw. Spätaussiedler sind. Auf die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreises kommt es deshalb nicht an, weil § 20 WGSVG – ebenso wie § 17a FRG - lediglich die Funktion hat, für diesen Personenkreis die Anwendung des FRG zu ermöglichen.

Dass dies vom Gesetzgeber auch so beabsichtigt war, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, in der es heißt:

"Eine Gleichstellung erfolgt nicht nur für Zeiten, in denen nach früherem Reichsrecht für freiwillig gegen Entgelt aufgenommene Beschäftigungen Beiträge zu zahlen waren. Vielmehr wird für entsprechende Zeiten auch außerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze, also in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten, für die Berechnung von Renten eine Beitragszahlung für eine nach den Reichsversicherungsgesetzen versicherungspflichtige Beschäftigung außerhalb des Bundesgebietes unterstellt. Dies gilt auch für Zeiten in einem Staat, in dem ein System der sozialen Sicherung für den Fall des Alters (noch) nicht errichtet war" (BT-Drs. 14/8583, S. 6).

Wenn demnach eine Ghetto-Beitragszeit auch auf einem vom Deutschen Reich besetzten Staatsgebiet zurückgelegt sein kann, in dem ein System der sozialen Sicherung für den Fall des Alters (vgl. § 15 Abs. 2 FRG) gar nicht bestanden hat, macht der Gesetzgeber damit deutlich, dass es für die Begründung einer Ghetto-Beitragszeit auf die Anwendbarkeit des FRG nicht ankommen sollte.

Auch aus dem Verweis auf das WGSVG in § 1 Abs. 2 ZRBG kann nicht geschlossen werden, dass es auf die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ankommt, wie sich ebenfalls der Gesetzesbegründung entnehmen lässt. Dort heißt es zu § 1 Abs. 2 ZRBG:

"Damit wird festgelegt, dass das WGSVG, dessen Teil III zugunsten von Verfolgten zusätzliche Regelungen zu den allgemein anzuwendenden Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) trifft, anzuwenden ist. Bedeutung hat dies insbesondere für die dort zum Leistungsrecht getroffenen Regelungen über die Anrechnung von Kindererziehungszeiten, Berücksichtigung von Anrechnungszeiten, die besondere Ermittlung von Entgeltpunkten für Beitragszeiten und die Bewertung von Verfolgungsersatzzeiten für pflichtversicherte Verfolgte" (BT-Drs. 14/8583, S. 6).

Hätte der Gesetzgeber die in § 20 WGSVG genannte Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis auch bei der Anwendung des ZRBG für maßgeblich gehalten, hätte er dies in die Aufzählung bedeutender Regelungen aufgenommen. Der Kammer erscheint es ausgeschlossen, dass in der Gesetzesbegründung ausgerechnet diejenige Voraussetzung für die Begründung einer Ghetto-Beitragszeit unerwähnt bleibt, die den weit überwiegenden Teil des vom Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 ZRBG erfassten Personen von Rentenleistungen ausschließen würde.

Im Hinblick auf die frühere Rechtslage wird in der Gesetzesbegründung im übrigen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit dem ZRBG "Neuland" betreten werde, "wobei von bestimmten Grundsätzen sowohl im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten als auch der Erbringung von Leistungen daraus ins Ausland abgewichen wird" (BT-Drs. 14/8583, S. 5). Insoweit gibt die Gesetzesüberschrift, die nur auf die Zahlbarmachung von Renten abstellt, den Inhalt des Gesetzes nicht vollständig wieder.

Hätte der Gesetzgeber die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis als Voraussetzung für die Begründung einer Getto-Beitragszeit festgeschrieben, widerspräche dies im übrigen dem in der Gesetzesbegründung formulierten Ziel, wonach es nicht darauf ankommen soll, in welchem vom Deutschen Reich beherrschten Gebiet die Beitragszeiten zurückgelegt worden sind und in welchem Staat sich der Berechtigte aufhält (BT-Drs. 14/8583, S. 5). Es würde dann nämlich dabei bleiben, dass ein Ghetto-Überlebender, der dem deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht angehört, einen Rentenzahlungsanspruch hätte, wenn sich das Getto in einem eingegliederten Gebiet befand (Begründung der Beitragszeit nach RVO/SGB VI, Auszahlung nach ZRBG), nicht jedoch, wenn das Getto in einem zwar besetzten, aber nicht eingegliederten Gebiet lag.

Dafür, dass das ZRBG nur für solche Personen gelten soll, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehören, ergeben sich schließlich auch aus den zu Protokoll gegebenen Reden zur Gesetzesberatung, die den Wiedergutmachungscharakter des ZRBG in den Vordergrund stellen, keinerlei Anhaltspunkte (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 25.4.2002, 14/233, S. 23279 ff.)

Die Kammer entnimmt den Gesetzesmaterialien und dem Anwendungsbereich des ZRBG, der sich auf Ghettos in vom Deutschen Reich besetzten oder diesem eingegliederten Gebieten beschränkt, dass dem Gesetzgeber daran gelegen war, den in diesen Ghettos beschäftigten Personen - unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk oder dem deutschen Sprach- und Kulturkreis - einen rentenversicherungsrechtlichen Ausgleich zu verschaffen, da sie "in besonderem Maße der hoheitlichen Gewalt des Deutschen Reichs ausgesetzt" waren (BT-Drs. 14/8583, S. 6).

Die Klägerin hat nach alledem Anspruch auf Regelaltersrente, denn es ist auch nicht ersichtlich, dass sie für die Beschäftigungszeit im Ghetto bereits eine Leistung aus einem anderen (ausländischen) System der sozialen Sicherheit erhält, die die Anwendung des ZRBG ausschließen würde (vgl. hierzu BT-Drs. 14/8583, S. 6).

Die allgemeine Wartezeit ist unter Berücksichtigung der anzurechnenden verfolgungsbedingten Ersatzzeiten gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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